3. Juni 2016

Früher Fremdsprachenunterricht habe positiven Effekt auf Muttersprache

Gemäss einer Auswertung des Bundesamtes für Statistik sind gerade zwei von hundert Schweizern zweisprachig. Unser Selbstbild als mehrsprachige Bürger ist eine Illusion. Was läuft hier falsch?
Selbstbild der Mehrsprachigkeit, NZZ, 3.6. Gastkommentar von Charles Hohmann

Mehrsprachigkeit auf der Primarstufe sei unnötig – wirklich? Langzeitstudien ergeben, dass Primarschüler zunächst langsamere Fortschritte machen als Sekundarschüler, ihren Spracherwerb aber dann im Gegensatz zu den Letzteren beschleunigen.

Zudem haben zwei grossangelegte internationale Vergleichsstudien (Ellie und ESLC) gezeigt, dass ein früherer Beginn des Fremdsprachenunterrichts zu besseren Leistungen und höherer Motivation führt. In fünf Ländern Europas lernen Kinder bis zum Alter von elf Jahren zwei Fremdsprachen, unter anderem weil dies zu einer grösseren Gewebedichte in jenen Gehirnarealen führt, die für die Sprachproduktion, das Gedächtnis und die Konzentration bestimmend sind, und weil dies auch zu einer besseren Kommunikationskompetenz beiträgt.

Zwar entstehen Interferenzen zwischen den Sprachen, denn beim Sprechen scheint die eine Sprache der anderen im Wege zu stehen, doch diese zwingen das Gehirn, interne Konflikte zu lösen, und geben ihm ein kognitives «workout», was später dem Unterricht in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern zugutekommt.

Zuerst Englisch lernen, weil es leichter sei als Französisch – wirklich? Englisch lässt sich zwar anfänglich leicht erlernen, die Schwierigkeiten nehmen aber bei fortschreitendem Erwerb zu. Kein Wunder, dass Romands und Deutschschweizer sich radebrechend und nur vermeintlich auf Englisch verständigen. Bei einer Studie, die in 70 Ländern durchgeführt wurde, landen wir mit unseren Englischkenntnissen nur auf Rang 19.

Wegen der Fremdsprachen komme der Deutschunterricht zu kurz – wirklich? Wenn heutige Schulabgänger Schwächen in Deutsch haben, so ist das kaum der Schule anzulasten, sondern dem familiären und soziokulturellen Umfeld. Wenn Eltern kein Buch in die Hand nehmen, warum sollen das ihre Kinder? Der Erwerb von Fremdsprachen hat im Gegenteil einen positiven Effekt auf die Muttersprache.

Primarschüler seien mit zwei Fremdsprachen überfordert – wirklich? Viele private wie staatliche Schulen bieten mehrsprachigen Unterricht auf der Primarstufe an und fahren damit gut. In Südtirol zum Beispiel lernen die Erstklässler an drei Tagen immersiv Ladin, an weiteren drei Tagen Deutsch und an den folgenden drei Tagen Italienisch. Ziel des mehrsprachigen Unterrichts: In der dritten Primarklasse sollen die Schüler in allen drei Sprachen ausgeglichen kompetent sein. Der Kenntnisstand in den drei Sprachen ist dann durchaus vergleichbar mit dem Niveau in den monolingualen Schulen mit dem Unterschied, dass die Schüler nicht nur mehrsprachig sind, sondern über ein schärferes Sprachbewusstsein verfügen und kognitiv gereifter sind.

Warum sollen wir unseren Kindern die Möglichkeiten der kognitiven Entwicklung beim frühen Fremdspracherwerb vorenthalten? Erst auf der Sekundarstufe einzusetzen, das ist keine Option. Wenn schon, dann sollten wir den Fremdsprachunterricht weiter vorverlegen oder aber mindestens intensivieren. Massnahmen wie ein Lehrer- oder Sprachassistenten-Austausch zwischen den Sprachregionen oder Sprachaufenthalte in Gastfamilien für ältere Schüler wären schon ein guter Anfang.

Um die Vorteile des frühen Fremdsprachunterrichts in unseren Schulen zu nutzen, brauchen wir bessere Unterrichtskonzepte, mehr pädagogische Phantasie, keine unsinnigen Sparmassnahmen und weniger ideologisierte Polemiken. Die Schwierigkeiten sind hausgemacht. Mit ihrer Lösung kämen wir unserem Selbstbild als mehrsprachiges Volk ein Stück näher.

Charles Hohmann ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz (APEPS).


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