4. März 2016

Verantwortung für das Lernen liegt beim Lehrer

Die Lernforscherin Elsbeth Stern gibt Auskunft zu Fragen rund um die Binnendifferenzierung, Lehrmethoden und Schulmodelle.








Elsbeth Stern ist seit 2006 Lehr- und Lernforscherin an der ETH, Bild: SRF
"Nicht jedem Schüler sein eigenes Süppchen kochen", SRF, 4.3. von Corinna Daus

Frau Stern, in Zürich laufen die Vorbereitungen für die Gymi-Prüfungen. Schüler und Eltern sind unter Stress, eine Menge Nachhilfestunden werden gezahlt, damit der Nachwuchs die Aufnahme besteht. Läuft etwas falsch, wenn die Primarschule es nicht mehr schafft, die Schüler aufs Gymnasium vorzubereiten?
Ja. Eigentlich sollten die Kinder in den ersten sechs Jahren ihres Schullebens so viel gelernt haben, dass sie es ohne Hilfe aufs Gymnasium schaffen. Oder eben nicht. Ich finde es problematisch, dass Kinder nur aufs Gymnasium kommen, weil sie kurzfristig gepusht werden. Dass aber umgekehrt manche Kinder mit guten Voraussetzungen keine Chance haben, weil niemand sie fördert.

Aber Schüler mit Matur haben die besseren Chancen im Berufsleben ...
Das ist doch die grosse Stärke der Schweiz, dass man auch dann eine sehr gute Ausbildung bekommt, wenn man keinen akademischen Weg einschlägt. Und zum Teil sogar mehr verdient. Gleichzeitig finde ich es richtig, dass man die akademische Universitätsausbildung auf 20 Prozent beschränkt. Es sollten nur die Intelligenten aufs Gymnasium, egal aus welchem Elternhaus sie kommen.

Kinder mit unterschiedlicher Begabungen und unterschiedlicher Intelligenz gibt es in jeder Schulklasse, egal in welcher Schulform – wie geht man damit am besten um?
Man muss von der ersten Klasse an auf unterschiedliche Begabungen eingestellt sein. Das heisst, man muss Mindestanforderungen formulieren und die darüber hinausgehenden Kompetenzen: Welche Gleichungen müssen alle in Algebra lösen können und welche Gleichungen schaffen nur ganz wenige? Für jede Kompetenzstufe muss es Lernangebote geben. Trotzdem muss den Kindern signalisiert werden: Egal ob Gymnasium oder Sekundarschule, es bleibt wichtig, gute Leistungen zu erbringen.

Jeden Schüler einer Klasse zu fördern ist eine enorme Herausforderung für die Lehrer. Über ihre Rolle wird viel diskutiert. Sollen sie in Zukunft mehr Coach und Lernbegleiter sein?
Man kann jede pädagogische Idee an die Wand fahren. Differenzierung findet im Kopf der Lehrperson statt und heisst nicht, jedem Schüler sein eigenes Süppchen zu kochen. Ein kompetenter Lehrer kann sich in einer ihm unbekannten Klasse besser auf Vielfalt einstellen als ein inkompetenter Lehrer in seiner vertrauten Klasse. Die Rolle der Lehrer hat sich verändert, aber die Verantwortung für das Lernen liegt weiterhin bei ihnen. Wobei sie sich bewusst sein müssen, dass nicht alle Schüler gleich intelligent sind und deshalb nicht alle das gleiche Ziel erreichen können.

Was ist denn heute die wichtigste Eigenschaft für Lehrer?
Lange hat man Wert auf Methoden gelegt, zum Beispiel, dass der Lehrer weiss, wie man Gruppenunterricht macht. Heute wissen wir, was wichtiger ist: Lehrer müssen sich in die Schüler hineinversetzen können. Sie müssen verstehen, wie Kinder lernen und welche Schwierigkeiten sie beim Lernen haben können. Und zwar fachspezifisch.

Ein Beispiel?
Ein guter Physiklehrer weiss, dass ein angestossener Ball aufgrund seiner Trägheit weiter rollt und dass die Reibungskraft ihn bremst. Aber er weiss auch, dass selbst die intelligenteste Schülerin intuitiv bei Trägheit denkt, es bewegt sich nichts und glaubt, dass ein Gegenstand sich nur bewegt, wenn permanent eine Kraft auf ihn wirkt. Kinder müssen ihr Wissen umstrukturieren, oder wie man in der Lernforschung sagt, einen Konzeptwechsel vollziehen. Damit das nicht oberflächlich geschieht, braucht es viel Zeit und Übung. Aber wenn die Kinder diesen Konzeptwechsel einmal verinnerlicht haben, kommt der Rest von selbst.

Werden die richtigen Personen Lehrer?
Wir wissen inzwischen recht gut, wer Lehrer werden sollte und wer nicht: Weniger gute Lehrer behaupten gern, dass es ihnen besonders wichtig sei, den Kindern Sozialkompetenzen beizubringen. Die kann man zwar lernen – aber nicht lehren. Gute Lehrer haben fachliche Kompetenzen und leben diese Sozialkompetenzen vor. Das geschieht ganz nebenbei, beispielsweise wenn Schüler Fehler machen dürfen, ohne dafür blossgestellt zu werden und wenn diese Fehler dann im Unterricht sogar aufgenommen werden.

Viele Schulen experimentieren derzeit mit Unterrichtsmodellen. Klassenräume werden aufgelöst, Lehrer bekommen neue Funktionen, individuelle Förderung wird gross geschrieben – was sagt die Lernforscherin: Welches Modell funktioniert?
Die Frage ist ja immer: Was stelle ich in den Mittelpunkt? Dass ich modernen Gruppenunterricht mache oder dass die Schüler nachher ein gutes Konzept von Kraft haben sollen? Es kann sehr sinnvoll sein, wenn Schüler paarweise lernen. Manchmal kann ein Schüler einem anderen etwas besser erklären als der Lehrer. Dafür braucht es natürlich ein anderes Klassenzimmer als das, in dem jeder in Reih und Glied sitzt.

Also weg mit dem traditionellen Klassenraum?
Ich habe das Gefühl, dass das Pferd immer von hinten aufgeschirrt wird. Zum Beispiel, wenn es heisst: Wir dürfen keinen Frontalunterricht mehr machen. Darum geht es ja nicht! Lehrer müssen immer überlegen: Welches Ziel habe ich jetzt? Mit welcher Methode kann ich es am besten erreichen? Sie müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Dafür sollten sie ihre Freiheiten haben und nicht zu viele bürokratische Hürden überwinden müssen.

Es gibt demnach nicht das eine, richtige Modell?
Nein. Die Schulen müssen sicherstellen, dass etwas gelernt wird. Was man benoten muss, ist nachher die Leistung. Haben die Kinder ein Konzept von Kraft oder hatten sie nur Spass?

In der Sendung «Einstein» sagenSie: «Hört auf über Modelle zu reden, die Inhalte sind wichtig!». Wo sollten denn die Lerninhalte in der Schweiz verbessert werden?
Es ist nicht nur in der Schweiz so. Gerade in Mathematik und den Naturwissenschaften wissen wir: Die Schüler verstehen zu wenig. Das sind die Problemfächer, weil sie den erwähnten Konzeptwechsel verlangen. Selbst wenn im Französischunterricht nur ein begrenzter Wortschatz erworben wurde und die Grammatikregeln lückenhaft sind, kann man immerhin radebrechen. Aber «besser ein bisschen als gar nichts» gilt in Mathematik und den Naturwissenschaften eher selten.

Konkret: Was muss sich verbessern?
Da gibt es viele Ansatzpunkte. Einer ist die Primarschule, wo man beispielsweise in Physik schon ein Verständnis von Begriffen wie Dichte und Auftrieb fördern kann. Auf die Frage «Warum schwimmt ein grosses Schiff aus Stahl, während ein kleines Stück Stahl untergeht?» antworten Kinder zunächst: «Das Schiff hat einen Kapitän oder einen Motor». Was stimmt – aber es ist nicht die Erklärung.
Ein guter Lehrer führt die Kinder nach und nach dahin, dass bei einem Schiff das weggedrängte Wasser mehr wiegt als das Schiff selbst und es deshalb schwimmt. Während es beim Stahlstück genau umgekehrt ist. Es bringt nichts, solche Erklärungen einfach vorzugeben, die Kinder sollen sie selbst entwickeln. Und von anregendem und gutem Unterricht profitieren auch die Schwachen – das haben viele Studien gezeigt.

Was sind denn nun die entscheidenden Kriterien um zu sagen: Das ist ein gutes Bildungssystem.
Wir leben in einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Auch der Hausmeister an einer Universität soll in der Lage sein, die Gäste auf Englisch zu begrüssen. Zunächst muss es aber darum gehen, Lesen und Schreiben in der Muttersprache zu lernen und Rechenkompetenzen zu entwickeln, da ansonsten gesellschaftliche Teilhabe und Eigenständigkeit nicht möglich sind.

Alles andere ist sekundär?
Ja. Ich kann nicht Geografie lernen, wenn ich nicht lesen, schreiben und rechnen kann. Das bleiben die Kernkompetenzen, deren Erwerb wir in der Primarschule sicherstellen müssen. Auf dieser Grundlage kann die Schule jeden nach seinen Fähigkeiten so vorbereiten, dass er später eine verantwortungsvolle Rolle in der Gesellschaft einnehmen kann.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen