Sollen Primarschüler für Politiker den Kopf hinhalten? Bild: Keystone
Symbolstreit der Politiker, Tages Anzeiger, 12.7. von Rudolf Strahm
Der Bundesrat richtete letzte Woche ein Ultimatum an die Kantone. Sie
müssen Frühfranzösisch auf der Primarschulstufe einführen, sonst würde sie der
Bund per Gesetz dazu zwingen. Im Vernehmlassungsverfahren präsentiert Bundesrat Alain Berset gleich
drei Varianten, um die säumigen Kantone zur Einführung einer zweiten
Landessprache in der Unterstufe zu zwingen. Ein Referendum gegen das Gesetz
wäre unausweichlich, und es würde ein ganzes Volk zu Experten in
Sprachenpädagogik machen.
Mit diesem Vorgehen hat der Bundesrat die Frage des Frühfranzösisch auf
eine Ebene gehoben, bei der auch wir Bürgerinnen und Bürger zur Meinungsbildung
herausgefordert sind. Was sollen wir pädagogischen Laien von diesem
Sprachenstreit halten? Ich gebe redlicherweise zu, dass ich mir, wie
wahrscheinlich die meisten Bürger, kein Fachurteil über die richtige
Sprachdidaktik und die heftigst umstrittenen Französischlehrmittel bilden kann.
Ich versuche hier drei wichtige Punkte herauszuarbeiten, was uns Staatsbürger
interessieren muss.
Da ist erstens der Stand der Schulkoordination. Im Mai 2006 wurden die
neuen Bildungsartikel in der Bundesverfassung mit 85,6 % Ja-Stimmen-Anteil in
seltener Einmütigkeit angenommen. Das wichtigste Versprechen vor der Abstimmung
war die Koordination des Fremdsprachenunterrichts unter den Kantonen. Mit dem
Bildungsartikel «wird die Mobilität der Bevölkerung weiter erleichtert»,
versprach der Bundesrat im Bundesbüchlein, das stets an alle Haushalte geht.
Schulkoordination ist gescheitert
Doch dieses Versprechen wurde nie eingelöst. Schon vor der Abstimmung
zettelte der damalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der die Schule von
Reform zu Reform jagte, den Sprachenstreit an: Ohne Rücksicht auf die anderen
führte er mit Blick auf den globalisierten Finanzplatz im Kanton Zürich
Frühenglisch ein. Die Ost- und Zentralschweizer Kantone folgten
gezwungenermassen. Der Bund hatte darauf, trotz des neuen Bildungsartikels,
nicht die Kraft und den Willen, eine Koordination des Fremdsprachenunterrichts
zu erzwingen. Diese Unterlassung entgegen allen politischen Versprechen – der
Schreibende war in der nationalrätlichen Bildungskommission (WBK) – ist der Ursprung
des heutigen Debakels.
Um den Wünschen der Romandie und Bundesberns entgegenzukommen, pferchte
man darauf gleich zwei Fremdsprachen in die Unterstufe der Primarschule,
nämlich Frühenglisch und Frühfranzösisch – mit weiterhin kantonal
unterschiedlichen Prioritäten und Lernbeginnstufen. Pädagogische Überlegungen,
Kapazität der Lehrpersonen und Schulen, Bewältigungsfähigkeit durch Schüler
wurden ignoriert. Der sogenannte Fremdsprachenkompromiss der Kantone von 2004
ist bis heute eine rhetorische Vertuschung der Tatsache, dass die
Schulkoordination beim Fremdsprachenunterricht gescheitert ist. Das will auch
der Bundesrat jetzt nicht ändern. Er will bloss Frühfranzösisch in die
Unterstufe zwingen.
Gutachterstreit um Sprachdidaktik
Da kommt nun die zweite, für uns Bürger wichtige Frage: Sind
Frühfranzösisch und Frühenglisch in den ersten Schuljahren mit je bloss zwei
mal 45 Minuten Unterricht in der Unterstufe überhaupt nachhaltig und wirksam –
oder ist das nur Symbolik? Da scheiden sich die Geister. Die Experten liefern
sich Gutachterkriege. Die Linguistin Simone Pfenninger von der Uni Zürich, die
als eine der wenigen die Effizienz des Englischunterrichts ab 8 und ab 13
Jahren empirisch verglichen hat, kam zum Schluss, dass die Spätlernenden die
Frühlerner nach kurzer Zeit einholten. Spätstarter lernen schneller als
Frühbeginner. Nicht der Lernbeginn, sondern die Lernintensität, also die Anzahl
Wochenstunden und die engagierte Sprachdidaktik der Lehrperson, seien für den
Unterrichtserfolg massgeblich.
Die Studienleiterin erhielt sofort öffentliche Schelte vom Basler
Erziehungsdirektor, dem früheren Gewerbedirektor Christoph Eymann. Die
Studienergebnisse passten ihm nicht ins politische Schema. Allerdings gibt es
aus Dänemark auch gegenteilige Untersuchungsergebnisse. Aber insgesamt gibt es
wenige Erfahrungsstudien, die vergleichbar sind.
Lernen Spätstarter schneller?
Der Kanton Thurgau, der nun den Französischunterricht in die Oberstufe
verlegen und dafür intensivieren will, erhält politische Schelte aus der Romandie
und von Bundesbern. Anstelle der zwei kurzen Französischstunden pro Woche in
der Unterstufe will er in Zukunft vier bis fünf Wochenstunden in der Oberstufe
einführen, und zwar verbunden mit Projektunterricht, gehalten von
sprachdidaktisch ausgebildeten Französisch-Fachlehrern und wenn möglich
kombiniert mit einem einwöchigen Austauschaufenthalt in der Westschweiz. Also
ein Art Intensivlernen in der Oberstufe.
Wir Laien können die Effizienz dieser Art von Intensivlernen nicht
abschliessend beurteilen. Aber wäre dies nicht ein Experiment in der Praxis
wert? Lasst doch die Thurgauer einige Jahre dieses Modell praktizieren,
betreibt dabei begleitende Bildungsforschung mit einer Erfolgsanalyse und
vergleicht die Resultate der verschiedenen Fremdsprachenmodelle am Ende der
Schulpflicht!
Da ist noch eine dritte Dimension des Sprachenstreits in Erinnerung zu
rufen: Das Übergewicht des Sprachenunterrichts und der Fremdsprachennoten
spaltet sozial die Gesellschaft. Je sprachenlastiger die Schule und der Zugang
zum Gymnasium gestaltet sind, desto stärker sind Kinder aus bildungsfernen
Schichten benachteiligt und Kinder der Bildungselite, die auch mit
Privatstunden nicht spart, privilegiert. Rund ein Drittel aller Schulkinder in
der deutschen Schweiz haben Eltern mit Migrationshintergrund, viele sind sogar
auf Kriegsfuss mit der deutschen Sprache. Nun sollen bereits in der Unterstufe
noch zwei Fremdsprachen hinzukommen – und dies erst noch verdünnt mit bloss
zwei Wochenlektionen. Die sozialen Konsequenzen wurden nie in Erwägung gezogen.
«Staatspolitische Gründe»
Für mich und die meisten Schweizer ist klar: Am Ende der Schulpflicht
müssen die Deutschschweizer Jugendlichen, je nach Schultyp abgestuft, auch
Französisch und Englisch können. Französisch muss gesetzlich Pflicht bleiben!
Aber alle müssen sich bewusst sein, dass heute die Lingua franca, die
Alltagsweltsprache, Englisch ist. Die frankofone Bildungselite hat Mühe, den
rasanten Bedeutungsverlust des Französischen in der heutigen Welt zu
verkraften. Er hängt mit dem politischen und wirtschaftlichen Abstieg
Frankreichs zusammen. Auf diese globalen Trends haben wir keinen Einfluss.
Im Sprachenstreit um Frühfranzösisch geht es um einen Symbolstreit der
Politiker. Was jetzt im Vordergrund steht, so die Begründung in Bundesbern,
sind «staatspolitische Gründe», es wird der «Zusammenhalt des Landes»
herbeibemüht. Pädagogische, soziale, schulbezogene Gesichtspunkte sind dabei
den Politikern völlig zweitrangig. Angeblich steht die «nationale Kohäsion» auf
dem Spiel. Das ist Symbolpolitik auf Kosten der Kinder!
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12. Juli 2016
Koordination beim Fremdsprachenunterricht gescheitert
Rudolf Strahm, langjähriger SP-Nationalrat und Preisüberwacher, meldet sich in Sachen Fremdsprachen zu Wort. Für ihn sind in der emotional geführten Debatte die schulischen Gesichtspunkte zweirangig.
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