Der Birsfelder Jürg Wiedemann ist sowohl einer der
eifrigsten und engagiertesten als auch einer der umstrittensten Politiker im
Baselbieter Landrat. Durch seine Unterstützung für die Freisinnige Monica
Gschwind bei den Regierungswahlen 2015 provozierte er seinen Ausschluss aus der
Grünen Partei. Der 55-jährige Sekundarlehrer ist als Kopf des Komitees Starke
Schule Baselland massgeblich dafür verantwortlich, dass im Baselbiet breit und
kritisch über die Reformen im Bildungswesen der vergangenen Jahre diskutiert
wird. Wiedemann empfängt die bz zum Gespräch in seinem Haus in Birsfelden, in
dem auch das Büro der Starken Schule, des Zusammenschlusses von Eltern und
Lehrern, untergebracht ist. Bei Wiedemann ist Leben, Arbeiten und politisches
Engagement nicht voneinander trennbar.
Jürg Wiedemann will den Bildungsrat beibehalten, aber er soll nicht mehr im stillen Kämmerlein Entscheide fällen dürfen, Bild: Niz
Jürg Wiedemann gegen Sammelfächer: "Die Unterrichtsqualität würde abnehmen", Basellandschaftliche Zeitung, 23.5. von Hans-Martin Jermann
Jürg Wiedemann, die Bildungspolitik ist im
Baselbiet ein Riesenthema, das oft emotional und ideologisch diskutiert wird.
Weshalb?
Jürg
Wiedemann: Mit Einreichung der Standesinitiative zur Harmonisierung des
Schweizer Bildungssystems (Harmos) war der Kanton Baselland federführend.
Dieses Anliegen habe ich damals unterstützt, mit dem Ziel, Mobilitätsschranken
abzubauen. Familien sollten den Wohnort von A nach B wechseln können, ohne dass
ihre Kinder in der neuen Schule Schwierigkeiten erhalten. Was nun aber unter
dem Deckmantel von Harmos realisiert werden soll, ist etwas ganz anderes: Der
Lehrplan 21 ist unter Ausschluss des Meinungsbildungsprozesses der Schulen im
stillen Kämmerlein ausgearbeitet worden. Federführend war ein Kabinett, die
Erziehungsdirektorenkonferenz, die ohne Auftrag und Legitimation einen Lehrplan
mit einer völlig neuen Ideologie erarbeiten liess und jetzt den Schulen
aufzwingen möchte. Interne kritische Stimmen wurden mundtot gemacht.
Sie und Ihr Komitee Starke Schule sind mitverantwortlich
für die Ideologisierung der Bildungspolitik – auch weil Sie selbst zu
bildungspolitischen Details Volksinitiativen lancieren. Der 5. Juni bildet erst
den Auftakt zu weiteren Initiativen aus dem Haus der Starken Schule.
Das
politische System der direkten Demokratie beinhaltet das Recht, Initiativen zu
lancieren und damit eine Volksabstimmung zu erzwingen. Die Starke Schule hat
von diesem legitimen Recht Gebrauch gemacht und mehrere Initiativen lanciert
und im Landrat politische Vorstösse eingereicht. Wichtig zu betonen ist: Eine
Vielzahl der Anliegen fand im Parlament auch eine Mehrheit. Wären wir nicht
überzeugt, dass wir mit unseren Anliegen Mehrheiten erzielen können, würden wir
kaum so viele Anliegen lancieren. Für eine Initiative auf der Strasse
Unterschriften zu sammeln, ist kein Zuckerschlecken.
Für Laien ist es schwierig, im Begriffs-Dschungel
der Bildungspolitik den Durchblick zu behalten. Was soll bei Harmos falsch
gelaufen sein?
Das
Harmos-Konkordat verlangt eine Angleichung der kantonalen Lehrpläne. Der
Lehrplan 21 geht jedoch deutlich weiter. Er enthält rund 3500 meist abstrakte,
kaum umsetzbare Kompetenzbeschreibungen, die jede Lehrperson anders
interpretieren kann. Massgebend sind nicht mehr Inhalte und Themen, die für
einen reibungslosen Schulwechsel entscheidend wären. Die Schulen driften mit
diesem Lehrplan auseinander. Die Schulkinder werden normiert und
gleichgeschaltet. Das ist ein überholtes Gesamtschulkonzept ohne differenzierte
Leistungsprofile, die den unterschiedlichen Bedürfnissen unserer Jugendlichen
gerecht werden. Die Kinder werden über denselben Kamm geschert. Wir wünschen
uns einen Lehrplan, der für jedes Fach klar definiert, welche Inhalte in jedem
Schuljahr behandelt werden.
Alle Schüler würden im Lehrplan 21 über denselben
Kamm geschert. Wie meinen Sie das?
Zentral
wäre, die spezifischen Stärken der Jugendlichen zu fördern. Es bringt wenig,
von den Sekundarschülern des Leistungsniveaus A dieselbe Herangehensweise an
theoretisches Wissen zu fordern wie von P-Schülern, die später eine akademische
Laufbahn einschlagen möchten. Jugendliche im Profil A verfügen oft über starke
handwerkliche Fähigkeiten. Werken, Bildnerisches Gestalten motivieren viele
mehr als kopflastige Fächer. Diese Stärken gilt es auch im Hinblick auf die
Berufswahl zu fördern. Der Lehrplan 21 macht dies nicht, er wirft alle
Jugendlichen in denselben Topf. Er degradiert zudem die Lehrpersonen zu
Lerncoachs, die kaum mehr einen fundierten Unterricht erteilen, sondern die
Jugendlichen vorwiegend betreuen und kontrollieren. Die Unterrichtsqualität
nimmt unweigerlich ab. Damit kratzen wir ohne Not an unserem bewährten
Bildungssystem, dem die Schweiz den Wohlstand verdankt.
In der Abstimmung vom 5. Juni geht es aber
zumindest vordergründig «nur» um eine Kompetenzverschiebung: Abschliessend über
den Lehrplan 21 soll der Landrat und nicht der Bildungsrat entscheiden.
Weshalb?
Der
14-köpfige Bildungsrat kann heute einen Lehrplan völlig autark und
abschliessend beschliessen – ohne die Meinung von Fachexperten und Pädagogen
berücksichtigen zu müssen. Stimmt das Baselbieter Volk am 5. Juni Ja zur
Bildungsvorlage «Einführung Lehrplan 21», so wird sich der Bildungsrat mit den
Schulen und der landrätlichen Bildungskommission absprechen und einen
ausgewogenen, gesellschaftlich und schulpolitisch mehrheitsfähigen Lehrplan
präsentieren müssen.
Weshalb braucht es denn ein zweites Gremium, das
über diesem Lehrplan brütet? Eines reicht völlig!
Wenn
zusätzlich zum Bildungsrat auch die Bildungskommission des Landrates als Zweitgremium
einen Lehrplan nochmals unter die Lupe nimmt und Schwachstellen eruiert, dann
wird das Endprodukt besser. Die Mehrheit der Mitglieder des Bildungsrates haben
beruflich wenig bis nichts mit Schulbildung zu tun. Sie haben aufgrund der
Komplexität des Lehrplans 21 verständlicherweise Schwierigkeiten, beurteilen zu
können, ob dieser umsetzbar ist oder nicht. Kürzlich zeigte sich dies deutlich
während einer Medienkonferenz des Bildungsrates: Die Fragen der Journalisten
zum Lehrplan 21 konnten die Bildungsräte nur mit grosser Mühe und wenig
fundiert beantworten.
Erst recht wird dann doch das Volk Mühe haben, über
ein derart kompliziertes Konstrukt wie den Lehrplan 21 zu entscheiden. Darüber
kann doch nicht ernsthaft eine öffentliche Diskussion geführt werden. Da stimmt
die Flughöhe nicht. Überlassen wir das den Fachleuten.
Der
Einbezug von Fachleuten, die auf Bildungsfragen spezialisiert sind, ist eminent
wichtig. Genau das ist unsere Forderung. Deshalb sollte das Milizgremium
Bildungsrat nicht abschliessend entscheiden.
Weshalb schafft man da nicht gleich diesen
ausserparlamentarischen Bildungsrat ab? Im Landrat ist jüngst ja ein Vorstoss
aus der FDP überwiesen worden.
Den
Bildungsrat ersatzlos abzuschaffen, fände ich nicht sinnvoll. Die Bildung ist
der wichtigste Rohstoff der Schweizer Wirtschaft. Angesichts der riesigen
Bedeutung ist es sicher nicht verkehrt, wenn sich mit dem Bildungsrat und der
Bildungskommission zwei politische Gremien mit Bildungsfragen beschäftigen.
Allerdings sollten die Aufgaben und Kompetenzen des Bildungsrates überprüft
werden. Regierungsrätin Monica Gschwind will in diese Richtung zielen.
Zur Sammelfächer-Vorlage: Was soll an Sammelfächern
falsch sein?
Sammelfächer
führen dazu, dass angehende Lehrpersonen viel mehr Einzelfächer studieren
müssten, um weiterhin drei Unterrichtsfächer erteilen zu können und das in
kürzerer Ausbildungszeit. Sekundarlehrpersonen würden so zu Allroundern, die
von vielem etwas und von nichts eine fundierte Ahnung haben. Die
Unterrichtsqualität nähme zwangsläufig ab. Nehmen wir das bereits bestehende
Lehrmittel «Urknall» zur Hand, das Lehrmittel für «Natur und Technik», das der
Sammelfächer-Konzeption folgt. In den vier Bänden gibt es wenige wirkliche
Vernetzungen. Die Themen der Physik, Chemie und Biologie wechseln sich schön
der Reihe nach ab. Die Realität sieht so aus, dass weiterhin Einzelfächer
unterrichtet werden. Im heutigen Fach «Biologie mit Chemie» trennen die
Lehrpersonen mehrerer Sekundarschulen diese beiden Fächer in der Regel sogar
nicht nur inhaltlich, sondern auch stundenplanmässig.
Dann spielt es erst recht keine Rolle, ob die
Sammelfächer kommen.
Heute
ist kaum eine Lehrperson befähigt, die Fächerkombination Biologie, Physik,
Chemie zu unterrichten. Oder auch die Kombination Geschichte, Geografie.
Wechseln wir zu Sammelfächern, müssten die Lehrpersonen eine intensive
Weiterbildung absolvieren, um mit der gleichen Qualität und Tiefe unterrichten
zu können. Dies würde Millionen kosten, die der Steuerzahler berappen müsste.
Weil das kaum finanzierbar ist, sind Weiterbildungen im Umfang von zehn Tagen
geplant. Das ist weniger als ein Fünfzigstel einer heutigen regulären
Ausbildung an der Universität. Diese Schnellbleiche macht offensichtlich, dass
die Unterrichtsqualität leiden würde mit schleichenden negativen
Langzeitfolgen: Die Folgekosten im Sozialbereich werden anwachsen, wenn mehr
Jugendliche den Wechsel in die Berufswelt nicht schaffen und zum Sozialfall
werden.
Sinn und Unsinn eines Bildungsrats
AntwortenLöschenMittlerweile sprechen Herr Wiedemann und Frau Regierungsrätin Gschwind Klartext: aus dem eigenständigen, politisch unabhängigen und derzeit unbequemen Bildungsrat soll eine vorberatende Kommission werden, die bei ihrer Arbeit auf die jeweiligen politischen Mehrheiten im Landrat Rücksicht nimmt.
Selbstverständlich kann man eine solche Kommission einsetzen, wenn Herr Wiedemann findet, dass zur politischen Beratung der Baselbieter Bildungsinhalte zwei Kommissionen nötig sind statt nur einer (Bildungs- Kultur- und Sportkommission des Landrat). Mit dem Bildungsrat hat dies aber nichts mehr zu tun.
Der Bildungsrat wurde seinerzeit dazu geschaffen, die Bildungsinhalte unabhängig vom politischen Kräftemessen auf Parlamentsebene zu gestalten. Das Bildungswesen wurde als Hochseefrachter gesehen, dessen Kapitän (der Bildungsrat) seinen Kurs auch bei widrigen Wetterverhältnissen und heftigem Gegenwind zu halten vermag. Man ging davon aus, ein unabhängiger Bildungsrat sei weniger abhängig von politischen Strömungen als die ursprünglich zuständige Bildungsdirektion. Nota: in keinem einzigen Kanton befindet das Parlament über Bildungsinhalte!
Will man nun bewusst die Baselbieter politischen Begehrlichkeiten einfliessen lassen, muss eine politisch zusammengesetzte Kommission gebildet werden. Ein Fachgremium (auch ein „Miliz-Fachgremium“ wie der Bildungsrat) hängt sein Mäntelchen nämlich nicht nach dem Wind. Unzufriedenheit seitens der Parlamentsmehrheit, endlose Rückweisungen zur Überarbeitung sind vorprogrammiert, Leidtragende sind die Schulen resp. unsere Kinder – ausser der Bildungsrat bezieht die Wünsche des Parlaments von Anfang an mit ein. Damit täte der Bildungsrat aber genau das, was durch seine Schaffung verhindert werden sollte: Bildungsinhalte politisch abschmecken.
Wenn Sie wie ich der Meinung sind, die Zukunft des Baselbieter Bildungswesens sollte unabhängig von politischen Momentaufnahmen, dafür aber im Sinne der Bildungsharmonisierung gemeinsam mit Partnerkantonen entwickelt werden, stimmen Sie bitte NEIN zur Kompetenzverlagerung für den Lehrplan 21 vom Bildungsrat an den Landrat. Verzichten wir auf eine teure Baselbieter „Bildungsinsel“!
Simone Abt, Landrätin SP und Bildungsrätin, Binningen