Kernkraftwerke werden stillgelegt, betonierte Flussläufe renaturiert und
Medikamente zurückgezogen, wenn Fachwelt und Politik erkennen, dass ihr Schaden
grösser ist als ihr Nutzen. Eingeständnisse mit Vollbremsung und Rückwärtsgang
sind harte Kost für die Politik, zeugen aber von Grösse und
Verantwortungsbewusstsein. In der Bildungspolitik fehlt aber die
Tradition einer ungeschminkten Neubewertung mit einer allfälligen
Vollbremse.
"Kinder sind keine Motoren, die getunt werden können", Bild: Gaetan Bally
Von Schulkindern wird zu viel verlangt, Mamablog, 8.3. von Roland Käser
Der Ruf des international renommierten Forschers und
Entwicklungspädiaters Remo Largo prallt an der Mauer der Politik ab. Man will
nicht hören, dass mit dem obligatorischen Fremdsprachenunterricht in der
Primarschule ein pädagogischer Irrweg beschritten wird. Dieser
kostet eine Menge Geld, bringt aber nichts. Mit Recht prangert Largo die
Bildungspolitiker an, die tun, als ob sie über Kinder frei verfügen könnten und
diese beliebig lern- und anpassungsfähig wären. Er meint, dass Politiker ein Rückkommen
auf einen früheren Entscheid als Gesichtsverlust empfinden könnten.
Werden Schule und Kinder als Spielball oder gar als Geisel der
kantonalen und nationalen Politik behandelt? Der Ruf, der Bund möge – nicht nur
beim Fremdsprachenunterricht – ein Machtwort sprechen, nährt solche
Vorstellungen.
Kinder sind keine Motoren, die beliebig getunt werden können; auch keine
Nürnberger Trichter, in die beliebig viele Lerninhalte gestopft werden können.
Diese Grenze der Machbarkeit kann auch nicht durch ein Machtwort des obersten
Bildungsdirektors durchbrochen werden, der postuliert, man müsse von den
Kindern einfach mehr fordern.
Bei der ganzen Diskussion wird oft vergessen, dass nur etwa 15–20
Prozent aller Menschen intellektuell überdurchschnittlich begabt sind. Sie
mögen in der Lage sein, neben dem ständig wachsenden generellen Lernstoff noch
mindestens drei Fremdsprachen zu lernen (Hochdeutsch, Französisch, Englisch).
Doch was ist mit all den anderen? Als Pädagoge und praktizierender
Schulpsychologe bin ich täglich Zeuge schulisch gebeutelter Kinder. Es handelt
sich dabei nicht nur um Kinder mit Migrationshintergrund.
Als teilnehmender Beobachter an der Schnittstelle von Theorie und Praxis
der Pädagogik gewinnt man den Eindruck, nicht die Schule an sich sei
das Problem, sondern die Lösungsversuche. Beispielsweise wurde im Kanton
Zürich kurz nach Abschaffung von Klein- und Sonderklassen und Einführung des
Integrationskonzeptes – auf Druck von Schulpraxis und Politik – mit
Millionenaufwand das Nachbesserungsprodukt «Integrative Sonderschulung als
Einzelfalllösung» (ISE) nachgeliefert, und kurz darauf in ISR (IS in der
Kompetenz der Regelschule) übergeführt. Rasch zeigte sich, dass die Anwesenheit
von mehreren Betreuungspersonen im Klassenzimmer zu Unruhe führt. Um dieser
Schwierigkeit zu begegnen, wurde vor zwei Jahren das Projekt «Fokus starke
Lernbeziehungen» lanciert. Zwei Lehrpersonen mit einem leicht erhöhten
Arbeitspensum übernehmen alle Zusatzaufgaben zur Förderung von Kindern mit
besonderen Bedürfnissen (Hochbegabte eingeschlossen).
Dass ein Zusammenhang zwischen der Zunahme erfolgloser Lösungsversuche
und der gesamtschweizerischen Verdoppelung der Bildungsausgaben für die
Sonderschulung bestehen könnte, wurde bislang von der Bildungspolitik
ausgeblendet.
*Roland Käser ist Fachpsychologe für
Kinder- und Jugendpsychologie, langjähriger Schulpsychologe und Buchautor. Von
1988–2008 war er Psychologieprofessor und Rektor an der Hochschule für
Angewandte Psychologie HAP in Zürich (heute ZHAW).
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