3. Juni 2016

Mehr Migranten als Lehrer?

Mehr Lehrpersonal mit Migrationshintergrund – diese Forderung kommt immer wieder auf. Ist sie angebracht? Es bestehen Zweifel. Zahlen zum Thema gibt es kaum.
Den Handschlag verweigern, das ist etwas Neues. Als zwei syrische Brüder aus Therwil vor einigen Wochen ihrer Lehrerin aus religiösen Motiven die Hand nicht geben wollten, kam es zum Eklat. Die öffentliche Empörung wuchs noch, als die Schulleitung die Verweigerung der beiden Muslime vorerst akzeptierte. Der Fall Therwil ist ein Einzelfall. Doch wirft er die Frage auf, wie verschiedene Kulturen in der Schule unter einen Hut gebracht werden können. Wäre der Fall anders verlaufen, wenn muslimische Lehrer involviert gewesen wären?
Die Kurdin Dilsad Grifone, Lehrerin für die Gymnasialstufe, unterrichtet Flüchtlinge und Migranten, Bild: Goran Basic
Unsere Schule - zu schweizerisch? NZZ, 3.6. von Katrin Schregenberger
Jasmin El Sonbati, Gymnasiallehrerin in Basel und Mitbegründerin des Vereins für einen fortschrittlichen Islam, will dem muslimischen Hintergrund nicht zu viel Gewicht geben: «Es kann sein, dass ich als Muslimin anders reagiert hätte. Das gilt aber nicht für alle Muslime», sagt sie. Generell führe eine Ethnisierung der Lehrerschaft in die falsche Richtung. «Muslimische Lehrer sollen nicht nur für Muslime da sein, sondern für alle Schüler.» Im Fall Therwil ist ihr Appell klar: «pädagogisieren statt religionisieren». Aber auch El Sonbati sieht: «Die Verunsicherung in der Lehrerschaft ist sehr gross. Es fehlen Informationen zum Islam.»

Problematisches Etikett
Sollte es mehr Lehrer und Lehrerinnen geben, die durch ihren Migrationshintergrund als kulturelle Vermittler wirken? Die Forderung jedenfalls ist seit längerem gestellt: Im Jahr 2000 empfahl die Schweizerische Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) die Heterogenität, «das Exotische» in die Schulen zu holen. Die Rektorinnen und Rektoren der Schweizerischen Pädagogischen Hochschulen (damals COHEP) bliesen 2007 ins gleiche Horn. In Deutschland wurde die Forderung noch vehementer placiert: Erst letztes Jahr wünschte sich Bundeskanzlerin Merkel mehr Lehrer mit Migrationshintergrund an den deutschen Schulen. Und auch der Lehrerverband würde es nicht zuletzt wegen des Lehrermangels begrüssen, wenn mehr Migranten diesen Beruf wählten.

Die Forderungen sind also da. Was fehlt, sind die Zahlen. Wie viele Lehrer mit Migrationshintergrund es an den Schweizer Schulen gibt, weiss niemand. Das Bundesamt für Statistik hat nur rudimentäre Daten zur Lehrerschaft: 5,7 Prozent aller Lehrer und Lehrerinnen auf allen Schulstufen haben einen ausländischen Pass. Schweizer Lehrpersonal mit Migrationshintergrund ist nicht erfasst. Im Vergleich: Rund ein Viertel der Lernenden aller Stufen sind Ausländer, 30 Prozent der Schüler sprechen als Muttersprache nicht die Ortssprache.

Die Schule als Ort der gesellschaftlichen Integration soll ein Abbild ebenjener Gesellschaft sein. Darin sind sich Politik und Fachwelt einig. Problematisch ist die explizite Forderung nach mehr Lehrpersonal mit Migrationshintergrund aber trotzdem, wie Bruno Leutwyler, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zug, in einer Studie aufgezeigt hat. Erstens sei die Kategorisierung zu statisch: «Die Forderung suggeriert, dass Lehrer mit Migrationshintergrund eine angeborene, besondere Eigenschaft hätten.»

Dabei umfasse die Kategorie ganz unterschiedliche Migrationserfahrungen. «Wenn ein Lehrer aus Konstanz in Kreuzlingen unterrichtet, heisst das nicht, dass er mit einem syrischen Kind besser umgehen kann.» Zweitens handle es sich hier um eine hochproblematische Etikettierung. «Differenzen werden aufgebaut und die Lehrpersonen dadurch ausgegrenzt.» Die Lehrer würden auf ihren Hintergrund reduziert.

Sporttag und Ramadan?

Drittens führe die Forderung dazu, dass einzelne Personen quasi als Sonderbotschafter für interkulturelle Fragen in die Pflicht genommen würden, anstatt dass die Institution sich in eine interkulturell kompetente Schule entwickle. Interkulturell kompetent sein heisst hier: den Dialog suchen. Und einen kreativen Umgang mit kulturellen Unterschieden zu finden. 

Leutwyler gibt ein Beispiel: «Wenn der Sporttag zur Zeit des Ramadan stattfindet, dann kann man einzelnen Schülern andere Rollen geben und sie zum Beispiel als Schiedsrichter einsetzen.» Diesen Umgang müssten alle Lehrer lernen.

Dass es keinen Migrationshintergrund braucht, um mit Klassen mit hohem Ausländer- und Migrationsanteil zu arbeiten, weiss auch Markus von Siebenthal. Er ist Lehrer an der Sek G in Kreuzlingen. In seinen Klassen haben manchmal 50 Prozent, manchmal aber auch 80 oder 100 Prozent der Schüler und Schülerinnen Migrationshintergrund. «Die Zusammensetzung meiner Klasse merke ich nicht», schickt er voraus. Im Unterricht setzt er auf Regeln – und zwar ohne Sonderrechte. Um die Regeln durchzusetzen, brauche es eine ehrliche Kommunikation – auch mit den Eltern.

Doch könnten gerade hier Lehrer mit Migrationshintergrund nicht helfen? «Das wäre sicher ein Mehrwert», sagt von Siebenthal. Ob eine solche Lehrperson dann mit den Schülern aber besser arbeiten könne, sei nicht klar. «Vielleicht wäre der Lehrer auch viel strenger.» Oder die Lehrperson kommt in einen Identitätskonflikt, wie dies von Siebenthals Vorgänger passiert ist: Dieser habe begonnen, mit Schülern in der Muttersprache zu reden. Dabei sei es aber nicht geblieben. Der Lehrer habe sich mit einigen Schülern verbrüdert, was zu Problemen geführt habe.

Lehrer mit Migrationshintergrund haben durchaus das Potenzial, in den Schulen als Informanten für kulturelle Vermittlung zu wirken (siehe Interview). Obwohl Migranten im Lehrerberuf untervertreten sind, fehlt es in der Schweiz an Bestrebungen, dies zu ändern. Die pädagogischen Hochschulen (PH) werben nicht gezielt Studierende mit Migrationshintergrund an. Man hofft, dass sich das Problem irgendwann von alleine löst.

In der Falle

Andere hinterfragen die Kategorie «Migrationshintergrund» grundsätzlich und postulieren, dass alle Lehrer, unabhängig von ihrem Hintergrund, interkulturell fähig sein sollten. Fest steht: Auch in Bezug auf die Zahlen zu den angehenden Lehrerinnen und Lehrern kann nur spekuliert werden. Nur einzelne PH haben eigene Erhebungen gemacht. So hatte die PH Luzern 2010 13 Prozent Studenten mit Migrationshintergrund, die PH St. Gallen kam ein Jahr später auf 17 Prozent. An der PH Thurgau hatte im Jahr 2015 ein Viertel der Studenten mindestens einen Elternteil, der weder in der Schweiz noch in Deutschland geboren wurde.

Die Rekrutierung ist das eine. Die Karriereaussichten sind das andere. Manche bleiben auf dem Migrationshintergrund sitzen. Dilsad Grifone ist eine davon. Die Kurdin hat studiert und könnte eigentlich am Gymnasium oder an der Berufsschule lehren. Nur hatte sie noch nie die Chance dazu. Stattdessen unterrichtet sie Flüchtlinge und Migranten im 10. Schuljahr, was ihr grundsätzlich gut gefällt, aber fachlich unbefriedigend ist. «Für die Schule ist das gut, für mich ist es eine Sackgasse», sagt sie.

Auch hier ist klar: Dilsad Grifone ist zuerst ein individueller Fall, und Diskriminierung lässt sich nicht beweisen. Dann aber ist er ein Hinweis auf ein existentes, wenn auch nicht quantifizierbares Problem. «Ich möchte nicht immer auf meinen Migrationshintergrund reduziert werden», sagt Grifone. Sie sitzt in der Migrationsfalle. Die Schweizer Schule steckt ihrerseits noch in der Inländerfalle.


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