Der Pädagogikprofessor Markus Neuenschwander äussert sich zur Bewertung der "überfachlichen Kompetenzen" in den Zeugnissen. Seiner Meinung nach sollte der Umgang mit Vielfalt bewertet werden, da er auch im Lehrplan 21 integriert ist.
Die Beurteilung von "überfachlichen Kompetenzen" wirft Fragen auf, Bild: Adrian Moser
"Den Umgang mit Vielfalt zu vermitteln ist nicht falsch", Bund, 9.3. von Adrian M. Moser
Herr Neuenschwander, die
Erziehungsdirektion des Kantons Bern hat einen Bewertungsbogen entwickelt, auf
dem die Lehrer die «überfachlichen Kompetenzen» der Schüler beurteilen sollen –
finden Sie das gut?
Die überfachlichen
Kompetenzen werden in den meisten Kantonen der Deutschschweiz beurteilt. Ich
finde es angemessen, diesem Bereich ein gewisses Gewicht zu geben.
Weshalb?
Erstens, weil diese
Kompetenzen für das Lernen wichtig sind. Zweitens, weil die Schule nicht nur
den Auftrag hat, fachliches Wissen zu vermitteln, sondern auch, die Grundlagen
bereitzustellen, die es braucht, damit ein fachliches Lernen stattfinden kann.
Drittens, weil überfachliche Kompetenzen eine Rolle spielen bei der
Entscheidung, welches Schulniveau für ein Kind angemessen ist. Viertens, weil
sie nachgewiesenermassen ein wichtiges Auswahlkriterium für Lehrbetriebe sind.
Und fünftens, weil sich so eher verhindern lässt, dass Lehrpersonen das
Verhalten eines Kindes in die Fachnote einfliessen lassen.
Es gibt heute im Zeugnis
den Bereich «Arbeits- und Lernverhalten». Braucht es überhaupt etwas Neues?
Es gibt weder in der
Schweiz noch international einen Konsens darüber, was man unter überfachlichen
Kompetenzen genau verstehen und wie man sie in der Praxis bewerten soll. Im
Kanton Aargau zum Beispiel liegt der Fokus seit längerem auf Selbst- und
Sozialkompetenz, im Kanton Bern eben auf dem Arbeits- und Lernverhalten. Im
Lehrplan 21 nun ist die Rede von personalen, sozialen und methodischen Kompetenzen.
Ist das besser?
Das ist aus heutiger
wissenschaftlicher Sicht nicht abschliessend beurteilbar. Wir sind auf der
Suche nach der besten Lösung. Der Berner Vorschlag orientiert sich stark am
Lehrplan 21, und das ergibt für mich Sinn. Die Beurteilung soll sich am
Lehrplan orientieren, das heisst, es soll nur beurteilt werden, was zuvor
gefördert worden ist.
Als der Berner Entwurf
für das Bewertungsraster kürzlich an die Öffentlichkeit gelangt ist, gab es
deutliche Kritik. Eine Charakterbewertung solle eingeführt werden, und einige
Punkte seien ideologisch gefärbt, hiess es. Wie sehen Sie das?
Der Charakter darf nicht
bewertet werden, denn für diesen kann man nichts. Aber ich bin der Meinung,
dass man einem Kind Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit
oder Umgang mit Vielfalt vermitteln kann. Und Kompetenzen darf man bewerten.
Aber der Punkt «Umgang
mit Vielfalt» ist doch klar ideologisch geprägt. In der Unterzeile heisst es
«Vielfalt als Bereicherung erfahren».
Man kann jeden dieser Punkte
als ideologisch bezeichnen, wenn man will. Aber ich denke nicht, dass das
weiterhilft. Vielfalt ist ein Kernmerkmal unserer postmodernen Gesellschaft.
Damit ist weit mehr gemeint als die Folgen der Migration. In einer pluralen
Gesellschaft steht jeder Mensch vor der Herausforderung, trotz der vielfältigen
Angebote eine Identität zu entwickeln. Diese Fähigkeit zu vermitteln und zu
bewerten, ist nicht falsch. Die Lehrer brauchen aber eine konkrete
Hilfestellung, wie sie das machen sollen.
Etwas als Bereicherung
erfahren zu müssen geht aber noch weiter, als damit umgehen zu können.
Diese Erwartung geht
tatsächlich sehr weit. Aber auch sie lässt sich begründen. Man kann sagen: Ist
Vielfalt möglich, ist auch Freiheit möglich. Als Individuum kann ich mich in
einer vielfältigen Gesellschaft eher so verhalten, wie ich will, als in einer
fundamentalistischen.
Der bernische
Erziehungsdirektor Bernhard Pulver hat Selbstkritik geübt und eine
Überarbeitung des Bewertungsrasters angekündigt. Ist das aus Ihrer Sicht überhaupt
nötig?
Ich fühle mich nicht
berufen, diese Entscheidung zu kommentieren.
Was Sie bisher gesagt
haben, erweckt den Eindruck, als brauche es aus Ihrer Sicht keine
Überarbeitung.
Ich habe bisher nichts
darüber gesagt, ob das Beurteilungsraster gut oder schlecht ist. Ich habe
lediglich gesagt, dass die Bewertungspunkte zu den ersten beiden Teilen, den
personalen und sozialen Kompetenzen, auch im Lehrplan 21 zu finden sind und es
deshalb sinnvoll ist, diese zu bewerten.
Finden Sie das Raster
gut oder schlecht?
Ich störe mich vor allem
am dritten Teil, den «Schlüsselkompetenzen», unter denen Tugenden wie
Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Höflichkeit und Verantwortungsbewusstsein zu
finden sind. Diese kommen im Lehrplan 21 nicht vor, und ich bin der Meinung, dass
sie nicht im Zeugnis beurteilt werden sollten.
Bernhard Pulver sagt,
die Lehrbetriebe wünschten sich eine Beurteilung dieser «Schlüsselkompetenzen».
Ich weiss, dass diese
Punkte den Berufsbildnern wichtig sind. Auch die Schule kann nicht
funktionieren, wenn die Kinder sie nicht bis zu einem gewissen Grad erfüllen.
Wenn sie nicht pünktlich zum Unterricht erscheinen, kann kein Unterricht
stattfinden. Wenn sie keine Verantwortung für ihr Lernen übernehmen, lernen sie
nichts. In der Lehre und später am Arbeitsplatz ist es dasselbe. Dennoch
gehören diese Punkte meiner Meinung nach im Moment nicht ins Zeugnis.
Im Moment?
Sie gehören nicht ins
Zeugnis, solange sie nicht im Lehrplan stehen und solange es kein Verfahren
gibt, das sicherstellt, dass die Beurteilung vergleichbar und verlässlich ist.
Untersuchungen zeigen, dass die Lehrbetriebe in Bewertungen der überfachlichen
Kompetenzen kein Vertrauen haben, solange sie nicht wissen, wie sie zustande
kommen.
Ist es überhaupt die
Aufgabe der Schule, zuhanden der Lehrbetriebe solche Bewertungen abzugeben?
Auf diese Frage gibt es
keine klare Antwort. In der Lehre ist man sich nicht einig darüber, ob es die
Aufgabe der Schule ist, die Kinder auf das Leben vorzubereiten oder eben gerade
nicht. Ich bin der Meinung, dass die Schule drei Funktionen hat: die Kinder zu
einer Selbstständigkeit führen, die Kinder auf die Erwerbstätigkeit
vorbereiten, den Kindern die Fähigkeit vermitteln, staatsbürgerliche
Verantwortung in einer Demokratie zu übernehmen.
Mit dem zweiten Punkt
lässt sich eine Beurteilung von Pünktlichkeit und Höflichkeit rechtfertigen.
Ein gewisser Bezug ist
da, aber er ist nicht perfekt. Das Zeugnis sollte ein Abbild der Fähigkeiten
sein, die das Kind in der Schule erworben hat und die zu denen gehören, die die
Schule vermitteln soll.
Welche Fähigkeiten das
sind, steht im Lehrplan. Das heisst, eine Beurteilung der personalen und
sozialen Kompetenzen geht in Ordnung, eine Beurteilung von
«Schlüsselkompetenzen» wie Höflichkeit und Pünktlichkeit aber nicht.
Ja. Ich sehe bei den
«Schlüsselkompetenzen» keinen Bezug zum Lehrplan 21. Herr Pulver macht ein
Zugeständnis an die Lehrbetriebe, wenn er diese Punkte bewerten lässt. Das kann
man machen. Aber ich plädiere eher dafür, die Schule und die Wirtschaft als
zwei getrennte Systeme anzusehen. Deshalb sollten sich die Begriffe im
Schulzeugnis in erster Linie an der Schule und nicht an den Bedürfnissen der
Lehrbetriebe orientieren.
Bernhard Pulver
argumentiert, die Beurteilung der überfachlichen Kompetenzen werde nicht Teil
des Zeugnisses sein, sondern eine Beilage dazu. Jeder Schüler könne dann selber
entscheiden, ob er diese seiner Bewerbung beilegen wolle. Ein haltbares
Argument?
Rechtlich macht das
einen Unterschied, weil die überfachlichen Kompetenzen dann zum Beispiel nicht
promotionsrelevant sind. Ob es für einen Schüler, der sich um eine Lehrstelle
bewerben will, tatsächlich eine Option ist, diese Beilage in der Bewerbung
wegzulassen, ist fraglich. Aber auch hier gibt es eine Vielfalt: Nicht jeder
Lehrbetrieb will dasselbe. Einige werden die Beilage sehen wollen, anderen wird
es egal sein. Ich finde es keine schlechte Lösung, die überfachlichen
Kompetenzen zu beurteilen, aber sie vom Zeugnis abzukoppeln.
Eine Lehrstelle kann
auch eine zweite Chance sein. Diese wird womöglich vereitelt, wenn die
Lehrbetriebe durch die Bewertung der Lehrer voreingenommen werden.
Eine Lehrstelle kann
eine zweite Chance sein. Aber auch hier stellt sich eine Grundsatzfrage, auf
die es keine klare Antwort gibt. In der Medizin ist man der Meinung, die
Krankengeschichte müsse stets weitergegeben werden. In der Pädagogik ist es
genau umgekehrt. Wenn neue Lehrer oder der Lehrbetrieb wichtige Informationen
nicht haben, kann das für das Kind auch ein Nachteil sein.
Markus Neuenschwander ist kein Unbekannter, wenn es darum geht, Klartext zu sprechen:-)
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