17. April 2016

Taktgebung sehr wichtig

Für Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten ist eine Taktgebung von aussen sehr wichtig, sagen zwei Fachärzte.













Die Stützung des Selbstwertgefühls ist zentral, Bild: iStock
"Es herrscht eine Unorganisiertheit im Tun", Basler Zeitung, 13.4. von Denise Dollinger


BaZ: Herr Weber, es gibt zwei Typen ­ von Kindern mit Aufmerksamkeits­störungen. Welche sind das?
Peter Weber: Wir unterscheiden zwischen Kindern und Jugendlichen, die motorisch hyper­aktiv sind, sogenannte Zappel­philippe, und jenen ohne Hyperaktivität, die mehr einem «Hans Guck in die Luft» entsprechen. Erstere werden, etwa im Schulunterricht, als «Störenfriede» und als anstrengend wahrgenommen. Zweitere fallen in der Regel erst nach einer gewissen Zeit auf, da sie nicht zur Last fallen und im Alltag, durch ihre ­Verträumtheit, eher untergehen.
Was sind die Gemeinsamkeiten?
Bei beiden ist es so, dass eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit und eine grosse Ablenkbarkeit vorherrscht. Im Tun dieser Kinder und Jugendlichen herrscht eine Unorganisiertheit.
Können Sie dazu ein Beispiel geben?
Bei diesen Kindern und Jugendlichen ist eine «Taktgebung» von aussen immens wichtig. Durch ihre Ablenkbarkeit können sogar routinierte Aufgaben, wie etwa das Pyjama anziehen, zu einer grossen Sache werden. Liegt dann beispielsweise ein Spielzeug in der Nähe, fangen sie an, sich mit diesem zu beschäftigen, und vergessen total, was der eigentliche Auftrag war. Sie verlieren sich im Spiel.
Und im Schulunterricht?
Dort fallen diese Kinder auf, weil sie viele Flüchtigkeitsfehler machen, ihr Handeln nicht kontrollieren und die Signale des Lehrers nicht wahrnehmen. Ein «Stopp!» beispielsweise überhören sie meist. Oder aber sie sitzen tagträumend am Tisch und nehmen ihre Umwelt und ihr Umfeld überhaupt nicht wahr. Hinzu kommt bei beiden Formen eine sehr ausgeprägte Vergesslichkeit.
Herr Möller, was ist der Unterschied zwischen einer «normalen» Konzentrationsschwäche und einer krankhaften?
Ramon Möller: ­­­Ei- ne «normale» Konzentrationsschwäche zeichnet sich da­durch aus, dass sie isoliert – ohne weitere Beschwerden – und mitunter vorübergehend, krisenhaft oder situativ auftritt. Es gilt dann sowohl die körperlichen als auch die psychischen Hintergründe auszuleuchten. Krankhaft ist die Vergesellschaftung mit weiteren Beschwerden, wie der Impulsivität, Hyperaktivität, der verminderten Frustrationstoleranz, und der beeinträchtigten Impuls- und Affektkontrolle. Als krankhaft ist die Konzentrationsschwäche auch dann zu beurteilen, wenn sie sich über mehr als sechs Monate chronifiziert und zu Sekundärschäden führt.
Ist das der Zeitpunkt, an dem eine Fachperson hinzugezogen wird?
P. W.: Ja. In der Mehrheit der Fälle sprechen die Lehrpersonen die Eltern drauf an, weil sie bemerken, dass das Kind die Entwicklungsaufgabe nicht mehr erfüllen kann. Interessanterweise passiert dies oftmals in der Zeit des Übergangs von der zweiten in die dritte Primarklasse. Die zuvor schon angedeuteten Schwächen können mit den höheren Anforderungen ausgeprägter und somit relevant werden.
Welche Abklärungen werden beim Kinderarzt dann gemacht?
R. M.: Es braucht eine gründliche Erfassung der Vorgeschichte und des Verlaufs und zudem eine sorgfältige Untersuchung der körperlichen und psychischen Befindlichkeit und Funktionen. Ein wichtiger Indikator ist der subjektive Leidensdruck des Betroffenen, der Familie und der weiteren beteiligten begleitenden Personen. Eine Abklärung drängt sich dann auf, wenn die beeinträchtige Entwicklung zu sekundärem Leiden, wie beispielsweise zu einer Beeinträchtigung des Selbstwerterlebens oder zu einer Depressivität führt.
Wie kann man ein Kind mit einer Aufmerksamkeitsstörung unterstützen?
R. M.: Auf vielfältige Weise: Zunächst ist die Stützung des Selbstwert­gefühls zentral, um eine Abwärts­spirale der weiteren Entwicklung zu verhindern. Abklärung und Behandlung erfolgen von Vorteil ressourcenorientiert. Denn auf der Basis der vorhandenen Stärken lassen sich viele Probleme bewältigen und Umgehungsstrategien entwickeln. Auf der pädagogischen Ebene ist es für die Betroffenen sehr hilfreich, wenn der Tagesablauf geregelt und berechenbar ist, wenn ein Regelwerk im Elternhaus und in der Schule besteht, an dem sich das Kind orientieren und auf das es sich verlassen kann.
Was, wenn all diese Massnahmen nicht zu der erhofften Beruhigung führen?
P. W.: Bewirken diese Anpassungen keine Veränderung oder ist der zeitliche Druck sehr gross, dann kommt neben einer verhaltenstherapeutischen Intervention eine medikamentöse Behandlung infrage.
Wie schnell sieht man, ob ein Medikament anschlägt?
P. W.: Das Medikament wird über vier Wochen schrittweise bis zur Zieldosis erhöht. Danach sollte ein klarer Effekt erkennbar sein und eine Beruhigung in die Situation einkehren. Es gibt einzelne Fälle, bei denen man einen Substanzenwechsel oder eine Dosis­anpassung vornehmen muss, weil die Wirkung entweder ausbleibt oder zu schwach ist.
Gibt es eine Alternative zu der medikamentösen Behandlung?
P. W.: Ja, die gibt es. Die Symptom­reduktion durch eine Verhaltens­therapie. Eine Studie aus Amerika hat belegt, dass es rund 24 bis 36 Monate dauert, bis diese Form vollends greift und die Veränderung verinnerlicht ist. Im Vergleich zu der medikamentösen Therapie, ist die Verhaltenstherapie nachhaltiger, aber auch viel aufwendiger.
Kann sich eine Aufmerksamkeits­-störung auswachsen?
P. W.: Man schätzt heute, aufgrund langer Verlaufsstudien, dass sich eine Aufmerksamkeitsstörung bei einem Drittel der Betroffenen auswächst. Ein weiteres Drittel behält die Konzentrationsschwäche auf der Symp­tom­ebene, weist aber keinen Krankheitswert auf. Beim letzten Drittel hat die Konzentrationsschwäche Sozialisationskonsequenzen. Dies unabhängig davon, ob medikamentös behandelt worden ist oder nicht.
Was bedeutet das?
P. W.: «Sozialisationskonsequenzen» bedeutet, dass diese Kinder und Ju- gendlichen beispielsweise Mühe ha- ben, ihren Schulabschluss zu machen. Auch der Abschluss der Berufsaus­bildung fällt ihnen meist schwerer als anderen Gleichaltrigen. Im Erwachsenenalter kann es sein, dass der betroffene Mensch immer wieder in ähnliche Situationen hineinschlittert und Schwierigkeiten hat, sich in einem «Standardumfeld» einzuordnen.
Haben sie Tipps für Erziehungberechtigte, wie sie mit einem Kind, das an einer Aufmerksamkeitsstörung leidet, umgehen sollen?
R. M.: Wie erwähnt, scheint mir die Stützung des Selbstwerterlebens zentral. Eine weitere wichtige Aufgabe, die den Eltern zufällt, ist die übersichtliche, klare und verläss­liche Organisation der Tagesstruktur. Unerlässlich ist auch das Grenzensetzen und das Einfordern der Konsequenzen bei Regelverstössen. Auch wenn das an Aufmerksamkeits­störungen betroffene Kind nicht per se für sein Verhalten verantwortlich gemacht werden kann, fühlt es sich in einer geordneten Umgebung wohl, geborgen und ernst ge­­nommen.
Das heisst, sogenannte Leitplanken unterstützen das betroffene Kind auf positive Weise?
R. M.: Ja. Das Kind wird den Eltern dankbar sein, wenn sie ihm bei der Selbstorganisation helfen und es dadurch seine Ressourcen für seine Entwicklung und die Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen einsetzen kann. Dazu gehören auch Abmachungen bezüglich des Konsums elektronischer Medien.
Wie wichtig ist das Zusammenspiel ­zwischen den Eltern und der Schule?
R. M.: Für die betroffenen Kinder ist es vorteilhaft, wenn die Eltern einen engen Kontakt mit den Lehrkräften pflegen und ein regelmässiger, guter Austausch besteht.
Was gibt es in Bezug auf die Freizeitaktivitäten zu beachten?
R. M.: Die Beziehung zum Kind wird entscheidend dadurch gestärkt, dass ein Teil der Freizeit aktiv mit ihm zusammen gestaltet und positiv besetzt wird. Dies besonders mit viel Bewegung an der frischen Luft. Und ganz wichtig: Eltern müssen nicht perfekt sein und brauchen auch etwas Zeit für sich.
Peter Weber ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter der Abteilung Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital beider Basel.
Ramon Möller ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit einer eigenen Praxis in Pratteln.



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