Schule ist von alters her Beziehungsarbeit, die je
nach Konstellation mal mehr, mal weniger gelingt. Reicht für die Bildung von
morgen die Beziehung zu einem Computer? Und wird die Schule dadurch sogar
besser?
Apple a day ..., Bild: Peter Gut
Unser Lehrer Doktor Tablet, NZZ, 26.5. Kommentar von Claudia Wirz
Das Analoge hat gegenüber dem Digitalen
bestechende Qualitäten. Einzigartigkeit, Beständigkeit und Privatheit zum
Beispiel. Kein digital erzeugter Ton kann die Persönlichkeit atmen wie der
Klang eines Cellos von Domenico Montagnana aus dem 18. Jahrhundert. Die
blumigste aller Kurznachrichten verfällt so schnell, wie sie durch den Äther
reist, während uns die 500 Jahre alten Liebesbriefe Heinrichs VIII. an Anne
Boleyn noch heute berühren. Und hätte sich Bernardo Provenzano, lange Zeit der
meistgesuchte sizilianische Mafiaboss, nicht stur auf Papier und eine Olivetti
Lettera 32 verlassen, hätte er kaum vierzig Jahre lang im Untergrund leben
können.
Schluss mit der Willkür
So
schützenswert die Privatheit auch ist, sie hat ihre dunklen Seiten, wie gerade
letzteres Beispiel zeigt. Dasselbe gilt für die Einzigartigkeit. Denn
Einzigartigkeit bedeutet immer auch Exklusivität, also Ausschluss. Und das
passt schlecht in eine Gesellschaft, die die – allerdings völlig utopische –
Idee von der vollendeten sozialen Gerechtigkeit zu ihrem Leitstern erklärt und
sich daran gewöhnt hat, fast alles zu teilen, pardon: zu «sharen».
Ein guter Lehrer ist wie die privilegierte Herkunft ein
Lotteriegewinn.
Wer
hätte zum Beispiel nicht gerne einen einzigartig guten Lehrer? Ein guter Lehrer
ist Gold wert, da sind sich alle einig. Er kann einem jungen Menschen den
entscheidenden Schub für ein erfolgreiches Leben geben. Aber eben – nicht jeder
bekommt einen guten Lehrer. Ein guter Lehrer ist wie die privilegierte Herkunft
ein Lotteriegewinn. Mit Chancengleichheit hat Fortuna nichts am Hut. Sie ist
eine Willkürherrscherin, und das gehört zu den grossen Ungerechtigkeiten des
Lebens.
Doch
damit ist jetzt Schluss – zumindest in der Schule. Das verheissen die
Fürsprecher der angekündigten digitalen Bildungsrevolution. Was die
unentgeltliche Volksschule aus ihrer Sicht nicht geschafft hat – nämlich die
Demokratisierung der Bildung – werden jetzt Maschine und Software erledigen.
Bildung wird dank dem Internet für alle zugänglich, egal ob arm oder reich,
egal wo, egal wann. Alles, was es dazu wirklich braucht, sind Strom, WLAN und
ein Tablet.
Der
Lehrer, der wie weiland Aristoteles mit seinen Schülern im Kreise zusammensitzt
und philosophiert, ist passé. Solche Schule, apostrophiert mit Negativbegriffen
wie «Frontalunterricht», gilt als antiquiert, unfair, ineffizient, teuer und
langweilig. Vor allem aber kann diese Art von Schule die Bildung der Massen
nicht meistern. Davon ist zum Beispiel die deutsche Bertelsmann-Stiftung
überzeugt, die sich für das Anliegen einer globalen digitalen
Bildungsrevolution einsetzt.
Durch die digital verbreitete Schwarmintelligenz der Studenten
wird die Autorität des Professors in Echtzeit noch während der Vorlesung
unterwandert.
Die
Lageanalyse der Stiftung ist glasklar: Zu viele junge Leute wollen heute und in
Zukunft ausgebildet werden, zu heterogen sind schon heute die Klassen und die
Bedürfnisse der Schüler, zu hoch sind die Kosten für die individuelle Förderung
durch spezialisierte Lehrkräfte. Und als wäre das nicht genug, sind auch die Resultate
der heutigen Bildungsanstrengungen zu dürftig. Das stellen die Bildungsexperten
der Stiftung anhand der Lesefähigkeit bei (amerikanischen) 15-Jährigen fest,
die trotz markant wachsendem Mitteleinsatz konstant schwach bleibt.
Massentaugliche Bildung, so die Erklärung, muss im analogen System die
Lehrpläne auf das Mittelmass münzen. Dort fühlt sich logischerweise nur der
Mittelmässige wohl; alle anderen sind entweder himmelhoch überfordert oder zu
Tode gelangweilt. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind vielleicht an
eine Privatschule. Doch das passt nicht zu der gerechten Wunschwelt.
Schwarmintelligenz
Big
Data kann dieses Bildungsdilemma lösen, davon sind die Experten der
Bertelsmann-Stiftung überzeugt. Die digitale Revolution sei auch ein Angriff
auf die Elite, frohlockt Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung,
Buchautor und als Absolvent (PhD) der renommierten Cornell-Universität in New
York ein Angehöriger ebendieses Standes. Die Digitalisierung schaffe das bisher
Unmögliche und versöhne Masse mit Klasse. Die Zauberformel heisst
«maschinengesteuertes Lernen».
Und
das geht so: Wissen wird von einer Lernsoftware digital aufbereitet und dem
Schüler spielerisch und personalisiert angeboten. Der Schüler arbeitet am
Tablet seine Arbeitsblätter ab, teilt online seine Resultate mit anderen und
bewertet die Arbeiten seiner Kameraden wie Hotelgäste ihre Zimmer. Die Software
überwacht jeden Schritt ihres Schützlings. Sie erkennt seine Fehler und
Problemzonen, gibt ihm Lösungstipps, minimiert seine Misserfolge, bietet ihm
laufend neue massgeschneiderte Lehrinhalte an und gibt Empfehlungen zur
Berufswahl ab. Nachhilfeunterricht wird obsolet. Und was für die Grundschule
gilt, wird an der Universität weitergeführt. Durch die digital verbreitete
Schwarmintelligenz der Studenten wird die Autorität des Professors in Echtzeit
noch während der Vorlesung unterwandert. Der «allwissende», frontal vortragende
Dozent ist von gestern.
Wie es euch gefällt
Zurück
zur Schule. «Die personalisierten Lernangebote funktionieren wie die
Buchempfehlungen bei Amazon oder die Serientipps bei Netflix», meint Dräger.
Das digitale Verkaufsmotto «Das könnte Ihnen auch gefallen» soll also auch den
Bildungskanon definieren. Die Schule werde so demokratischer, individueller,
interessanter, sozialer. Kommt also eine zwar entmenschlichte, aber bessere
Schule auf uns zu? Eine digitale Lernfabrik, in der nicht das Mängelwesen
Mensch, sondern ein untadeliger Algorithmus pädagogisch amtet? Der Lehrer
dürfte zwar noch bleiben, aber seine Rolle ändert sich. Er wird zum
Lernbegleiter für den Fall, dass es mit dem Tablet einmal hakt. Einen
generellen Wissensvorsprung kann er aber nicht mehr geltend machen.
Schliesslich «googele» der Lehrer an denselben Stellen im Internet wie seine
Schüler, stellte der Philosoph Richard David Precht einmal fest und meinte, dass Schule im
Zeitalter der Google-Brille völlig neu gedacht werden müsse.
Das Tablet ist richtig eingesetzt ein Segen, da es stupendes
Auswendiglernen überflüssig machen kann.
Wird
dank der digitalen Revolution das humanistische Ideal von einer guten Bildung
für alle endlich Realität? Vor zu viel Euphorie sei gewarnt. Auch beim
digitalen Lernen bleiben das Frontale und das Autoritäre erhalten, sie
erscheinen nur in einer «coolen» Form und werden von einer Maschine diktiert.
Es besteht zudem die Gefahr, dass der funktionale Ansatz, der bestens zum
kompetenzorientierten Unterricht des Lehrplans 21 und zu Bologna passt, die
Bildung der Zweckmässigkeit unterordnet. Für «zweckfreie» Bildung gibt es da
kaum mehr Platz.
Genau
das will der humanistische Ansatz gerade nicht. Sein Bildungsideal umfasst mehr
als Konsum und Wiedergabe von zweckmässigen Wissensbrocken. Bildung ist ein
harmonisches Ganzes, das das Emotionale einbezieht, mit dem Ziel, dem Menschen
die Ermächtigung zum Selberdenken zu geben. Nur das macht den Wissensträger mündig
und unabhängig. Das Tablet ist richtig eingesetzt ein Segen, da es stupendes
Auswendiglernen überflüssig machen kann. Den Lehrer und den menschlichen
Verstand ersetzen kann es aber nicht. Für die Erziehung zur Selbständigkeit
braucht es immer noch den analogen sozialen Verbund.
Chancen der Digitalisierung
Von intelligenten Autos und Industrie 4.0 über die
Sharing-Economy zu digitalem Lernen und der Partnersuche: Das Internet und die
Digitalisierung verändern die Art, wie wir leben und wirtschaften. Das eröffnet
neue Chancen und Möglichkeiten. Die NZZ zeigt zweimal wöchentlich welche. Am
nächsten Freitag lesen Sie wie die Digitalisierung das Bildungswesen verändert.
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