8. März 2016

Gebeutelte Kinder als Opfer der Bildungspolitik

Kernkraftwerke werden stillgelegt, betonierte Flussläufe renaturiert und Medikamente zurückgezogen, wenn Fachwelt und Politik erkennen, dass ihr Schaden grösser ist als ihr Nutzen. Eingeständnisse mit Vollbremsung und Rückwärtsgang sind harte Kost für die Politik, zeugen aber von Grösse und Verantwortungsbewusstsein. In der Bildungspolitik fehlt aber die Tradition einer ungeschminkten Neubewertung mit einer allfälligen Vollbremse.













"Kinder sind keine Motoren, die getunt werden können", Bild: Gaetan Bally
Von Schulkindern wird zu viel verlangt, Mamablog, 8.3. von Roland Käser


Der Ruf des international renommierten Forschers und Entwicklungspädiaters Remo Largo prallt an der Mauer der Politik ab. Man will nicht hören, dass mit dem obligatorischen Fremdsprachenunterricht in der Primarschule ein pädagogischer Irrweg beschritten wird. Dieser kostet eine Menge Geld, bringt aber nichts. Mit Recht prangert Largo die Bildungspolitiker an, die tun, als ob sie über Kinder frei verfügen könnten und diese beliebig lern- und anpassungsfähig wären. Er meint, dass Politiker ein Rückkommen auf einen früheren Entscheid als Gesichtsverlust empfinden könnten.

Werden Schule und Kinder als Spielball oder gar als Geisel der kantonalen und nationalen Politik behandelt? Der Ruf, der Bund möge – nicht nur beim Fremdsprachenunterricht – ein Machtwort sprechen, nährt solche Vorstellungen.

Kinder sind keine Motoren, die beliebig getunt werden können; auch keine Nürnberger Trichter, in die beliebig viele Lerninhalte gestopft werden können. Diese Grenze der Machbarkeit kann auch nicht durch ein Machtwort des obersten Bildungsdirektors durchbrochen werden, der postuliert, man müsse von den Kindern einfach mehr fordern.
Bei der ganzen Diskussion wird oft vergessen, dass nur etwa 15–20 Prozent aller Menschen intellektuell überdurchschnittlich begabt sind. Sie mögen in der Lage sein, neben dem ständig wachsenden generellen Lernstoff noch mindestens drei Fremdsprachen zu lernen (Hochdeutsch, Französisch, Englisch). Doch was ist mit all den anderen? Als Pädagoge und praktizierender Schulpsychologe bin ich täglich Zeuge schulisch gebeutelter Kinder. Es handelt sich dabei nicht nur um Kinder mit Migrationshintergrund.

Als teilnehmender Beobachter an der Schnittstelle von Theorie und Praxis der Pädagogik gewinnt man den Eindruck, nicht die Schule an sich sei das Problem, sondern die Lösungsversuche. Beispielsweise wurde im Kanton Zürich kurz nach Abschaffung von Klein- und Sonderklassen und Einführung des Integrationskonzeptes – auf Druck von Schulpraxis und Politik – mit Millionenaufwand das Nachbesserungsprodukt «Integrative Sonderschulung als Einzelfalllösung» (ISE) nachgeliefert, und kurz darauf in ISR (IS in der Kompetenz der Regelschule) übergeführt. Rasch zeigte sich, dass die Anwesenheit von mehreren Betreuungspersonen im Klassenzimmer zu Unruhe führt. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, wurde vor zwei Jahren das Projekt «Fokus starke Lernbeziehungen» lanciert. Zwei Lehrpersonen mit einem leicht erhöhten Arbeitspensum übernehmen alle Zusatzaufgaben zur Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen (Hochbegabte eingeschlossen).

Dass ein Zusammenhang zwischen der Zunahme erfolgloser Lösungsversuche und der gesamtschweizerischen Verdoppelung der Bildungsausgaben für die Sonderschulung bestehen könnte, wurde bislang von der Bildungspolitik ausgeblendet.

*Roland Käser ist Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie, langjähriger Schulpsychologe und Buchautor. Von 1988–2008 war er Psychologieprofessor und Rektor an der Hochschule für Angewandte Psychologie HAP in Zürich (heute ZHAW).


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