9. März 2016

Was genau soll denn beurteilt werden?

Der Pädagogikprofessor Markus Neuenschwander äussert sich zur Bewertung der "überfachlichen Kompetenzen" in den Zeugnissen. Seiner Meinung nach sollte der Umgang mit Vielfalt bewertet werden, da er auch im Lehrplan 21 integriert ist.













Die Beurteilung von "überfachlichen Kompetenzen" wirft Fragen auf, Bild: Adrian Moser
"Den Umgang mit Vielfalt zu vermitteln ist nicht falsch", Bund, 9.3. von Adrian M. Moser


Herr Neuenschwander, die Erziehungsdirektion des Kantons Bern hat einen Bewertungsbogen entwickelt, auf dem die Lehrer die «überfachlichen Kompetenzen» der Schüler beurteilen sollen – finden Sie das gut?
Die überfachlichen Kompetenzen werden in den meisten Kantonen der Deutschschweiz beurteilt. Ich finde es angemessen, diesem Bereich ein gewisses Gewicht zu geben.
Weshalb?
Erstens, weil diese Kompetenzen für das Lernen wichtig sind. Zweitens, weil die Schule nicht nur den Auftrag hat, fachliches Wissen zu vermitteln, sondern auch, die Grundlagen bereitzustellen, die es braucht, damit ein fachliches Lernen stattfinden kann. Drittens, weil überfachliche Kompetenzen eine Rolle spielen bei der Entscheidung, welches Schulniveau für ein Kind angemessen ist. Viertens, weil sie nachgewiesenermassen ein wichtiges Auswahlkriterium für Lehrbetriebe sind. Und fünftens, weil sich so eher verhindern lässt, dass Lehrpersonen das Verhalten eines Kindes in die Fachnote einfliessen lassen.
Es gibt heute im Zeugnis den Bereich «Arbeits- und Lernverhalten». Braucht es überhaupt etwas Neues?
Es gibt weder in der Schweiz noch international einen Konsens darüber, was man unter überfachlichen Kompetenzen genau verstehen und wie man sie in der Praxis bewerten soll. Im Kanton Aargau zum Beispiel liegt der Fokus seit längerem auf Selbst- und Sozialkompetenz, im Kanton Bern eben auf dem Arbeits- und Lernverhalten. Im Lehrplan 21 nun ist die Rede von personalen, sozialen und methodischen Kompetenzen.
Ist das besser?
Das ist aus heutiger wissenschaftlicher Sicht nicht abschliessend beurteilbar. Wir sind auf der Suche nach der besten Lösung. Der Berner Vorschlag orientiert sich stark am Lehrplan 21, und das ergibt für mich Sinn. Die Beurteilung soll sich am Lehrplan orientieren, das heisst, es soll nur beurteilt werden, was zuvor gefördert worden ist.
Als der Berner Entwurf für das Bewertungsraster kürzlich an die Öffentlichkeit gelangt ist, gab es deutliche Kritik. Eine Charakterbewertung solle eingeführt werden, und einige Punkte seien ideologisch gefärbt, hiess es. Wie sehen Sie das?
Der Charakter darf nicht bewertet werden, denn für diesen kann man nichts. Aber ich bin der Meinung, dass man einem Kind Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit oder Umgang mit Vielfalt vermitteln kann. Und Kompetenzen darf man bewerten.
Aber der Punkt «Umgang mit Vielfalt» ist doch klar ideologisch geprägt. In der Unterzeile heisst es «Vielfalt als Bereicherung erfahren».
Man kann jeden dieser Punkte als ideologisch bezeichnen, wenn man will. Aber ich denke nicht, dass das weiterhilft. Vielfalt ist ein Kernmerkmal unserer postmodernen Gesellschaft. Damit ist weit mehr gemeint als die Folgen der Migration. In einer pluralen Gesellschaft steht jeder Mensch vor der Herausforderung, trotz der vielfältigen Angebote eine Identität zu entwickeln. Diese Fähigkeit zu vermitteln und zu bewerten, ist nicht falsch. Die Lehrer brauchen aber eine konkrete Hilfestellung, wie sie das machen sollen.
Etwas als Bereicherung erfahren zu müssen geht aber noch weiter, als damit umgehen zu können.
Diese Erwartung geht tatsächlich sehr weit. Aber auch sie lässt sich begründen. Man kann sagen: Ist Vielfalt möglich, ist auch Freiheit möglich. Als Individuum kann ich mich in einer vielfältigen Gesellschaft eher so verhalten, wie ich will, als in einer fundamentalistischen.
Der bernische Erziehungsdirektor Bernhard Pulver hat Selbstkritik geübt und eine Überarbeitung des Bewertungsrasters angekündigt. Ist das aus Ihrer Sicht überhaupt nötig?
Ich fühle mich nicht berufen, diese Entscheidung zu kommentieren.
Was Sie bisher gesagt haben, erweckt den Eindruck, als brauche es aus Ihrer Sicht keine Überarbeitung.
Ich habe bisher nichts darüber gesagt, ob das Beurteilungsraster gut oder schlecht ist. Ich habe lediglich gesagt, dass die Bewertungspunkte zu den ersten beiden Teilen, den personalen und sozialen Kompetenzen, auch im Lehrplan 21 zu finden sind und es deshalb sinnvoll ist, diese zu bewerten.
Finden Sie das Raster gut oder schlecht?
Ich störe mich vor allem am dritten Teil, den «Schlüsselkompetenzen», unter denen Tugenden wie Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Höflichkeit und Verantwortungsbewusstsein zu finden sind. Diese kommen im Lehrplan 21 nicht vor, und ich bin der Meinung, dass sie nicht im Zeugnis beurteilt werden sollten.
Bernhard Pulver sagt, die Lehrbetriebe wünschten sich eine Beurteilung dieser «Schlüsselkompetenzen».
Ich weiss, dass diese Punkte den Berufsbildnern wichtig sind. Auch die Schule kann nicht funktionieren, wenn die Kinder sie nicht bis zu einem gewissen Grad erfüllen. Wenn sie nicht pünktlich zum Unterricht erscheinen, kann kein Unterricht stattfinden. Wenn sie keine Verantwortung für ihr Lernen übernehmen, lernen sie nichts. In der Lehre und später am Arbeitsplatz ist es dasselbe. Dennoch gehören diese Punkte meiner Meinung nach im Moment nicht ins Zeugnis.
Im Moment?
Sie gehören nicht ins Zeugnis, solange sie nicht im Lehrplan stehen und solange es kein Verfahren gibt, das sicherstellt, dass die Beurteilung vergleichbar und verlässlich ist. Untersuchungen zeigen, dass die Lehrbetriebe in Bewertungen der überfachlichen Kompetenzen kein Vertrauen haben, solange sie nicht wissen, wie sie zustande kommen.
Ist es überhaupt die Aufgabe der Schule, zuhanden der Lehrbetriebe solche Bewertungen abzugeben?
Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. In der Lehre ist man sich nicht einig darüber, ob es die Aufgabe der Schule ist, die Kinder auf das Leben vorzubereiten oder eben gerade nicht. Ich bin der Meinung, dass die Schule drei Funktionen hat: die Kinder zu einer Selbstständigkeit führen, die Kinder auf die Erwerbstätigkeit vorbereiten, den Kindern die Fähigkeit vermitteln, staatsbürgerliche Verantwortung in einer Demokratie zu übernehmen.
Mit dem zweiten Punkt lässt sich eine Beurteilung von Pünktlichkeit und Höflichkeit rechtfertigen.
Ein gewisser Bezug ist da, aber er ist nicht perfekt. Das Zeugnis sollte ein Abbild der Fähigkeiten sein, die das Kind in der Schule erworben hat und die zu denen gehören, die die Schule vermitteln soll.
Welche Fähigkeiten das sind, steht im Lehrplan. Das heisst, eine Beurteilung der personalen und sozialen Kompetenzen geht in Ordnung, eine Beurteilung von «Schlüsselkompetenzen» wie Höflichkeit und Pünktlichkeit aber nicht.
Ja. Ich sehe bei den «Schlüsselkompetenzen» keinen Bezug zum Lehrplan 21. Herr Pulver macht ein Zugeständnis an die Lehrbetriebe, wenn er diese Punkte bewerten lässt. Das kann man machen. Aber ich plädiere eher dafür, die Schule und die Wirtschaft als zwei getrennte Systeme anzusehen. Deshalb sollten sich die Begriffe im Schulzeugnis in erster Linie an der Schule und nicht an den Bedürfnissen der Lehrbetriebe orientieren.
Bernhard Pulver argumentiert, die Beurteilung der überfachlichen Kompetenzen werde nicht Teil des Zeugnisses sein, sondern eine Beilage dazu. Jeder Schüler könne dann selber entscheiden, ob er diese seiner Bewerbung beilegen wolle. Ein haltbares Argument?
Rechtlich macht das einen Unterschied, weil die überfachlichen Kompetenzen dann zum Beispiel nicht promotionsrelevant sind. Ob es für einen Schüler, der sich um eine Lehrstelle bewerben will, tatsächlich eine Option ist, diese Beilage in der Bewerbung wegzulassen, ist fraglich. Aber auch hier gibt es eine Vielfalt: Nicht jeder Lehrbetrieb will dasselbe. Einige werden die Beilage sehen wollen, anderen wird es egal sein. Ich finde es keine schlechte Lösung, die überfachlichen Kompetenzen zu beurteilen, aber sie vom Zeugnis abzukoppeln.
Eine Lehrstelle kann auch eine zweite Chance sein. Diese wird womöglich vereitelt, wenn die Lehrbetriebe durch die Bewertung der Lehrer voreingenommen werden.
Eine Lehrstelle kann eine zweite Chance sein. Aber auch hier stellt sich eine Grundsatzfrage, auf die es keine klare Antwort gibt. In der Medizin ist man der Meinung, die Krankengeschichte müsse stets weitergegeben werden. In der Pädagogik ist es genau umgekehrt. Wenn neue Lehrer oder der Lehrbetrieb wichtige Informationen nicht haben, kann das für das Kind auch ein Nachteil sein.


1 Kommentar:

  1. Markus Neuenschwander ist kein Unbekannter, wenn es darum geht, Klartext zu sprechen:-)
    http://www.lvb.ch/docs/magazin/2014_2015/02-Dezember/02_Editorial_LVB_1415-02.pdf

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