Es ist nun schon über zwanzig Jahre her, seit die
Frage, wie auffälliges Verhalten von Kindern zu erklären und zu behandeln sei,
im Raum steht. Beunruhigende Zahlen zum Anstieg von Diagnosen und
verschriebenen Medikamenten sorgen kurzfristig für Aufsehen, dann bestimmen
andere Tagesaktualitäten die Diskussion. Der folgende Artikel greift die
Fragestellungen wieder auf, in der Hoffnung, die längst fällige
Auseinandersetzung weiterzuführen.
ADHS – eine längst fällige Diskussion zu Ende führen, Zeit-Fragen, 21.6. von Bernadette Fontana
Heute habe ich meine
Pille nicht genommen …
Fabienne sitzt mit ihren Mitschülerinnen beim
Mittagessen in ihrer Schule. Ihr Teller ist bereits zum zweiten Mal leer. «Ich
habe heute Hunger, ich habe nämlich mein Tablettchen nicht genommen.» Das
zierliche, für sein Alter sehr kleine Mädchen steht auf und holt sich
verschmitzt lächelnd eine weitere Portion. – «Er braucht die Medikamente, sonst
würde er unkontrolliert auf die anderen Kinder losgehen. Das kennen wir von
früher», erklärt ein Vater der Lehrerin. – «Mein Sohn war schon immer aktiver
und lebendiger als seine Geschwister. Mir gefällt es, wenn er eine eigene
Meinung hat und sich nicht einfach allem unterordnet, wie wir es mussten»,
meint ein Vater. – «Ich bin froh, wenn wir es einmal ohne Medikamente versuchen
können. Ich habe immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich meinem Kind die Tablette
hinlege», gibt eine andere Mutter zu bedenken, «aber man hat mir gesagt, mein
Kind brauche das, so wie ein zuckerkrankes Kind Insulin brauche.» – «Ich möchte
nicht, dass mein Kind durch Chemie gesteuert wird», sagt ein Vater, als in
einem Gespräch zur Diskussion steht, seinem Sohn mit Medikamenten zu einem
ruhigeren und konzentrierteren Verhalten zu helfen. – «Die Medikamente
absetzen, nein, sicher nicht. Sie sollten meine Tochter einmal zu Hause
erleben, wie sie auf ihre jüngere Schwester losgeht, wenn ich mit ihr
Hausaufgaben mache. Ohne Medikamente wäre das nicht zum Aushalten», meint eine
Mutter entschieden auf die Frage der Lehrerin, ob sie auch schon einmal darüber
nachgedacht habe, mit dem Kinderpsychiater über eine Reduktion der täglichen
Dosis Ritalin zu sprechen; dies auf Grund ihres positiven Verhaltens in der
Schule.
Das sind Äusserungen von Kindern und von Eltern,
bei deren Kind in kinderpsychiatrischen Abklärungen ein ADHS diagnostiziert
wurde (AD(H)S = Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts)-Syndrom). Die Kinder
zeigen mangelnde Aufmerksamkeit, Impulsivität und hyperaktives Verhalten,
wodurch sie grosse Schwierigkeiten zu Hause und in der Schule hatten und haben.
Die Äusserungen spiegeln die unterschiedlichen Auffassungen, wie das auffällige
Verhalten dieser Kinder von ihren Eltern beurteilt werden kann. Sie zeigen aber
vor allem auch deren Sorge, ihrem Kind keinen Schaden zufügen zu wollen und
alles zu tun, damit es seinen Weg ins Leben findet. Alle Beteiligten haben eine
schwierige Zeit hinter sich und viele Versuche, das Problem anzugehen. Bei den
meisten stand im Laufe der schulpsychologischen oder kinderpsychiatrischen
Abklärungen die Frage im Raum, ob ein Medikament mit psychoaktiven Substanzen
hilfreich sein könnte. Viele Kinder und Jugendliche nehmen deshalb Tabletten
mit dem Wirkstoff Methylphenidat (zum Beispiel Ritalin, Concerta, Medikinet,
Equasym). Gemäss Studien sollen es 40 % aller Kinder sein, denen man ein ADHS
zuschreibt.
Die steigende Abgabe dieser Medikamente an Kinder
sorgt seit Jahren immer wieder für Diskussionen und Presseartikel. Im letzten
August berichtete der Beobachter über eine Zunahme der gelieferten Menge von
Methylphenidat an Apotheken in der Schweiz um 810 % im Zeitraum 2000 bis 2014.
Diese von Swissmedic veröffentlichten Zahlen entsprechen 100 000 Tabletten
à 10 mg täglich.2 Immerhin ein Medikament, das auf der
Betäubungsmittelliste steht! Aber es lässt sich damit gut Geld verdienen. Auch
wenn die Umsatzzahlen rückläufig sind (es gibt vermehrt Generika), waren es im
Jahr 2015 immerhin 366 Millionen US-Dollar, die in der Schweiz mit dem
Verkauf von Ritalin umgesetzt wurden.3
Untersuchungen zu
Methylphenidat – gesponserte Studien mit wenig Aussagekraft
Im November 2015 berichteten die Medien über eine
Untersuchung des Cochrane-Institutes zur Medikamentenabgabe an Kinder mit einem
ADHS.4 Die Cochrane Collaboration ist ein weltweites Netz von
Wissenschaftlern und Ärzten, die systematische Übersichtsarbeiten zur Bewertung
von medizinischen Therapien erstellen, aktuell halten und bewerten. Die
wichtigste Vorbedingung, um die Unabhängigkeit der Forschung zu gewährleisten,
ist der Verzicht der Forschergruppe auf industrielle oder pharmazeutische
Förderung.5 Dadurch sollen ihre Arbeiten systematische Fehler
und Bias6 ausschliessen. In der erwähnten Studie widmeten sich
die Forscher der Frage, wie schlüssig bisherige Untersuchungen sind, mit denen
die Wirkung von Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS untersucht
wurde. Dazu nahmen sie 185 Studien unter die Lupe, in denen Teilnehmer
zufällig einer von zwei oder mehreren Test-Gruppen zugeteilt wurden.7 An
den Studien hatten 12 245 Kinder oder Jugendliche mit einer ADHS-Diagnose
teilgenommen. Die meisten Studien verglichen Methylphenidat mit einem Placebo.8 Die
Forscher konstatierten, dass die meisten Studien klein und von niedriger
Qualität waren. Sie hielten fest, dass die Medikamente möglicherweise einige
der Hauptsymptome von ADHS verbessern können. Die bisher evaluierten
Nebenwirkungen (Schlafprobleme und verminderter Appetit) stuften sie als nicht
schwerwiegend ein, und kurzfristig stellten sie auch kein erhöhtes Risiko
schwerer, lebensgefährlicher Nebenwirkungen fest.
Hier ist anzumerken, dass auch Schlafstörungen und
verminderter Appetit zu grossen Problemen im Leben des Kindes und dessen
Familie führen können. Die zahlreichen möglichen weiteren, teilweise sehr
schwerwiegenden Nebenwirkungen sind auf den entsprechenden Packungsbeilagen
aufgeführt.9 Wenn auch nur ein einziges Kind als mögliche
Nebenwirkung einen Suizidversuch macht, einen Herzstillstand erleidet oder
Wahnvorstellungen hat, so ist das eine menschliche Tragödie.
Die Studie hält weiter fest, dass keine genauen
Aussagen gemacht werden konnten, wie stark der Nutzen von Methylphenidat
tatsächlich ist. Ebenso wenig konnte überprüft werden, wie sich die Einnahme
langfristig auf die körperliche und seelische Entwicklung eines Kindes
auswirkt, da die Studien alle über einen kurzen Zeitraum gemacht wurden
(vereinzelt bis maximal 14 Monate). Die Behandlung hatte im Durchschnitt
jedoch nur 75 Tage (zwischen 1 und 425 Tagen) gedauert. Eine
Langzeitwirkung des Medikamentes zu bewerten war nicht möglich, weil Studien
fehlten, welche sich mit Kindern und Jugendlichen befassen, die über einen
langen Zeitraum Methylphenidat nehmen oder genommen haben und allenfalls schon
erwachsen sind. Die Forscher des Cochrane-Netzwerkes forderten deshalb Studien
mit längerer Nachbeobachtungszeit, um dieses Risiko besser einschätzen zu
können. Sie stellten jedoch fest, dass solche Studien schwierig zu machen seien
und mit erheblichen ethischen Bedenken verbunden wären. Ein wichtiges Ergebnis
war die mangelhafte Aussagekraft der untersuchten Studien, die als niedrig
eingestuft wurde. Die Kritik ging dahin, dass es für die Studienbeteiligten
leicht möglich war, herauszufinden, zu welcher der Testgruppen die Kinder
gehörten (mit Methylphenidat oder ohne). Dann war die Berichterstattung der
Ergebnisse in vielen Studien unvollständig, und je nach Studie schwankten auch
die Ergebnisse. Bezüglich der Unabhängigkeit der Forschenden hielt die
Cochrane-Gruppe fest, dass 72 (= 40%) der 185 eingeschlossenen Studien von der
Industrie finanziert waren.
Zurück bleibt ein berechtigtes Unbehagen: von den
produzierenden Firmen gesponserte Studien von niedriger Qualität als Beweis für
den Nutzen von Medikamenten für Kinder.
Unsichere Diagnosen –
ADHS, eine erfundene Krankheit
Es gibt keinen klinischen Test, um ein ADHS festzustellen.
Das im Unterschied zu Krankheiten mit klaren körperlichen Ursachen wie zum
Beispiel Diabetes. Bei solchen Krankheiten kann man die Blutwerte überprüfen
und feststellen, ob jemand davon betroffen ist oder nicht. Ein medizinisches
Messverfahren für die Diagnose eines ADHS ist auch nicht in Sicht. Es wird
anhand von bestimmten Kriterien – oft mit Hilfe spezieller Fragebögen –
beurteilt. Sie werden von Eltern oder auch Lehrpersonen ausgefüllt: Hat ein
Kind Schwierigkeiten, Aufgaben oder Aktivitäten zu organisieren? Zappelt es mit
Händen oder Füssen oder rutscht auf dem Stuhl herum? Widerspricht es
Erwachsenen? Usw.10 In der Fachliteratur werden zwar eine ganze
Reihe von Schritten beschrieben, die bei der Diagnosefindung vollzogen werden
müssen.11 Aber auch wenn das Verfahren genauso
durchgeführt wird – was nicht immer der Fall ist –, so gibt es letztlich keinen
ADHS-Quotienten, keinen Bio-Marker. Alle Werte, Angaben und Beobachtungen
müssen interpretiert werden und sind subjektive Entscheidungen des Untersuchenden.
Diese Subjektivität zeigt sich auch darin, dass zum Beispiel im Tessin weniger
ADHS-Diagnosen gemacht werden und weniger Ritalin verschrieben wird als in der
Deutschschweiz. Diese unterschiedliche Verschreibungpraxis hängt nach Oskar
Jenny, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich,
möglicherweise damit zusammen, dass die Erwartungen an die Kinder je nach
Kulturraum anders seien. Je nachdem werde eine grössere Abweichung von der Norm
toleriert.12
Diagnosen können jedoch schwerwiegende Folgen
haben, wie Monika Fry, leitende Ärztin im Kinder- und Jugendpsychiatrischen
Dienst Graubünden, in einem Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung zu
bedenken gibt: «Eine gestellte Diagnose kann sich wesentlich auf das
Selbstwertgefühl und somit die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder
Jugendlichen auswirken. Kinder haben kaum Möglichkeiten, sich gegen
Interpretationen ihres Verhaltens durch Erwachsene zu wehren, obwohl sie Wesen
mit Eigenaktivität ab dem ersten Atemzug sind.»13 Zu bedenken
muss in erster Linie das persönliche Leid geben, das eine falsche Diagnose nach
sich ziehen wird.
Noch mehr zu denken gibt das Bekenntnis des
«Erfinders» des ADHS: Der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg gestand kurz
vor seinem Tod dem Medizinjournalisten Jürg Blech, dass ADHS ein Paradebeispiel
einer fabrizierten Krankheit sei. Er sei jetzt der Meinung, Kinderpsychiater
müssten viel gründlicher die psychosozialen Gründe ermitteln, die zu diesen
Verhaltensauffälligkeiten führen könnten.14
Wachsame
Volksvertreter – Paradigmenwechsel im Menschenbild
Als nach der Jahrtausendwende vermehrt Kinder zur
Schule gingen, die psychoaktive Substanzen wie Ritalin einnahmen, beunruhigte
das viele wache Bürgerinnen und Bürger. Die stetig zunehmende Zahl von
Diagnosestellungen und die Abgabe von Psychopharmaka an Kinder führte zu
parlamentarischen Vorstössen auf kantonaler und nationaler Ebene. Allein der
Kantonsrat Zürich befasste sich zum Beispiel zwischen 2004 und 2015 mit sieben
Postulaten und einer Interpellation, welche die Abgabe von Ritalin an Kinder
und Jugendliche thematisierten.15 So forderte im Jahr 2006 ein
Postulat im Kantonsrat Zürich die Erhebung der Diagnosestellung und Behandlung
psychischer Störungen in den vergangenen fünf Jahren und ein Monitoring vorerst
für die kommenden drei Jahre. Damit sollte geprüft werden, ob der Anstieg der
verschriebenen Psychopharmaka zu Lasten anderer therapeutischer Mass-nahmen
erfolgt sei und wenn ja, warum. In der Begründung der Anfrage heisst es:
«Die Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie im Kanton
Zürich befindet sich in einem Paradigmenwechsel. Ein biologistisches Menschenbild
löst das humanistische und sozialwissenschaftliche ab16, und mit
diesem verändern sich die Behandlungsweisen von Entwicklungsstörungen,
Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten. Psychische Störungen werden vermehrt
als biochemische Störungen im Hirn verstanden, und die Behandlung erfolgt
zunehmend mit der Gabe von chemischen Substanzen, welche die neurobiologischen
Hirnfunktionen so beeinflussen, dass das unerwünschte Verhalten verschwindet.
Nach psychosozialen Ursachen und Umweltbedingungen, welche das Auftreten
bestimmter Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Störungen begünstigen,
wird immer weniger gefragt.»17
Diese Entwicklung forderten die Aufmerksamkeit der
Politik, verlangten die unterzeichnenden Kantonsrätinnen und wiesen darauf hin,
dass sich zum Beispiel die Abgabe von Ritalin oder analoger Medikamente
zwischen 1996 und 2000 versiebenfacht habe. Der Regierungsrat beantragte in
seiner Antwort, das Postulat nicht zu überweisen. Er begründete das mit der
Entwicklung neuer Behandlungsformen, der Therapiefreiheit der behandelnden
Ärztinnen und Ärzte, der Überprüfung von Medikamenten durch Swissmedic und den
durch ein Monitoring anfallenden Kosten.18 In den folgenden
Jahren gab es weitere Postulate, und auch auf nationaler Ebene wurden verschiedentlich
parlamentarische Vorstösse zum Thema eingereicht.19 Schliesslich
wurde bei der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW eine Studie
in Auftrag gegeben, die sich mit den gestellten Fragen befasste. Die Studie kam
zum Schluss, dass das Medikament sorgfältig verschrieben werde, die Schweiz im
Vergleich mit anderen Industriestaaten gut dastehe und auf Bundesebene die
nötigen Massnahmen getroffen worden seien.20 Damit wurde die
Diskussion zum Thema abgeschlossen.21
«Eingriff in die Freiheit
und die Persönlichkeitsrechte des Kindes»
Im Jahre 2011 hatte sich auch die Nationale
Ethikkommission NEK-CNE mit der Frage befasst. In ihrem Bericht22 zeigte
sie sich besorgt über eine steigende Tendenz von pharmakologischen Eingriffen
bei Kindern. Hier würden die Erwachsenen, wenn auch mit dem Ziel, «das Beste zu
wollen», über das Kind als noch nicht (voll) urteilsfähige Person entscheiden.
Oft gehe es den Eltern darum, dass das Kind im Wettbewerb um Ausbildung und
Arbeitsplatz gut bestehe, indem vor allem seine kog-nitiven, aber auch
emotionalen und sozialen Fähigkeiten verbessert und seine «Stressresistenz»
gesteigert werde. Die NEK-CNE gab aus ethischer Perspektive zu bedenken, dass
die Diagnose beispielsweise eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, eines
oppositionellen Trotzverhaltens oder einer Angststörung eine fachliche
Herausforderung darstelle, weil die Abgrenzung zwischen normalen und
krankhaften kindlichen Verhaltensweisen schwierig zu ziehen sei. Man könne der
Anpassung kindlichen Verhaltens an bestehende Normen und deren soziale
Integration gegenüber positiv eingestellt sein. Die NEK-CNE hatte hier jedoch
Bedenken:
«Darin liegt ein Eingriff in die Freiheit und die
Persönlichkeitsrechte des Kindes. Weil pharmakologische Wirkstoffe zwar Verhaltensveränderungen
verursachen, das Kind aber damit nicht lernt, wie es solche
Verhaltensänderungen selbst erzielen kann, wird dem Kind eine wichtige
Lernerfahrung für eigenverantwortliches Handeln vorenthalten: nämlich sein
Verhalten durch eigene Entscheidungen – und nicht (allein) durch fremde Mittel
– zu beeinflussen und damit Verantwortung übernehmen zu können. […] Der Konsum
pharmakologischer Mittel kann noch weitere Auswirkungen auf den Charakter
haben, weil dem Kind vermittelt wird, dass es nur mit Hilfe solcher Mittel in
sozial anerkannter Weise ‹funktioniert›. Insofern seine Charaktereigenschaften
medikamentös angepasst und von Psychopharmaka abhängig gemacht werden, hat es
Folgen für seine Persönlichkeitsbildung und sein Selbstwertgefühl und könnte
die Ausbildung von Mustern für Suchtverhalten begünstigen. […] Der
Konformitätsdruck, unter dem Kinder von seiten der Eltern und
Bildungseinrichtungen stehen, erzwingt einen Standard an Normalität, der die
Toleranz gegenüber Kindlichkeit abnehmen lässt. Auch könnte sich die Vielfalt
von Temperamenten und Lebensweisen reduzieren und damit letztlich das Recht des
Kindes auf einen offenen Lebensweg gefährdet werden. Die NEK-CNE plädiert
dafür, die Lebensverhältnisse den Interessen und Bedürfnissen der Kinder anzupassen.»
Die NEK-CNE forderte deshalb, die gegenwärtige
Verschreibungspraxis von Psychopharmaka bei Kindern zu überprüfen, die Ursachen
des höheren Verbrauchs zu klären und die Kinder vor übermässigem Gebrauch zu
schützen.23
Zu viele Diagnosen –
zu viele Medikamente
Seit die Schweiz die Uno-Kinderrechtskonvention
(KRK) ratifiziert hat, erfolgt in regelmässigen Abständen eine Einschätzung
durch die Uno, wie die Umsetzung der KRK in der Schweiz durchgeführt wird. Der
Bericht wurde am 4. Februar 2015 publiziert. Aus den über hundert
Empfehlungen wurden diejenigen zur psychischen Gesundheit unserer Kinder und
Jugendlichen als vordringlich zu behandelnde ausgewählt. Die Schweiz wurde
durch den zuständigen Ausschuss der KRK darauf hingewiesen, dass Kinder in der
Schweiz zu häufig die Diagnose Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung ADHS
oder Aufmerksamkeitsstörung ADS erhalten würden, des weiteren sei man besorgt
über den damit verbundenen Anstieg der Verschreibung von Methylphenidaten wie
Ritalin, Concerta und so weiter. Dann war der Ausschuss auch beunruhigt über
Berichte, wonach Kindern mit Schulverweis gedroht würde, deren Eltern der
Behandlung mit psychotropen Substanzen und anderen Psychostimulanzien nicht
zustimmen würden.24
Zusammenfassend heisst es unter dem Titel
Psychische Gesundheit (Punkt 60 und 61):
«Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat:
a Studien zu nicht medikamentösen Diagnose-
und Therapieansätzen bei ADHS und ADS durchzuführen;
b sicherzustellen, dass die
Gesundheitsbehörden den Ursprung der Unaufmerksamkeit im Klassenzimmer
ermitteln und die Diagnostik von psychischen Gesundheitsproblemen bei Kindern
verbessern;
c die Unterstützung für Familien zu
verbessern, einschliesslich des Zugangs zu psychosozialer Beratung und
psychologischer Unterstützung, und sicherzustellen, dass Kinder, Eltern,
Lehrkräfte und andere Berufsgruppen, die mit und für Kinder arbeiten,
angemessene Informationen zu ADHS und ADS erhalten;
d die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um
zu verhindern, dass Druck auf Kinder und Eltern ausgeübt wird, einer Behandlung
mit psychotropen Substanzen zuzustimmen.»25
Die Schweiz hat nun bis 2020 Zeit, um diese
Empfehlungen umzusetzen. Mit dem Monitoring der Umsetzung ist das Netzwerk
Kinderrechte beauftragt. – Der Uno-Bericht löste viel Echo in der Presse aus.
Zwar gab es die üblichen Polemiken gegen den «Überbringer» der Nachricht, in
diesem Fall Pascal Rudin, Soziologe und Repräsentant der Internationalen
Vereinigung der Sozialarbeiter an der Uno. Aber die meisten Presseartikel zeugten
davon, dass die Frage der medikamentösen Beeinflussung des Verhaltens von
Kindern nach wie vor ungelöst ist und vielen wachen Bürgerinnen und Bürgern
Sorge bereitet.
Die entscheidende
Frage – das Menschenbild
Unsere nachfolgende Generation braucht unseren
Schutz und unsere Sorgfalt beim Umgang mit Schwierigkeiten, die sich ihnen in
den Weg stellen. Dazu gehören Kinder mit Symptomen, die unter dem Begriff ADHS
zusammengefasst werden. Was in der kantonsrätlichen Motion vor zehn Jahren
angesprochen wurde – der Paradigmenwechsel vom
humanistisch-sozialwissenschaftlichen zum biologistischen Menschenbild –, ist
seither schweigend übergangen worden. Die Diskussion fokussierte sich stark auf
die neurobiologische Forschung.26 Hier liegt aber der Schlüssel
dafür, wie wir die anstehenden Probleme lösen wollen. Diese Diskussion
erfordert einen offenen und ehrlichen Diskurs. Dabei sind unabhängige und
kompetente Fachleute gefragt, genauso wie die betroffenen Eltern, Erzieher und
Lehrer und wir alle als Bürgerinnen und Bürger, denen die Verantwortung für die
nachwachsende Generation am Herzen liegt. •
1 AD(H)S
(Aufmerksamkeitsdefizit(hyperaktivi-täts)syndrom) ist eine der am häufigsten
diagnostizierten und behandelten psychiatrische Erkrankungen bei Kindern.
Diesen Kindern kann es Mühe machen, gut in der Schule zu sein, weil es ihnen
schwer fällt, Anweisungen zu befolgen und sich zu konzentrieren. Ihre
Verhaltensprobleme beeinträchtigen oft auch ihre Fähigkeit, gut mit der Familie
oder mit Freunden auszukommen. Methylphenidat ist das Medikament, das Kindern
und Jugendlichen mit ADHS am häufigsten verschrieben wird.
2 Ritalin, Irrglaube Hirndoping. In:
Beobachter, 21.8.2015
3 www.novartis.com/sites/www.novartis.com/files/novartis-annual-report-2015-de.pdf,
Zugriff 2.5.2016
4 Storebo, O.J. et al. Methylphenidate for
children und adolescents with attention defizit hyperactivity disorder adhd
(dt.: Nutzen und Schaden von Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen mit
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS). Abzurufen unterwww.theCochranelibrary.com.
5 vgl. www.cochrane.org
6 durch falsche Untersuchungsmethoden und
Voreingenommenheit verursachte Verzerrung von Untersuchungsergebnissen
7 sogenannte randomisierte kontrollierte
Studien, RCTs
8 Ein Placebo enthält einen Stoff, der wie
Methylphenidat aussieht und schmeckt, aber keinen aktiven Wirkstoff enthält.
10 vgl. ADHD/ODD-Eltern- und Lehrerfragebogen. www.pukzh.ch/default/assets/File/3_1_ADHD_ODD.pdf . Abgerufen 2.5.2016)
11 vgl. zu diesem Thema: Baumann,
Thomas und Romedius, Alber. Schulschwierigkeiten: Störungsgerechte Abklärung in
der pädiatrischen Praxis. Bern 2011. ISBN 978-3-456-84871-6
12 vgl. Ellner, Susanna. Im Tessin wird Ritalin
weniger oft verschrieben als in der Deutschschweiz. Kinderarzt Oskar Jenni im
Interview. In: NZZ am 16.1.2013
13 Fry, Monika. Diagnostik wohin. Überlegungen aus
der Kinderpsychiatrie. In: Schweizerische Ärztezeitung. 2014; 95:48, 1824
14 Blech, Jörg. Schwermut ohne Scham. In: Der
Spiegel 6/6.2.12. S.122-131
15 Die im folgenden erwähnten Vorstösse können auf
der Webseite des Kantonsrates abgerufen werden. www.kantonsrat.zh.ch
16 Dieser Wechsel vom humanistischen Menschenbild
hin zu einem in der amerikanischen Psychiatrie seit den 1980er Jahren üblichen
biologistischen Menschenbild hat nachhaltige Folgen. Vergleiche dazu: Allen,
Francis. Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. 2013. ISBN
978-3-8321-9700-1
17 KR-Nr. 202/2006. Postulat Abgabe von
Psychopharmaka in Kinder- und Jugendlichentherapien
18 vgl. Auszug aus dem Protokoll des
Regierungsrates des Kantons Zürich. Sitzung vom 25. Oktober 2006
19 unter anderem Nationalrätliche Motionen 11.3878,
Psychopharmaka, Freysinger, Oskar. 13.3013, Verschreibung von Ritalin,
Kommission für Sicherheit und Soziales. 15.2.2013; 13.3536 Ritalinabgabe von
Siebenthal, Erich. 20.6.2013; abzurufen unter www.parlament.ch.
20 vgl. Medienmitteilung des Bundesrates
vom19.11.2014:.www.admin.ch/gov/de/start/medienmitteilung.msg-id-55280.html,
abgerufen 30.4.2016
21 siehe Protokoll des Zürcher Kantonsrates, 15.
Juni 2015
22 NEK-CNE. Über die Verbesserung des Menschen mit
pharmakologischen Wirkstoffen. Schweizerische Ärztezeitung. 2011; 43
(vollständige Fassung online unter www.saez.ch) Diese Stellungnahme ist in
deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache als Download
unterwww.nek-cne.ch verfügbar.
23 NEK-CNE. a.a.O.
24 vgl. Vereinte Nationen. Ausschuss für die Rechte
des Kindes. Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Schlussbemerkungen zum
zweiten, dritten und vierten Staatenbericht der Schweiz. Februar 2015
25 Schlussbemerkungen zum zweiten, dritten und
vierten Staatenbericht. Februar 2015
26 vgl. Hasler, Felix.
Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung.
2012. ISBN978-3-8376-1580-7
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