Junge Lehrpersonen kannten schon zu Studiumbeginn ihren Einstiegslohn.
Sie erlebten den Beruf im Studium in diversen Praktika. Warum treten sie
trotzdem bald wieder ab?
Der Berner Sekundarlehrer Manuel Zingg tut in
diesen Tagen viele Dinge zum vorerst letzten Mal: Lektionen vorbereiten,
Prüfungen korrigieren, Zeugnisnoten bestimmen. Im Sommer wird er den Lehrberuf
bloss 32-jährig verlassen. «Mir wurde bereits nach der Hälfte des Studiums
klar, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mein Leben als Lehrer zu
verbringen», schaut er zurück. Er habe aber Sicherheit gewollt und Flexibilität
gebraucht – vor allem für Reisen. Der Lehrberuf sei dafür perfekt gewesen mit
den unzähligen Vikariatsmöglichkeiten und befristeten Lehraufträgen. Doch je
länger er den Beruf ausübte,desto klarer wurde ihm: Das ist nichts für mich.
Wie Zingg geht es vielen jungen
Lehrpersonen. Der Bericht über die Mobilität von Lehrpersonen, welchen das
Bundesamt für Statistik (BFS) im März 2014 publizierte, warf ein Schlaglicht
auf das Phänomen: Von den neu diplomierten Lehrern hatten nur vier Jahre nach
Stellenantritt bereits 20 Prozent den Beruf wieder verlassen, hiess es. Die
Studie war erstellt worden, um den Bedarf an Lehrern schweizweit messen zu
können. «In anderen Berufen ist die Fluktuation bei den Jungen ähnlich so
hoch», sagt heute Jacques Babel, Verfasser der Studie beim BFS. Aber wegen dem
latenten Lehrermangel tun Austritte in dieser Branche mehr weh als andernorts.
Die
meisten Gründe, warum die neuen Lehrer wieder künden, sind bekannt, allen voran
die Belastung: «Vom ersten Tag an haben die Lehrpersonen die volle
Verantwortung», sagt beispielsweise Elisabeth Abassi, Präsidentin des
Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (alv). Das hat die 31-jährige
Kindergärtnerin und Heilpädagogin aus Zürich, Katrin Sigg, dazu gebracht ihre
erste Stelle wieder zu kündigen: «Ich lud mir zu viel Verantwortung auf», sagt
sie über ihre erste Stelle nach Abschluss des Studiums. Sie hätte innovativ und
fortschrittlich unterrichten wollen – so wie sie’s eben in der Ausbildung
gelernt hatte. Der Berufseinstieg wurde damit aber sehr intensiv, ihr Anspruch
stellte sich als vermessen heraus. Jetzt will sie herausfinden, wie sie in
einem Job mit weniger Verantwortung funktioniert.
Die
Verantwortung, zwar hoch am ersten Tag, bleibt aber gleich bis zum Tag der
Pensionierung. Die beschränkten Karrieremöglichkeiten sind ein weiterer Grund
für die Austritte. Was das genau heisst, dessen seien sich die Berufseinsteiger
zuerst nicht bewusst, sagt Abassi. Zudem ist der Lehrberuf ein klassischer
Frauenberuf, und Frauen geben ihren Beruf häufiger auf oder arbeiten nur noch
Teilzeit, wenn sie Eltern werden.
Junge sind
experimentierfreudiger
Die
überwiegende Mehrzahl der Lehrpersonen, welche den Beruf verlassen, tut dies
innerhalb der ersten zehn Jahre nach Studiumabschluss. Das ist wenig
überraschend und hat auch nicht speziell mit dem Lehrberuf zu tun: Väter und
Mütter gehen beruflich weniger Risiken ein als kinderlose Singles. Und doch
scheint sich diesbezüglich in den vergangenen Jahren etwas geändert zu haben:
Junge Lehrpersonen sind experimentierfreudiger und selbstbestimmter geworden.
«Man
ergreift heute eher neue Chancen», sagt Daniela Freisler-Mühlemann, Leiterin
des Schwerpunktprogramms «Berufsbiografien und Professionalisierung von
Lehrpersonen» an der Pädagogischen Hochschule Bern, welche gegenwärtig
Berufsbiografien von Lehrpersonen erforscht. Früher sei man grundsätzlich
länger im selben Beruf geblieben. Heute verliefen Berufsbiografien hingegen
nicht mehr nach einem einheitlichen Muster, sondern seien von Veränderungen und
Neuorientierungen geprägt.
«Alles
ist so eng strukturiert und man kommt in einen Trott», nennt Maryam
Darvishbeigi, 31-jährige Primarlehrerin und Heilpädagogin aus Wetzikon im
Zürcher Oberland, die Gründe dafür, dass sie nicht Vollzeit als Lehrerin
arbeitet. «Ein grosses Pensum braucht viel Energie.» So kündigte sie ihre erste
Stelle, reiste, lernte Persisch und machte Musik. Seither hat sie immer wieder
als Stellvertretung und in Teilzeitpensen gearbeitet und möchte das auch in
Zukunft tun. Sie sei eben interessiert an vielen anderen Dingen neben der
Arbeit.
Die Freiheit
als Stellvertreter
Stellvertretungen
machen oder nur Teilzeit arbeiten: Das ist den jungen Lehrern aktuell
problemlos möglich. Eine kürzlich veröffentlichte Analyse des Bundesamtes für
Statistik zeigte, dass die Lehrpersonen von allen Hochschulabgängern am
schnellsten einen Job finden. Von den 2010 an den Pädagogischen Hochschulen
ausgebildeten Lehrkräften waren fünf Jahre nach dem Abschluss nur 0,5 Prozent
arbeitslos. Es scheint, als bilde das Lehrdiplom gerade vor dem Hintergrund des
Lehrermangels ein Sicherheitsnetz für eine freiheitsliebende Generation junger,
anspruchsvoller und realistischer Lehrpersonen. Denn würden Zingg, Sigg und Darvishbeigi
an ihren neuen Herausforderungen scheitern – Zingg wird im Home
Security-Bereich arbeiten, Sigg als Hilfskraft in einem Gasthof, Darvishbeigi
möchte sich im Asylwesen engagieren –, sie alle haben die Gewissheit: Sie
könnten jederzeit zurück ins Klassenzimmer.
Damit
sind sie in bester Gesellschaft: Auch Schriftsteller Peter Bichsel, Kabarettist
Jürg Randegger, Radiomoderator Reeto von Gunten oder der Ex-Fussballer Ludovic
Magnin waren einst Lehrer. Lehrer war schon immer ein guter Start-Beruf, um «etwas
Solides in der Tasche zu haben». Lehrer, so das Argument, brauche es
schliesslich immer. Diese Weisheit gilt auch in einer zunehmend digitalisierten
Arbeitswelt. Einen traditionellen «Aussteigerberuf» hat es Christian Amsler,
Präsident der Deutschschweizer Konferenz der Erziehungsdirektoren, einmal
genannt. Man könnte auch sagen: «Das Diplom zur Freiheit».
Doch
alv-Präsidentin Abassi gibt zu bedenken: «Der Lehrberuf ist bloss ein sicherer
Arbeitsplatz, weil es wegen der hohen Belastung zu wenige machen wollen. Das
heisst, er ist ein unattraktiver Arbeitsplatz.»
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