«Jetzt eskaliert der Sprachenstreit»:
Mit diesen Worten kritisieren welsche Politiker die Thurgauer Absicht, das
Französisch aus der Primarschule zu verbannen. Der neue Lehrplan des Kantons
sieht vor, die Landessprache erst in der Oberstufe zu unterrichten. Im Herbst
fällt der definitive Entscheid – doch der wird nur Formsache sein: Die
Bildungsdirektion will unabhängig von den Ergebnissen der Vernehmlassung am
Beschluss festhalten.
Schluss mit dem Sprachenstreit, Tages Anzeiger Politblog , 15.4. von Raphaela Birrer
An den
Thurgauer Plänen entzündet sich eine Debatte neu, die seit geraumer Zeit
beidseits des Röstigrabens schwelt. In dramatischen Appellen beschwören
Vertreter der Romandie ein
Ende des nationalen Zusammenhalts herauf. Die arroganten
Deutschschweizer missachteten die sprachlichen Minderheiten, lautet der Tenor.
Der bescheidene Lernerfolg rechtfertige den Französischunterricht auf der
Primarstufe nicht, kontern Bildungspolitiker in immer mehr Deutschschweizer
Kantonen.
Trotz des
zuweilen aggressiven Tons: Der Sprachenstreit ist eine im Kern zutiefst
schweizerische Debatte. Und als solche bereichernd. Denn hier wird um Identität
gerungen, hier werden zentrale Werte der Willensnation ausgehandelt: Was
sichert die Kohäsion eines multilingualen Landes? Wie viel
Kantönligeist verträgt der Föderalismus? Und wie wird der Respekt vor
Minderheiten institutionalisiert? Darum sollte die Diskussion angstfreier
geführt werden; durch die Reibung definieren die verschiedenen Landesteile ihr
Verhältnis. Das stärkt letztlich das Zusammenleben – und verhindert eben gerade
«belgische Verhältnisse», wie sie welsche Politiker befürchten.
Dennoch steht
der Sprachenstreit abseits dieser grossen Themen auch für eine negative
Tendenz. Geht es um die Schule, stehen
sich Ideologien heute unversöhnlich gegenüber. Dabei wird die
Bedeutung einzelner Schulfächer überhöht. Beim Lehrplan 21 kumulieren sich
diese unterschiedlichen Ansprüche. Sexualkunde, Hauswirtschaft, Informatik oder
eben Französisch: Das richtige Mass, die passende Form wird für die
verschiedenen Interessengruppen nie gefunden werden.
Doch statt
diese Auseinandersetzungen im Ring der Argumente zu führen, greifen sie direkt
in die Gesetzgebung ein. Motionen, Initiativen und Referenden auf allen
Staatsebenen sollen die Schule in die gewünschten ideologischen Bahnen lenken.
Das ist auch im Sprachenstreit der Fall: Im Thurgau führte ein Vorstoss aus den
Reihen der SVP zur nun anstehenden Abschaffung des Frühfranzösisch, in
Nidwalden lehnte das Volk das gleiche Begehren der gleichen Partei an der Urne
ab – und jetzt
liebäugelt Bildungsminister Alain Berset mit einer Änderung des
Sprachengesetzes, um dem Streit ein Ende zu setzen. Die Folge
wäre ein gesetzlicher Frühfranzösischzwang. Mit all diesen politischen
Interventionen werden ständig neue Realitäten für die Direktbetroffenen
geschaffen.
Wer den
Vertretern der Praxis zuhört, der weiss: Die Realität in den Schulen ist
komplexer als ideologische Schablonen – auch beim Sprachenstreit. Viele Kinder
sind heute mit den verlangten Kompetenzen überfordert. Und vielen fehlt in
einer von Englisch durchdrungenen Lebenswelt die Motivation, Französisch zu
lernen. Genau hierin liegt der Schlüssel: Weil die Sprache weltweit zwar an
Bedeutung verliert, in der Schweiz aber relevant bleibt, müssen die
Deutschschweizer Schüler ihre Notwendigkeit spüren. Langweilig
getextete Chansons und Wörtlitests reichen dazu nicht. Dass Französischkenntnisse Sinn
machen, erschliesst sich selbst den unmotiviertesten Schülern in der direkten
Begegnung mit Welschen. Daher müssen Austauschprogramme gefördert und
intensiviert werden – je
früher, desto besser. Gesetzlicher Zwang hingegen wird keinem
lustlosen oder überforderten Schüler zu besserem Französisch verhelfen.
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