Fragt man Hanspeter Amstutz, pensionierter Oberstufenlehrer aus
Fehraltorf, nach seiner ersten Schulreise, antwortet er blitzschnell. «1954
fuhren wir mit dem Bus von Winterthur nach Zinzikon, liefen zum Schloss Hegi
und retour.»
Die Schulreise als helvetische Institution, Bild: Theodor Struebin
Morgens um drei ein Gebet, dann zogen sie los, Tages Anzeiger, 23.6. von Thomas Widmer
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Amstutz kann auch alle folgenden Reisen benennen: In der vierten Klasse
zum Beispiel verliess man erstmals den Kanton. In der sechsten Klasse ging es
aufs Rütli. Schön sei das gewesen.
Später ist Amstutz Lehrer, der Ernst reist nun mit. Etwa auf der
Velotour die Leventina hinab: «Man musste aufpassen, dass die Schüler nicht zu
schnell fuhren. Einer raste in jede Haarnadelkurve und bremste wie verrückt.
Bis der Reifen platzte und er in eine Stützmauer prallte. Gott sei Dank,
passierte nichts.»
Auch heute Freitag dürfte mancher Lehrer, manche Lehrerin erleichtert
sein. Gestern war landesweit und im monumentalen Stil Schulreisetag: Gegen 80
000 Kinder waren unterwegs. Etliche dürften einen Sonnenbrand heimgetragen
haben. Und ganz sicher resultierten wieder einmal bleibende Erinnerungen.
Alle tragen blaue Hemden
Die Schulreise: ein Grundbestandteil helvetischer Identität. Grob
gesagt, keimt sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf, eher in den privaten
Bildungsinstituten. «Dem Reisen wurde mitunter von einer bildungsbewussten und
teilweise wohlhabenden Schicht ein Bildungswert zugewiesen», sagt Norbert Grube
vom Zentrum für Schulgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Bis die Schulreise allen sozialen Klassen möglich ist, dauert es
Jahrzehnte. Wer aber auszieht, tut es oft mehrere Tage. Schlieren, Juli 1833:
Die Oberstufenschüler sammeln sich morgens um drei im Haus von Herrn Cantonsrat
Meyer. Die Reiseleiter stossen dazu samt Pfarrer und Lehrer Sprüngli. Man
betet.
Die 27 Jugendlichen bestaunen sich: «Wir hatten Mühe, uns einander in
den neuen blauen Reisehemden mit Tornister und Alpenstock sogleich zu
erkennen», schreibt der Bauernbub Hans Jakob Frey in einem Aufsatz über die
Reise. Die blauen Hemden zeugen vom Bemühen um soziale Gleichheit.
Militärische Rotten und Märsche
Was die Schlieremer in sechs Reisetagen im Kanton Zürich, in der
Innerschweiz und im Glarnerland erleben, füllt Seiten. Ein paar Dinge fallen
auf. Erstens das Üben von Disziplin: Man unterteilt sich in militärische Rotten
und singt Märsche. Zweitens das Element der Spontaneität. Es gibt noch kein
Telefon. Nicht überall ist vorgekehrt für die Nacht. In Unterschächen am
Klausen ist es nicht einfach, eine Unterkunft zu finden, man muss sich
aufteilen. Die Betten sind «nicht alle sehr einladend».
Drittens: Die Jugendlichen wandern in sechs Tagen 205 Kilometer. Tag
vier mit dem Klausenpass stellt die Königsetappe dar: Man geht 51 Kilometer am
Stück und absolviert 2440 Höhenmeter.Und stets wird besichtigt, was am Weg
liegt; eine solche Reise macht der eine oder andere nur einmal im Leben. Sie
ist ein Spektakel auch für Nichtbeteiligte. In Glarus etwa: «Eine Menge
Gassenjungen folgte neugierig unserem Zuge, und wir wurden ihrer nicht los, bis
wir in den Gasthof zum Raben uns begaben.»
Die Fitness heutiger Jugendlicher im Vergleich? Amstutz sagt: «Die Buben
machen recht viel Sport und sind in der Regel fit. Bei den Mädchen gibt es in
der Pubertät einige, die gar keinen Sport machen und körperlich rasch an ihre
Grenzen stossen.»
Der 24. Juli in Regensdorf
Die Kosten waren im 19. Jahrhundert bisweilen ein Problem. In manchen
Gemeinden leistet die Schule einen
Zustupf. In der «Schweizer Lehrerzeitung» wird 1876 das Problem erörtert, dass
die Hälfte der Schüler nicht an Schulreisen teilnehme. Es geht dabei nicht
immer nur ums Geld. Viele Jugendliche sind zu Hause in die Arbeit eingebunden,
sie können nicht jederzeit weg. 1914 verfügt die Schulpflege Regensdorf:
Schulreisetermin ist der 24. Juli. Dann, zwischen Roggen- und Weizenernte, sind
auch die Bauernkinder abkömmlich.
Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts setzt sich im Kanton Zürich
durch, dass die Schulreise obligatorisch ist. Vor allem im 20. Jahrhundert
spiele dann der Patriotismus bei der Wahl des Ziels eine grosse Rolle, sagt die
Winterthurer Historikerin Verena Rothenbühler. 1939 etwa ist es ein Muss, die
Landi in Zürich zu besuchen. Ein Evergreen ist das Rütli.
Erstklässler auf den Üezgi
Ebenfalls ein prägendes Element über lange Zeit, ja bis heute: die
Ausdehnung des Reisehorizonts im Lauf der Schulzeit. Bildungshistoriker Grube
zitiert eine Stadtzürcher Schulverordnung von 1930, die anregt, dass man zu
Beginn der Primarschule zum Beispiel auf den Albis gehe. Oder auf den
Uetliberg. Und dann kann man sich steigern. Höhere Klassen dürfen Gebirgspässe
machen, ins Berner Oberland ausziehen oder ins Tessin.
Die Stabilität der Institution Schulreise durch die Jahrzehnte falle
auf, sagt Grube. Zum Beispiel punkto Gruppe: Die Schulreise soll das
Sozialverhalten abseits der Klassenräume stimulieren und den persönlichen
Kontakt unter Lehrern und Schülern steigern. Das sei schon vor 150 Jahren so gewesen,
auch wenn man eher von «Gemeinschaft» sprach. Durchgängig auch das Lob der
Schulreise als körperliche Ertüchtigung.
Unbeliebtes Tschumpeln
So wandelt sich die Schulreise und bleibt doch etwa dieselbe. Reines
Wandern sei heute nicht mehr gefragt, sagt Hanspeter Amstutz. «Tschumpeln ist
unbeliebt.» Vor 20 Jahren sei man die Lötschberg-Südrampe hinabgewandert – ein
Fünfstünder. Heute komme das nicht mehr an. «Plakativ gesagt, kippt es mit den
Jahrgängen ab 2000.» Die Handygeneration habe dafür Erlebnishunger. Natur sei
weniger gefragt als Events wie ein Besuch im Europapark Rust.
Amstutz sagt auch: «Etwas hat sich nicht geändert: Jede
Schülergeneration freut sich unbändig auf die Schulreise.»
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