Die
Entscheidung des St. Galler Erziehungsrats, die Noten 1 und 2 abzuschaffen,
stösst bisher auf wenig Gegenliebe. Eine differenzierte Beurteilung
ungenügender Schülerleistungen müsse möglich bleiben, heisst es bei den
Kritikern.
Werden Lernziele nicht erreicht, sollen Schülerleistungen künftig nicht mehr differenziert beurteilt werden. Bild: Benjamin Manser
Ungenügend bleibt ungenügend, St. Galler Tagblatt, 10.5. von Roman Hertler
Ungenügende
Leistungen sollen auf Volksschulstufe nicht mehr differenziert bewertet werden.
So zumindest will es der St. Galler Erziehungsrat. Künftig sollen die Noten 1
und 2 nicht mehr in den Halbjahreszeugnissen erscheinen (Ausgabe von gestern).
Die 3 wäre als einzige «Ungenügende» die Tiefstnote – ein umstrittenes Konzept.
Lernziele sind zentral
Das
Beurteilungskonzept «Fördern und Fordern» wurde vom Amt für Volksschule im
Auftrag des Erziehungsrates ausgearbeitet. Mit der neuen Notensetzung soll die
Gesamtleistung in Bezug auf das Erreichen der Lernziele der Schüler besser
beurteilt werden können, heisst es von Behördenseite. «Die Leistungsbewertung
der Schüler soll nicht bloss den errechneten Durchschnitt der
Prüfungsergebnisse widerspiegeln», sagt Brigitte Wiederkehr, stellvertretende
Leiterin des Amts für Volksschule. «Die Lehrer müssen auch Leistungen und
Lernfortschritte honorieren können, die nicht schriftlich erbracht werden.»
Eine derartige Bewertung entspreche den bereits 2008 erlassenen Richtlinien zur
Schülerbeurteilung, die sich nicht an Einzelleistungen messe.
«Durchschnittswerte und Prüfungsresultate sagen oft mehr über den
Leistungsstand der ganzen Klasse aus als über die einzelnen Schüler», sagt
Wiederkehr. «Somit sind etwas schlechtere Schüler in leistungsstarken Klassen
noch mehr benachteiligt.» Zudem bezweifelt sie, dass die Noten 1 und 2 in der
heutigen Zeit noch ein «adäquates Motivationsmittel für bessere Leistungen»
seien.
Anderer
Ansicht diesbezüglich ist Hansjörg Bauer, Präsident des Kantonalen
Lehrerverbandes. «Meiner Meinung nach können wir am bewährten System
festhalten», sagt er. «Wenn wir die Möglichkeit zur differenzierten Bewertung
im ungenügenden Bereich abschaffen, engen wir den Bewertungsspielraum der
Lehrer unnötig ein.» Weshalb solle ein Schüler, der wisse, dass er ungenügend
abschliessen wird, sich noch Mühe geben, wenn er die Note 3 auf sicher habe,
fragt Bauer.
SVP will Noten im Gesetz
Ebenso
argumentiert Kantonsrat Sandro Wasserfallen, Sekundarlehrer und Präsident der
Fachkommission Bildung der St. Galler SVP: «Natürlich ist es deprimierend, wenn
ein Schüler in einem Fach immer ungenügend ist. Aber Schüler können auch
kalkulieren. Wenn jemand die 3 im Zeugnis auf sicher hat, dann hat er kaum noch
die Motivation, sich wenigstens Mühe zu geben, sich zu verbessern.» Er war
ziemlich überrascht, als er in der Sonntagspresse vom Ansinnen des
Erziehungsrats erfuhr. «Wieso der Bildungsdirektor nun, nachdem er im
vergangenen Herbst noch unsere Motion unterstützt hat, die Noten 1 und 2
abschaffen möchte, ist mir schleierhaft», sagt Wasserfallen auf telefonische
Anfrage.
Die
Rede ist von der SVP-Motion «Schülerbeurteilung durch Noten im Volksschulgesetz
verankern», welche Wasserfallen in der vergangenen Novembersession des
Kantonsrats eingereicht hatte. Damals stellte sich einzig die Regierung hinter
das Ansinnen der SVP, wie die Ostschweiz am Sonntag am 29. November 2015
schrieb. Die anderen Fraktionen befanden, dass die Kompetenz über die Art und
Weise der Schülerbeurteilung weiterhin beim Erziehungsrat liegen solle und
nicht vom Parlament beschlossen werden müsse. Der Verordnungsweg habe bisher
gut funktioniert, so der breite Konsens, und das Notensystem stehe ohnehin
nicht zur Debatte.
Der Bildungsdirektor schweigt
Nun
scheinen sich die Befürchtungen der SVP, die «schleichende Abschaffung des
traditionellen numerischen Benotungssystems», zumindest teilweise zu
bewahrheiten. Stefan Kölliker, SVP-Bildungsdirektor und damit von Amtes wegen
auch Präsident des Erziehungsrats, schweigt zu diesem Thema.
Indes
steht der Fahrplan: Die Konsultation der Fachverbände zum angepassten
Beurteilungskonzept «Fördern und Fordern» dauert noch bis zum 4. Juli. Im
August wird sich der Erziehungsrat dann erneut damit befassen. Im Weiteren plant
die Regierung, die Botschaft zur SVP-Motion dem Kantonsrat in der
Novembersession zu unterbreiten.
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