5. Juni 2016

SOL: Die Leidtragenden sind die Schüler

Selbstorganisiertes Lernen soll Eigenverantwortung fördern. Viele Schüler und Lehrer fühlen sich damit aber überfordert.
Suzanne Weigelt, Jean-Daniel Amuat, Mary Maissen (v.l.) haben in Niederhasli gekündigt, Bild: Joseph Khakshouri
Schlechte Noten für ein Schulprojekt, Sonntagszeitung, 5.6. von Nadja Pastega
Den Mathe-Stoff paukt Kevin* , wenn die Schule längst aus ist. Abends lotst ihn der Vater durch die Welt der Zahlen und Formeln, erklärt die Grundlagen der Mathematik und die Gesetze der Arithmetik. Kevin hat keine Rechenschwäche, in Mathe liegt sein Notenschnitt bei einer Fünf. Dass er zu Hause in der Nachhilfe sitzt, liege an der neuen Unterrichtsmethode in seiner Schule, sagt Kevin: «Ohne meinen Vater hätte ich längst abgehängt.»

Der 16-Jährige besucht die Oberstufe Seehalde in Niederhasli ZH. Eine Schule, die auf radikale Methoden setzt. Der klassische Frontalunterricht und Jahrgangsklassen sind abgeschafft. Die Klasse heisst neu «Homebase», die Lehrer geben als «Coach» nur noch ab und zu kurze Inputlektionen von rund 30 Minuten, den Rest des Stoffes sollen sich die Schüler in altersdurchmischten Grossgruppen mit dem iPad selber beibringen. Lineare Funktionen zum Beispiel oder das Passé composé im Französischen. Wer eine Frage hat, muss beim Lehrer einen Termin abmachen. «Selbstorganisiertes Lernen» heisst das im Jargon der Reformpädagogik. Kürzel: SOL.

«Das Konzept funktioniert einfach nicht», sagt Kevin. «In den SOL-Stunden ist oft keine Lehrperson da, und wenn man eine Frage hat, kann es zwei bis drei Tage dauern, bis man einen Termin bekommt.» Daher kämpfe er sich lieber mit seinem Vater durch den Stoff. «Aber er ärgert sich natürlich, dass die Schule das Unterrichten an die Eltern auslagert.»

Dabei ist die didaktische Grossoffensive gut gemeint. Selbstorganisiertes Lernen, so die Idee der Reformer, soll Schüler motivieren und ihnen Eigenverantwortung beibringen. Doch das Lernkonzept ist umstritten. Eltern und Lehrer fürchten eine Überforderung der Schüler und klagen über grosse Wissenslücken. Als das neue System eingeführt wurde, hat die Oberstufenlehrerin Mary Maissen nach 15 Jahren in Niederhasli gekündigt, gleichzeitig mit neun anderen Lehrern. «Mir tun die Schüler leid, sie werden als Versuchskaninchen benutzt», sagt sie. «In diesem Alter tun sich die meisten Jugendlichen schwer mit selbstorganisiertem Lernen. Da kommen sogar Gymnasiasten an ihre Grenzen.» Auch Lehrer Jean-Daniel Amuat hat in Niederhasli das Handtuch geworfen und an eine andere Schule gewechselt. «Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Schüler etwas lernen. Man kann sie nicht einem iPad überlassen», kritisiert Amuat. «Mit dem selbstorganisierten Lernen delegiert man alles an die Schüler und drückt sich vor der Verantwortung.»

Tatsächlich fehlt bis heute der Nachweis, dass die Schüler mit alternativen Unterrichtsmethoden selbstständiger und besser werden. Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie kommt nach der Auswertung von Hunderten Studien sogar zum Schluss: Entscheidend für das Fortkommen der Schüler sind die Fähigkeiten des Lehrers, während offene Lernkonzepte und altersdurchmischte Klassen keine messbaren Effekte auf den Lernerfolg hätten.

Dennoch wird diese Methode unverdrossen als Konzept der Zukunȑ gefeiert. Niederhasli ist längst nicht die einzige Schule, die darauf setzt. Radikal wurde in den zürcherischen Gemeinden Neȑenbach und Wädenswil auf das selbstorganisierte Lernen umgestellt. Basel zieht jetzt nach: An der Sekundarschule Sandgruben ist der Frontalunterricht abgeschafft, die Jugendlichen bekommen von den Lehrern einmal wöchentlich einen Input, den Rest der Woche arbeiten sie selbstständig. In den Luzerner Gemeinden Egolzwil, Entlebuch und Hohenrain sollen künftig sogar Primarschüler «selbstgesteuert» lernen, wie es auf der Homepage heisst. Und das dürfte erst der Anfang sein.

Schulen wie Niederhasli sollen zur Pionierin werden. Denn der neue Lehrplan 21, der für die Schulen der Deutschschweizer Kantone gelten soll, gibt der Alternativbeschulung weiteren Schub. Die Erziehungsdirektoren haben in einem Grundlagenpapier zum Lehrplan 21 angekündigt, dass das Lernen «verstärkt als selbstgesteuerter Prozess» verstanden werden soll.

Das neue Regelwerk listet nicht mehr auf, welche Inhalte die Lehrer unterrichten sollen, sondern welche «Kompetenzen» die Schüler beherrschen müssen. Für Gregory Turkawka, Gesamtschulleiter in Niederhasli, ist es daher «notwendig», dass das selbstorganisierte Lernen mit dem Lehrplan 21 «ausgebaut» wird: «Individuelle Kompetenzen kann man nur selber erarbeiten und nicht im Frontalunterricht beobachten.»

In Sport und Zeichnen lernt man nicht selbstorganisiert
Seit der Einführung von Turkawkas Schulreform gab es immer wieder Kritik, Eltern haben protestiert, weil ihre Kinder mit dem Schulstoff im Rückstand seien. Sie reichten beim Volksschulamt eine Beschwerde ein, die aber Ende April abgewiesen wurde. Bis zu zehn Lektionen pro Woche müssen die Schüler in Niederhasli das Lernen selber organisieren. «Das entspricht weniger als 30 Prozent der gesamten Lektionenzahl», sagt Turkawka. Es handle sich um eine «Lightversion».

Diese Rechnung sei «irreführend», kontert Suzanne Weigelt, ehemalige Lehrerin in Niederhasli. «In Fächern wie Sport, Haushalt und Zeichnen wird diese Methode nicht angewendet, damit steigt der Anteil des selbstorganisierten Lernens in den Kernfächern Mathe, Deutsch, Französisch und Englisch auf rund 50 Prozent.» Das sei klar zu viel. Hier werde offenbar «ein Pilotversuch für die Umsetzung des Lehrplans 21 durchgeführt, ohne dass man das offen deklariert», sagt Weigelt. «Die Kosten tragen die Schüler.»

Auf sogenannten Kann-Listen müssen die Schüler den Stoff abhaken, den sie gelernt haben und nach eigener Einschätzung beherrschen, es gibt ein Formular zum «Punktekonto für den Lernprozess» und ein Formular für die «Notenplanung». Diese sogenannte formative Lernbegleitung bringt Punkte und ist Teil der Note. Allein mit Administration können es die Schüler auf 30 Punkte bringen. Für 80 Punkte gibt es in der Sek B die Note 6.

Die Folgen der SOL-Euphorie kennt Ʈhomas Baer. Der Nachhilfelehrer aus Niederglatt ZH hat «in zunehmender Zahl Schüler, die nach dieser Methode lernen», sagt Baer. «Wir nennen sie SOL-Opfer. Diese Schüler seien «mit dem Stoff zum Teil massiv im Rückstand». Er stelle «mit Erschrecken» fest, dass sie zwar vom Pythagoras oder Passé composé gehört hätten, das aber nicht anwenden könnten. «Manchmal muss ich wieder bei null anfangen.»


In diesem Sommer sollte auch im Schulhaus Eichi in Niederglatt die Lernmethode an jene von Niederhasli angepasst werden. Es hagelte Proteste von besorgten Eltern. Jetzt wurde das Vorhaben auf unbestimmte Zeit gestoppt. 
* Name von der Redaktion geändert

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