26. Mai 2016

Die digitale Bildungsrevolution

Schule ist von alters her Beziehungsarbeit, die je nach Konstellation mal mehr, mal weniger gelingt. Reicht für die Bildung von morgen die Beziehung zu einem Computer? Und wird die Schule dadurch sogar besser?
















Apple a day ..., Bild: Peter Gut
Unser Lehrer Doktor Tablet, NZZ, 26.5. Kommentar von Claudia Wirz


Das Analoge hat gegenüber dem Digitalen bestechende Qualitäten. Einzigartigkeit, Beständigkeit und Privatheit zum Beispiel. Kein digital erzeugter Ton kann die Persönlichkeit atmen wie der Klang eines Cellos von Domenico Montagnana aus dem 18. Jahrhundert. Die blumigste aller Kurznachrichten verfällt so schnell, wie sie durch den Äther reist, während uns die 500 Jahre alten Liebesbriefe Heinrichs VIII. an Anne Boleyn noch heute berühren. Und hätte sich Bernardo Provenzano, lange Zeit der meistgesuchte sizilianische Mafiaboss, nicht stur auf Papier und eine Olivetti Lettera 32 verlassen, hätte er kaum vierzig Jahre lang im Untergrund leben können. 

Schluss mit der Willkür
So schützenswert die Privatheit auch ist, sie hat ihre dunklen Seiten, wie gerade letzteres Beispiel zeigt. Dasselbe gilt für die Einzigartigkeit. Denn Einzigartigkeit bedeutet immer auch Exklusivität, also Ausschluss. Und das passt schlecht in eine Gesellschaft, die die – allerdings völlig utopische – Idee von der vollendeten sozialen Gerechtigkeit zu ihrem Leitstern erklärt und sich daran gewöhnt hat, fast alles zu teilen, pardon: zu «sharen».

Ein guter Lehrer ist wie die privilegierte Herkunft ein Lotteriegewinn.
Wer hätte zum Beispiel nicht gerne einen einzigartig guten Lehrer? Ein guter Lehrer ist Gold wert, da sind sich alle einig. Er kann einem jungen Menschen den entscheidenden Schub für ein erfolgreiches Leben geben. Aber eben – nicht jeder bekommt einen guten Lehrer. Ein guter Lehrer ist wie die privilegierte Herkunft ein Lotteriegewinn. Mit Chancengleichheit hat Fortuna nichts am Hut. Sie ist eine Willkürherrscherin, und das gehört zu den grossen Ungerechtigkeiten des Lebens.

Doch damit ist jetzt Schluss – zumindest in der Schule. Das verheissen die Fürsprecher der angekündigten digitalen Bildungsrevolution. Was die unentgeltliche Volksschule aus ihrer Sicht nicht geschafft hat – nämlich die Demokratisierung der Bildung – werden jetzt Maschine und Software erledigen. Bildung wird dank dem Internet für alle zugänglich, egal ob arm oder reich, egal wo, egal wann. Alles, was es dazu wirklich braucht, sind Strom, WLAN und ein Tablet.

Der Lehrer, der wie weiland Aristoteles mit seinen Schülern im Kreise zusammensitzt und philosophiert, ist passé. Solche Schule, apostrophiert mit Negativbegriffen wie «Frontalunterricht», gilt als antiquiert, unfair, ineffizient, teuer und langweilig. Vor allem aber kann diese Art von Schule die Bildung der Massen nicht meistern. Davon ist zum Beispiel die deutsche Bertelsmann-Stiftung überzeugt, die sich für das Anliegen einer globalen digitalen Bildungsrevolution einsetzt.

Durch die digital verbreitete Schwarmintelligenz der Studenten wird die Autorität des Professors in Echtzeit noch während der Vorlesung unterwandert.

Die Lageanalyse der Stiftung ist glasklar: Zu viele junge Leute wollen heute und in Zukunft ausgebildet werden, zu heterogen sind schon heute die Klassen und die Bedürfnisse der Schüler, zu hoch sind die Kosten für die individuelle Förderung durch spezialisierte Lehrkräfte. Und als wäre das nicht genug, sind auch die Resultate der heutigen Bildungsanstrengungen zu dürftig. Das stellen die Bildungsexperten der Stiftung anhand der Lesefähigkeit bei (amerikanischen) 15-Jährigen fest, die trotz markant wachsendem Mitteleinsatz konstant schwach bleibt. Massentaugliche Bildung, so die Erklärung, muss im analogen System die Lehrpläne auf das Mittelmass münzen. Dort fühlt sich logischerweise nur der Mittelmässige wohl; alle anderen sind entweder himmelhoch überfordert oder zu Tode gelangweilt. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind vielleicht an eine Privatschule. Doch das passt nicht zu der gerechten Wunschwelt.

Schwarmintelligenz
Big Data kann dieses Bildungsdilemma lösen, davon sind die Experten der Bertelsmann-Stiftung überzeugt. Die digitale Revolution sei auch ein Angriff auf die Elite, frohlockt Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung, Buchautor und als Absolvent (PhD) der renommierten Cornell-Universität in New York ein Angehöriger ebendieses Standes. Die Digitalisierung schaffe das bisher Unmögliche und versöhne Masse mit Klasse. Die Zauberformel heisst «maschinengesteuertes Lernen».

Und das geht so: Wissen wird von einer Lernsoftware digital aufbereitet und dem Schüler spielerisch und personalisiert angeboten. Der Schüler arbeitet am Tablet seine Arbeitsblätter ab, teilt online seine Resultate mit anderen und bewertet die Arbeiten seiner Kameraden wie Hotelgäste ihre Zimmer. Die Software überwacht jeden Schritt ihres Schützlings. Sie erkennt seine Fehler und Problemzonen, gibt ihm Lösungstipps, minimiert seine Misserfolge, bietet ihm laufend neue massgeschneiderte Lehrinhalte an und gibt Empfehlungen zur Berufswahl ab. Nachhilfeunterricht wird obsolet. Und was für die Grundschule gilt, wird an der Universität weitergeführt. Durch die digital verbreitete Schwarmintelligenz der Studenten wird die Autorität des Professors in Echtzeit noch während der Vorlesung unterwandert. Der «allwissende», frontal vortragende Dozent ist von gestern.

Wie es euch gefällt
Zurück zur Schule. «Die personalisierten Lernangebote funktionieren wie die Buchempfehlungen bei Amazon oder die Serientipps bei Netflix», meint Dräger. Das digitale Verkaufsmotto «Das könnte Ihnen auch gefallen» soll also auch den Bildungskanon definieren. Die Schule werde so demokratischer, individueller, interessanter, sozialer. Kommt also eine zwar entmenschlichte, aber bessere Schule auf uns zu? Eine digitale Lernfabrik, in der nicht das Mängelwesen Mensch, sondern ein untadeliger Algorithmus pädagogisch amtet? Der Lehrer dürfte zwar noch bleiben, aber seine Rolle ändert sich. Er wird zum Lernbegleiter für den Fall, dass es mit dem Tablet einmal hakt. Einen generellen Wissensvorsprung kann er aber nicht mehr geltend machen. Schliesslich «googele» der Lehrer an denselben Stellen im Internet wie seine Schüler, stellte der Philosoph Richard David Precht einmal fest und meinte, dass Schule im Zeitalter der Google-Brille völlig neu gedacht werden müsse.

Das Tablet ist richtig eingesetzt ein Segen, da es stupendes Auswendiglernen überflüssig machen kann.
Wird dank der digitalen Revolution das humanistische Ideal von einer guten Bildung für alle endlich Realität? Vor zu viel Euphorie sei gewarnt. Auch beim digitalen Lernen bleiben das Frontale und das Autoritäre erhalten, sie erscheinen nur in einer «coolen» Form und werden von einer Maschine diktiert. Es besteht zudem die Gefahr, dass der funktionale Ansatz, der bestens zum kompetenzorientierten Unterricht des Lehrplans 21 und zu Bologna passt, die Bildung der Zweckmässigkeit unterordnet. Für «zweckfreie» Bildung gibt es da kaum mehr Platz.

Genau das will der humanistische Ansatz gerade nicht. Sein Bildungsideal umfasst mehr als Konsum und Wiedergabe von zweckmässigen Wissensbrocken. Bildung ist ein harmonisches Ganzes, das das Emotionale einbezieht, mit dem Ziel, dem Menschen die Ermächtigung zum Selberdenken zu geben. Nur das macht den Wissensträger mündig und unabhängig. Das Tablet ist richtig eingesetzt ein Segen, da es stupendes Auswendiglernen überflüssig machen kann. Den Lehrer und den menschlichen Verstand ersetzen kann es aber nicht. Für die Erziehung zur Selbständigkeit braucht es immer noch den analogen sozialen Verbund.

Chancen der Digitalisierung
Von intelligenten Autos und Industrie 4.0 über die Sharing-Economy zu digitalem Lernen und der Partnersuche: Das Internet und die Digitalisierung verändern die Art, wie wir leben und wirtschaften. Das eröffnet neue Chancen und Möglichkeiten. Die NZZ zeigt zweimal wöchentlich welche. Am nächsten Freitag lesen Sie wie die Digitalisierung das Bildungswesen verändert.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen