Gemäss einer Auswertung des Bundesamtes für Statistik sind gerade zwei
von hundert Schweizern zweisprachig. Unser Selbstbild als mehrsprachige Bürger
ist eine Illusion. Was läuft hier falsch?
Selbstbild der Mehrsprachigkeit, NZZ, 3.6. Gastkommentar von Charles Hohmann
Mehrsprachigkeit auf der Primarstufe sei unnötig – wirklich? Langzeitstudien
ergeben, dass Primarschüler zunächst langsamere Fortschritte machen als
Sekundarschüler, ihren Spracherwerb aber dann im Gegensatz zu den Letzteren
beschleunigen.
Zudem haben zwei grossangelegte internationale Vergleichsstudien (Ellie
und ESLC) gezeigt, dass ein früherer Beginn des Fremdsprachenunterrichts zu
besseren Leistungen und höherer Motivation führt. In fünf Ländern Europas
lernen Kinder bis zum Alter von elf Jahren zwei Fremdsprachen, unter anderem
weil dies zu einer grösseren Gewebedichte in jenen Gehirnarealen führt, die für
die Sprachproduktion, das Gedächtnis und die Konzentration bestimmend sind, und
weil dies auch zu einer besseren Kommunikationskompetenz beiträgt.
Zwar entstehen Interferenzen zwischen den Sprachen, denn beim Sprechen
scheint die eine Sprache der anderen im Wege zu stehen, doch diese zwingen das
Gehirn, interne Konflikte zu lösen, und geben ihm ein kognitives «workout», was
später dem Unterricht in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern
zugutekommt.
Zuerst Englisch lernen, weil es leichter sei als Französisch – wirklich?
Englisch lässt sich zwar anfänglich leicht erlernen, die Schwierigkeiten nehmen
aber bei fortschreitendem Erwerb zu. Kein Wunder, dass Romands und
Deutschschweizer sich radebrechend und nur vermeintlich auf Englisch
verständigen. Bei einer Studie, die in 70 Ländern durchgeführt wurde, landen
wir mit unseren Englischkenntnissen nur auf Rang 19.
Wegen der Fremdsprachen komme der Deutschunterricht zu kurz – wirklich?
Wenn heutige Schulabgänger Schwächen in Deutsch haben, so ist das kaum der
Schule anzulasten, sondern dem familiären und soziokulturellen Umfeld. Wenn
Eltern kein Buch in die Hand nehmen, warum sollen das ihre Kinder? Der Erwerb
von Fremdsprachen hat im Gegenteil einen positiven Effekt auf die
Muttersprache.
Primarschüler seien mit zwei Fremdsprachen überfordert – wirklich? Viele
private wie staatliche Schulen bieten mehrsprachigen Unterricht auf der
Primarstufe an und fahren damit gut. In Südtirol zum Beispiel lernen die Erstklässler
an drei Tagen immersiv Ladin, an weiteren drei Tagen Deutsch und an den
folgenden drei Tagen Italienisch. Ziel des mehrsprachigen Unterrichts: In der
dritten Primarklasse sollen die Schüler in allen drei Sprachen ausgeglichen
kompetent sein. Der Kenntnisstand in den drei Sprachen ist dann durchaus
vergleichbar mit dem Niveau in den monolingualen Schulen mit dem Unterschied,
dass die Schüler nicht nur mehrsprachig sind, sondern über ein schärferes
Sprachbewusstsein verfügen und kognitiv gereifter sind.
Warum sollen wir unseren Kindern die Möglichkeiten der kognitiven
Entwicklung beim frühen Fremdspracherwerb vorenthalten? Erst auf der
Sekundarstufe einzusetzen, das ist keine Option. Wenn schon, dann sollten wir
den Fremdsprachunterricht weiter vorverlegen oder aber mindestens
intensivieren. Massnahmen wie ein Lehrer- oder Sprachassistenten-Austausch
zwischen den Sprachregionen oder Sprachaufenthalte in Gastfamilien für ältere
Schüler wären schon ein guter Anfang.
Um die Vorteile des frühen Fremdsprachunterrichts in unseren Schulen zu
nutzen, brauchen wir bessere Unterrichtskonzepte, mehr pädagogische Phantasie,
keine unsinnigen Sparmassnahmen und weniger ideologisierte Polemiken. Die
Schwierigkeiten sind hausgemacht. Mit ihrer Lösung kämen wir unserem Selbstbild
als mehrsprachiges Volk ein Stück näher.
Charles Hohmann ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des
mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz (APEPS).
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