10. Mai 2016

"Leistungsbewertung beinhaltet mehr als den Notendurchschnitt"

Die Entscheidung des St. Galler Erziehungsrats, die Noten 1 und 2 abzuschaffen, stösst bisher auf wenig Gegenliebe. Eine differenzierte Beurteilung ungenügender Schülerleistungen müsse möglich bleiben, heisst es bei den Kritikern.











Werden Lernziele nicht erreicht, sollen Schülerleistungen künftig nicht mehr differenziert beurteilt werden. Bild: Benjamin Manser
Ungenügend bleibt ungenügend, St. Galler Tagblatt, 10.5. von Roman Hertler

Ungenügende Leistungen sollen auf Volksschulstufe nicht mehr differenziert bewertet werden. So zumindest will es der St. Galler Erziehungsrat. Künftig sollen die Noten 1 und 2 nicht mehr in den Halbjahreszeugnissen erscheinen (Ausgabe von gestern). Die 3 wäre als einzige «Ungenügende» die Tiefstnote – ein umstrittenes Konzept.

Lernziele sind zentral

Das Beurteilungskonzept «Fördern und Fordern» wurde vom Amt für Volksschule im Auftrag des Erziehungsrates ausgearbeitet. Mit der neuen Notensetzung soll die Gesamtleistung in Bezug auf das Erreichen der Lernziele der Schüler besser beurteilt werden können, heisst es von Behördenseite. «Die Leistungsbewertung der Schüler soll nicht bloss den errechneten Durchschnitt der Prüfungsergebnisse widerspiegeln», sagt Brigitte Wiederkehr, stellvertretende Leiterin des Amts für Volksschule. «Die Lehrer müssen auch Leistungen und Lernfortschritte honorieren können, die nicht schriftlich erbracht werden.» Eine derartige Bewertung entspreche den bereits 2008 erlassenen Richtlinien zur Schülerbeurteilung, die sich nicht an Einzelleistungen messe. «Durchschnittswerte und Prüfungsresultate sagen oft mehr über den Leistungsstand der ganzen Klasse aus als über die einzelnen Schüler», sagt Wiederkehr. «Somit sind etwas schlechtere Schüler in leistungsstarken Klassen noch mehr benachteiligt.» Zudem bezweifelt sie, dass die Noten 1 und 2 in der heutigen Zeit noch ein «adäquates Motivationsmittel für bessere Leistungen» seien.

Anderer Ansicht diesbezüglich ist Hansjörg Bauer, Präsident des Kantonalen Lehrerverbandes. «Meiner Meinung nach können wir am bewährten System festhalten», sagt er. «Wenn wir die Möglichkeit zur differenzierten Bewertung im ungenügenden Bereich abschaffen, engen wir den Bewertungsspielraum der Lehrer unnötig ein.» Weshalb solle ein Schüler, der wisse, dass er ungenügend abschliessen wird, sich noch Mühe geben, wenn er die Note 3 auf sicher habe, fragt Bauer.

SVP will Noten im Gesetz

Ebenso argumentiert Kantonsrat Sandro Wasserfallen, Sekundarlehrer und Präsident der Fachkommission Bildung der St. Galler SVP: «Natürlich ist es deprimierend, wenn ein Schüler in einem Fach immer ungenügend ist. Aber Schüler können auch kalkulieren. Wenn jemand die 3 im Zeugnis auf sicher hat, dann hat er kaum noch die Motivation, sich wenigstens Mühe zu geben, sich zu verbessern.» Er war ziemlich überrascht, als er in der Sonntagspresse vom Ansinnen des Erziehungsrats erfuhr. «Wieso der Bildungsdirektor nun, nachdem er im vergangenen Herbst noch unsere Motion unterstützt hat, die Noten 1 und 2 abschaffen möchte, ist mir schleierhaft», sagt Wasserfallen auf telefonische Anfrage.
Die Rede ist von der SVP-Motion «Schülerbeurteilung durch Noten im Volksschulgesetz verankern», welche Wasserfallen in der vergangenen Novembersession des Kantonsrats eingereicht hatte. Damals stellte sich einzig die Regierung hinter das Ansinnen der SVP, wie die Ostschweiz am Sonntag am 29. November 2015 schrieb. Die anderen Fraktionen befanden, dass die Kompetenz über die Art und Weise der Schülerbeurteilung weiterhin beim Erziehungsrat liegen solle und nicht vom Parlament beschlossen werden müsse. Der Verordnungsweg habe bisher gut funktioniert, so der breite Konsens, und das Notensystem stehe ohnehin nicht zur Debatte.

Der Bildungsdirektor schweigt

Nun scheinen sich die Befürchtungen der SVP, die «schleichende Abschaffung des traditionellen numerischen Benotungssystems», zumindest teilweise zu bewahrheiten. Stefan Kölliker, SVP-Bildungsdirektor und damit von Amtes wegen auch Präsident des Erziehungsrats, schweigt zu diesem Thema.

Indes steht der Fahrplan: Die Konsultation der Fachverbände zum angepassten Beurteilungskonzept «Fördern und Fordern» dauert noch bis zum 4. Juli. Im August wird sich der Erziehungsrat dann erneut damit befassen. Im Weiteren plant die Regierung, die Botschaft zur SVP-Motion dem Kantonsrat in der Novembersession zu unterbreiten.


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