18 Kantone haben
beschlossen, Lehrpläne einzuführen, die auf dem Lehrplan 21 basieren. Einzelne
Kantone debattieren noch über eine solche Einführung. Ein Hauptstreitpunkt
zwischen Befürwortern und Gegnern betrifft den Begriff «Kompetenz». Warum muss
man darüber so heftig streiten?
Schwammiger Begriff heizt Streit um Dokument an, bz Basel, 20.4. von Hans Fahrländer
Während in Basel bereits nach dem Deutschschweizer
Lehrplan 21 unterrichtet wird, bereiten sich etliche Kantone auf eine hitzige
Schlacht um ebendiesen Lehrplan vor.
Am Sonntag befindet an der
Landsgemeinde in Appenzell zum ersten Mal ein kantonaler Souverän via eine
Einzelinitiative über die Einführung.
Am 5. Juni findet im
Baselbiet die Volksabstimmung über eine «lehrplanfeindliche» Initiative statt,
in den Kantonen Aargau und Zürich folgen sie in den Jahren 2017 oder 2018.
Im Kanton Solothurn rechnet
man in rund einem Monat mit der Einreichung eines Volksbegehrens.
Ein Hauptstreitpunkt
zwischen Befürwortern und Gegnern betrifft den Begriff «Kompetenz»: Erstmals
ist ein Volksschullehrplan «kompetenzorientiert» aufgebaut. Was genau heisst
das? Und: Warum muss man darüber so heftig streiten?
«Ein semantisches Unglück»
Urs Moser, Titularprofessor
für Pädagogik an der Universität Zürich und Leiter des Instituts für Bildungsforschung,
erklärt: «Früher wurden in Lehrplänen Ziele in Form von Wissen und Inhalten
definiert, heute versucht man zu definieren, was die Schüler auf welcher Stufe
wissen und können müssen. Mit der Kompetenzorientierung wird der Fokus auf die
tatsächlich erreichten Lernergebnisse gerichtet und nicht nur auf das, was im
Unterricht durchgenommen werden soll.»
Das leuchtet ein – erklärt
aber noch nicht den erbitterten Streit. «Das Problem ist, dass der Begriff
mittlerweile inflationär verwendet wird. Kompetenz ist ein Modewort, das für
alles steht, was innovativ tönt. Von daher ist der vieldeutige Begriff ein
semantisches Unglück. Er hat den Eindruck erweckt, als würde nun alles ganz
anders, als würden keine traditionellen Inhalte mehr vermittelt, sondern nur
noch gesellschaftlich verwertbare Ziele verfolgt und der Lehrplan sei einzig
auf die Wirtschaft ausgerichtet. Das stimmt natürlich nicht.»
Zu viel in den Begriff gepackt
Daniel Hunziker war Leiter
einer Privatschule, heute ist er selbstständiger Schulentwickler. Von ihm ist
kürzlich ein Buch mit dem Titel «Hokuspokus Kompetenz?» erschienen. Er stellt
fest: «Die Frage nach dem Kompetenzbegriff macht deutlich, dass beim Lehrplan
21 in erster Linie ein Kommunikationsproblem besteht. Die Verantwortlichen haben
es versäumt, die Frage verständlich zu beantworten.»
Auch Daniel Hunziker stellt
fest, dass (zu) viel und Falsches in den Kompetenzbegriff verpackt wird.
«Im Lehrplan heisst es zum
Beispiel: ‹Schülerinnen und Schüler können schriftlich addieren und subtrahieren.›
In den meisten Lehrerzimmern wird nun angenommen, dass darunter Kompetenzen zu
verstehen sind. Dabei ist das schlicht ein Lernziel aus einem alten Lehrplan,
dem man ‹Schülerinnen und Schüler können …› vorangestellt hat. Im
Lehrplan-Kontext sind Kompetenzen eine bunte Mischung aus Fachwissen,
Lehrzielen und tatsächlichen Kompetenzen.»
Seine Definition von
Kompetenz: «… die Fähigkeit, in neuen Lebens- und Berufssituationen aufgrund
eigener Ideen und Entscheidungen eigenverantwortlich und sinnvoll handeln zu
können.»
Einheitlichkeit und Föderalismus
Hunziker verweist auf die
tiefgreifenden Veränderungen in Gesellschaft und Berufswelt.
«Heute hat die
Halbwertszeit von Wissen eine immer kürzere Dauer, weshalb das Vermitteln von
statischem Wissen immer fragwürdiger wird. Für eine Schule, welche für sich den
Anspruch hat, die Kinder und Jugendlichen auf die Zukunft vorzubereiten, ist
die Ausrichtung auf Kompetenzen – im Sinne von Selbstorganisationsfähigkeit –
schlicht ein Muss.»
Urs Moser erinnert an den Harmonisierungsauftrag,
den das Volk vor zehn Jahren der Schule erteilt hat. Diese Harmonisierung könne
nicht nur über Strukturen laufen, sondern müsse auch Inhalte umfassen.
Der Lehrplan 21 verordne
aber nicht totale Einheitlichkeit: «Gewisse Kompetenzen können mit
unterschiedlichen Inhalten vermittelt werden, womit kantonalen Bedürfnissen
besser entsprochen werden kann. Der Kanton Obwalden hat zum Beispiel das Thema
Niklaus von Flüe als verbindlich erklärt.»
«Für die Volksschule grundfalsch»
Harald Ronge ist
Mathematiklehrer an der Bezirksschule Bremgarten und Mitinitiant der
aargauischen Volksinitiative «Ja zu einer guten Bildung – Nein zum Lehrplan
21».
Für ihn ist klar: «Die
Kompetenzen betonen das blosse Können und bauen nicht auf Wissen und Inhalten auf.»
Was in höheren Schulen
allenfalls funktioniere, sei für die Volksschule grundfalsch. «Mit hohem
finanziellem Aufwand wurde ein komplett neuer Lehrplan auf der Basis von
Kompetenzen erstellt. Dieser Aufwand wurde kaum getrieben ohne ein
‹pädagogisches› Ziel der Veränderung. Nun zu behaupten, der Lehrplan 21 bringe
nichts Neues, ist kaum nachvollziehbar.»
Für Ronge setzt der
Lehrplan fort, was in Lehrerbildung und Lehrmitteln schon länger im Gang ist:
«Die Kompetenzen sollen mit
selbstentdeckendem, selbst organisiertem Lernen erworben werden. Doch diese
Ausrichtung ist schon länger überholt. Gemäss John Hattie und anderen
Bildungsforschern braucht es einen strukturierten und lehrerzentrierten
Unterricht. Diese Art des Unterrichtens soll mit dem Lehrplan 21 faktisch
abgeschafft werden.»
Der Bezirksschullehrer ist
überzeugt: «Zum Erwerben neuer Informationen ist ein breites Grundwissen
unabdingbar. Diese Aufgabe muss die Volksschule erfüllen. Gemäss Lehrplan 21
erfüllt sie sie nicht mehr. In der Mathematik kennen die Schülerinnen und
Schüler die Produkte des Einmaleins nur noch. Selbst können würde hier noch
mehr bedeuten. Dafür wird bereits in der Primarschule der Taschenrechner
eingeführt. Und in verschiedenen Fachbereichen soll nur noch an exemplarischen
Beispielen gelernt (entdeckt) werden. Ein systematischer Aufbau ist nicht mehr
vorgesehen.»
Ungenügend für den Unterricht
Folgt jetzt der Kompromiss
in der Einschätzung? Peter Bonati war 20 Jahre Direktor der Abteilung für das
Höhere Lehramt der Universität Bern. Er ist Verfasser mehrerer
kompetenzorientierter Lehrpläne der Sekundarstufe II.
Bonatis Urteil über den
Lehrplan 21 fällt gemischt aus: «Seine Stärke ist die Systematik der
Kompetenzen. Man weiss genau, was von den Lernenden auf welcher Schulstufe
verlangt wird. Das ergibt eine exakte Grundlage für Prüfungen und Tests – aber
noch nicht für den Unterricht. Zwar werden die Kompetenzen mit
Unterrichtsinhalten verknüpft, aber deren Reihenfolge ist im Gegensatz zu den
Kompetenzen nicht festgelegt. Lehrpersonen mit wenig Unterrichtserfahrung
werden damit Mühe bekunden. Dieses Ungleichgewicht zwischen Inhalten und
Kompetenzen ist die Schwäche des Lehrplans 21.»
Wo liegt der kleinste Nenner?
Sucht man in den
Expertenmeinungen einen gemeinsamen Nenner, könnte er so lauten: Der Lehrplan
21 bietet (noch) zu wenig konkrete Handlungsanweisungen für den Unterricht.
Zunächst kommt es nun auf die Kantone an, was sie ergänzend und konkretisierend
in das Dokument einfügen. Und dann kommt es auf den Lehrer, die Lehrerin an,
wie sie mit dem Lehrplan arbeiten. Ihr Handlungsspielraum bei der Wahl der
Inhalte und Lehrmethoden wird grösser, nicht kleiner.
Weiterführende Lektüre: Daniel Hunziker:
«Hokuspokus Kompetenz?», hep-Verlag, Bern 2015
«Einspruch!» Kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan 21, auch aus liberaler und linker Sicht, gesammelt von Alain Pichard und Beat Kissling, Januar 2016
«Einspruch!» Kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan 21, auch aus liberaler und linker Sicht, gesammelt von Alain Pichard und Beat Kissling, Januar 2016
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