Ohne Wiederholen gibt es kein Lernen. Aber wie
oft muss man das noch wiederholen? Ein Ausflug zu einigen Highlights unserer
Kulturgeschichte.
Der Wert des Wiederholens, Journal21.ch, 12.7. von Carl Bossard
Wiederholen ist in
unserer linearen Zeit ein anrüchiges Wort geworden. Auch in der Schule.
Vorwärts heisst die Devise. Doch Lernen und Können leben vom Üben, und Üben
besteht im Wiederholen. Wir brauchen wieder mehr Mut fürs Zyklische.
Der verkörperte
Fluch der Wiederholung
Gustav Schwabs
schönste Sagen des klassischen Altertums faszinieren viele. Mit einer Figur aus
der griechischen Mythologie hatte ich als Jugendlicher ausserordentlich
Bedauern, mit Sisyphos, Sohn des Äolos und Listigstem aller Sterblichen. Er
taucht im grossen Epos der Odyssee auf. Eine ganz alte Gestalt.
Den schweren
Marmorstein auf eine Anhöhe hinaufwälzen, dazu hatten ihn die Götter in der
Unterwelt für seine Überheblichkeit auf Erden verdammt – zum unentwegten Bemühen
und ohne jede Aussicht auf Gelingen. In Homers Odyssee heisst es: "Doch
wenn Sisyphos ihn über den Grat - den riesigen Steinblock - werfen wollte, so
drehte das Übergewicht stets zurück ihn, und von neuem rollte dann talwärts der
schamlose Felsblock. Er aber straffte den Leib und stiess immer wieder zurück
ihn; Schweiss entfloss seinen Gliedern, und über dem Haupte stieg Staub
hoch." (1) Ein Schauer läuft über den Rücken.
Meine Angst – die
Wiederholung!
Stets das Gleiche
tun, wiederholen. Stets von vorne beginnen? Der Arme! Der Unglückliche! Keine
Vorbildfigur. Schon gar nicht für einen jungen Menschen. "Meine Angst –
die Wiederholung!" Max Frischs Wort im "Stiller" verstärkte die
Distanz zu dieser Gestalt. Pubertät und Berufsbildung liessen Sisyphos
gedanklich in weite Ferne rücken! Glücklicherweise. Doch Sisyphos kehrte
in mein Leben zurück. Diesmal nuancierter.
Mit dem
Lehrerwerden und der Lehreraufgabe war er plötzlich wieder da. Zuerst
vielleicht nur im berühmten Buch von Siegfried Bernfeld: „Sisyphos oder die
Grenzen der Erziehung“. Später auch im bekannten Gefühl „Alle Jahre wieder!“,
im Gefühl der Wiederholung, des „Schon wieder!“ Diese "ewige Wiederkunft
des Gleichen", um an Friedrich Nietzsches berühmtes Diktum zu erinnern,
macht Angst. Es ist der Fluch der Wiederholung. Wir alle kennen dieses Gefühl
und damit die Gefahr nur zu gut: Wiederholung kann verschleissen, Wiederholung
kann zur Entleerung und Erstarrung führen, kann zur Routine verkommen.
In Wiederholungen
den Reichtum des Lebens erfahren
Wo der Inhalt
verschwindet, regiert letztlich die Routine. Dann verkommt ein beglückendes
"Alle Jahre wieder" zu einem apathischen "Schon wieder!".
Die Wiederholungen werden zu unserem Problem. Resignation schleicht sich ein.
Doch wir leben aus
Wiederholungen. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Ostern, Weihnachten.
Geburtstage und Jahrestage. Wiederholung ist das Grundmuster eines menschlich
reichen Lebens. Hier liegt die entscheidende Frage: Wie können wir die
Wiederholung brauchen und zugleich der Gefahr ihrer Monotonie entrinnen?
Sinn für
Wiederholungen finden
Das Wiederholen ist
konstitutiv für wirksame Lernprozesse. Ohne fleissiges und kontinuierliches
Üben geht es nicht. Das weiss jede junge Geigerin, das kennt jeder
Junioren-Fussballer. Nur so wird aus dem nerventötenden Gekratze dereinst
virtuose Musik, aus dem ungelenken Gekicke hohe Ballkunst. Repetitio est mater
studiorum, wissen wir seit den Römern. Wiederholung ist die Mutter der Studien.
Doch die Einheit
von Wiederholen und Lernen ist in der heutigen Didaktik nicht mehr
selbstverständlich. Den Zusammenhang zwischen Wiederholen und Können muss man –
sprachlich naheliegend – wieder-holen. Nicht im Sinne des schematisch-platten
Drills, des geistlos-tödlichen hundertmal Abschreibens, sondern des lustvollen
Wiederholens, durch die sich Schülerinnen und Schüler Erfahrungen – zum
Beispiel Gewissheiten, Verbindlichkeiten, Vertrauen – aneignen.
Wirksame
Lernprozesse brauchen die Wiederholung
Max Frisch formulierte
treffend: "Alles wiederholt sich – nichts kehrt uns wieder." Und in
diesem Sinne lässt Peter Handke in seinem Buch "Langsame Heimkehr"
den Geologen Sorger sich selbst auffordern: "Sinn für Wiederholungen
kriegen!" Er erfährt den Wert des anregenden Wiederholens gegen den
strapaziösen Wiederholungszwang mit der ständigen Wiederkehr des Identischen.
Darum, so Sorger, "hier mein anderes Wort für die Wiederholung:
Wiederfindung!"
Wir müssen den Wert
der Wiederholung wieder finden, den Geist des Übens wieder entdecken. Dafür
plädierte auch der grosse Soziologe Georg Simmel in seinen postum publizierten
pädagogischen Reflexionen. Er forderte die Lehrer auf, den "Kern des
Lehrstoffes in immer neuen Metamorphosen, in immer neuen Verbindungen den Schülern
darzustellen." (2) In der Wiederholung auf das Altvertraute neue Inhalte
legen, in der Wiederkehr neue Bilder bringen: Nur so kann man der Eintönigkeit
des Wiederholens entgegenwirken.
Wiederholen als
zyklisches Lernen
Von "Varietas
delectat" sprachen die Römer. Abwechslung macht Freude. Mein Primarlehrer
beherrschte diese Kunst; als kleine Knirpse erlebten wir sie. Noch heute
erinnere ich mich, wie er Langweiliges lebendig werden liess. Die deutsche
Grammatik bekam ein Gesicht – und wir das Gefühl, wir verstünden etwas. X-mal
haben wir Sätze umformuliert, den Akkusativ geübt, nach Synonymen gesucht,
Wichtiges in den Hauptsatz gesetzt, die Einheit der Zeitenfolge überprüft,
Abschnitte nach dem gleichen Subjekt durchforstet, Textübergänge kontrolliert,
Nebensätze mit Kommas abgetrennt. Unbemerkt ergaben sich Automatismen.
So wurde das
Wiederholen zu einem spiraligen Lernen: In eins mit der der Wiederholung
stellte sich der Erkenntnisfortschritt ein; er nahm dem Wiederholen vieles vom
monotonen Charakter und festigte unser sprachliches Können.
Der vergnügte
Sisyphos
Intensive
Übungsstunden mit Schülerinnen und Schüler haben auch mich glücklich gemacht.
Ich konnte sie auf ihrem Lern- und Erkenntnisweg ein Stücklein weiterbringen.
Dies im Wissen: Erkenntnisse brauchen nicht unbedingt die Wiederholung, aber
Wiederholungen sind unverzichtbar, wenn die Erkenntnisse wirksam werden sollen.
In solchen Momenten
erinnerte ich mich an Albert Camus' "Le mythe de Sisyphe". Mit ihm
erlebte ich die unermüdliche, nie an ein Ziel gelangende Lehrerarbeit
vielleicht so: „La lutte elle-même vers les sommets suffit à remplir un cœur
d’homme. Il faut imaginer Sisyphe heureux.“ (3)
Mit dem
französischen Existentialisten und Literatur-Nobelpreisträger Camus stellte ich
mir Sisyphos als glücklichen Menschen vor. Der vergnügte Sisyphos. Der
glückliche Pädagoge.
(1) Homer, Odyssee,
11, 593-600. München: Manesse Verlag 2007, übersetzt von Kurt Steinman.
(2) Georg Simmel,
Schulpädagogik. Vorlesungen, gehalten an der Universität Strassburg.
Osterwieck/Harz: Verlag von A.W. Zickfeldt 1922, S. 45.
(3) Albert Camus,
Le mythe de Sisyphe. Essai sur
l'absurde. Editions Gallimard 1994, S. 168.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen