17. April 2016

Zwang bringt keine besseren Französischkenntnisse

«Jetzt eskaliert der Sprachenstreit»: Mit diesen Worten kritisieren welsche Politiker die Thurgauer Absicht, das Französisch aus der Primarschule zu verbannen. Der neue Lehrplan des Kantons sieht vor, die Landessprache erst in der Oberstufe zu unterrichten. Im Herbst fällt der definitive Entscheid – doch der wird nur Formsache sein: Die Bildungsdirektion will unabhängig von den Ergebnissen der Vernehmlassung am Beschluss festhalten.
Schluss mit dem Sprachenstreit, Tages Anzeiger Politblog , 15.4. von Raphaela Birrer


An den Thurgauer Plänen entzündet sich eine Debatte neu, die seit geraumer Zeit beidseits des Röstigrabens schwelt. In dramatischen Appellen beschwören Vertreter der Romandie ein Ende des nationalen Zusammenhalts herauf. Die arroganten Deutschschweizer missachteten die sprachlichen Minderheiten, lautet der Tenor. Der bescheidene Lernerfolg rechtfertige den Französischunterricht auf der Primarstufe nicht, kontern Bildungspolitiker in immer mehr Deutschschweizer Kantonen.

Trotz des zuweilen aggressiven Tons: Der Sprachenstreit ist eine im Kern zutiefst schweizerische Debatte. Und als solche bereichernd. Denn hier wird um Identität gerungen, hier werden zentrale Werte der Willensnation ausgehandelt: Was sichert die Kohäsion eines multilingualen Landes? Wie viel Kantönligeist verträgt der Föderalismus? Und wie wird der Respekt vor Minderheiten institutionalisiert? Darum sollte die Diskussion angstfreier geführt werden; durch die Reibung definieren die verschiedenen Landesteile ihr Verhältnis. Das stärkt letztlich das Zusammenleben – und verhindert eben gerade «belgische Verhältnisse», wie sie welsche Politiker befürchten.

Dennoch steht der Sprachenstreit abseits dieser grossen Themen auch für eine negative Tendenz. Geht es um die Schule, stehen sich Ideologien heute unversöhnlich gegenüber. Dabei wird die Bedeutung einzelner Schulfächer überhöht. Beim Lehrplan 21 kumulieren sich diese unterschiedlichen Ansprüche. Sexualkunde, Hauswirtschaft, Informatik oder eben Französisch: Das richtige Mass, die passende Form wird für die verschiedenen Interessengruppen nie gefunden werden.

Doch statt diese Auseinandersetzungen im Ring der Argumente zu führen, greifen sie direkt in die Gesetzgebung ein. Motionen, Initiativen und Referenden auf allen Staatsebenen sollen die Schule in die gewünschten ideologischen Bahnen lenken. Das ist auch im Sprachenstreit der Fall: Im Thurgau führte ein Vorstoss aus den Reihen der SVP zur nun anstehenden Abschaffung des Frühfranzösisch, in Nidwalden lehnte das Volk das gleiche Begehren der gleichen Partei an der Urne ab – und jetzt liebäugelt Bildungsminister Alain Berset mit einer Änderung des Sprachengesetzes, um dem Streit ein Ende zu setzen. Die Folge wäre ein gesetzlicher Frühfranzösischzwang. Mit all diesen politischen Interventionen werden ständig neue Realitäten für die Direktbetroffenen geschaffen.

Wer den Vertretern der Praxis zuhört, der weiss: Die Realität in den Schulen ist komplexer als ideologische Schablonen – auch beim Sprachenstreit. Viele Kinder sind heute mit den verlangten Kompetenzen überfordert. Und vielen fehlt in einer von Englisch durchdrungenen Lebenswelt die Motivation, Französisch zu lernen. Genau hierin liegt der Schlüssel: Weil die Sprache weltweit zwar an Bedeutung verliert, in der Schweiz aber relevant bleibt, müssen die Deutschschweizer Schüler ihre Notwendigkeit spüren. Langweilig getextete Chansons und Wörtlitests reichen dazu nicht. Dass Französischkenntnisse Sinn machen, erschliesst sich selbst den unmotiviertesten Schülern in der direkten Begegnung mit Welschen. Daher müssen Austauschprogramme gefördert und intensiviert werden – je früher, desto besser. Gesetzlicher Zwang hingegen wird keinem lustlosen oder überforderten Schüler zu besserem Französisch verhelfen.


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