Am Montag ist der Tag
der Wahrheit – Aufnahmeprüfung ans Gymnasium. Am grössten ist das Lampenfieber
zwischen Gloriastrasse und Dolder, zwischen Klusplatz und Bellerivestrasse – im
Zürcher Schulkreis Zürichberg also. Hier ist der Anteil der Gymischüler am
grössten. Kein anderer Stadtkreis, keine andere Gemeinde im Kanton hat eine so
hohe Gymiquote. Sie erreicht hier eine Grössenordnung wie sonst nur im Ausland
– etwa in Deutschland.
Besonders beliebt ist am
Zürichberg das Langgymnasium. Im Jahr 2014 haben 42,2 Prozent der
Sechstklässler den Sprung ans Langgymi geschafft. Später kommen noch jene dazu,
die nach der Sekundarschule ins Kurzgymi wechseln. Das sind nochmals 30
Prozent, und schliesslich gibt es unter den Zürichberg-Kindern viele
Schülerinnen und Schüler in privaten Gymnasien. Wer sich im Schulkreis der
Reichen und Studierten für eine Lehre entscheidet, ist ein Exot. Das war zwar
schon immer so, doch der Trend hat sich noch verstärkt. Besonders bei den
Langgymnasien. Um die Jahrtausendwende lag die Quote noch bei etwa 36 Prozent.
Es scheint die Devise zu gelten: je früher, desto besser.
Dies
hat auch Mirella Forster festgestellt. Sie ist seit 2014 Schulpräsidentin,
freisinnig und selber seit 30 Jahren im Schulkreis wohnhaft: «Die Eltern melden
ihre Ansprüche heute häufig sehr früh an.» Selbst im Kindergarten könne es
vorkommen, dass man übers Gymnasium sprechen müsse. Die ehemalige
Jugendanwältin steht zwar für eine leistungsstarkeSchule. Doch der Umgang mit den Eltern sei für
Lehrpersonen und Schulleiter häufig herausfordernd und manchmal auch schwierig.
Denn es komme vor, dass Eltern ihre Kinder gegen Ende der Primarschulzeit aus
den Klassen nähmen, um sie an Privatschulen aufs Gymnasium vorzubereiten. Das kann
die grüne Kantonsrätin und ehemalige Schulpflegerin Esther Guyer bestätigen.
Sie erinnert sich an einen Elternabend in einer zweiten Klasse, als ein Vater
offen von der Lehrerin verlangte, dass sein Sohn die Gymiprüfung bestehen
müsse, er werde schliesslich viel Geld in die Vorbereitung stecken.
Kinder werden gedrängt
Ähnlich
sind die Erfahrungen von Juristin und Journalistin Esther Girsberger: «Für mich
nimmt die Hysterie am Zürichberg absurde Züge an.» Nicht wenige Kinder würden
durch die Eltern regelrecht in die Mittelschulen gedrängt, auch solche, die gar
nicht gehen wollten. Wie gross der Run am Zürichberg ist, belegt Esther
Girsberger mit Zahlen. Von den 21Kindern in der damaligen 6.Klasse ihres
älteren Sohnes gingen 19 an die Gymiprüfung – 15 haben bestanden. Für
Girsberger ist klar, am Zürichberg «erkaufen» sich viele durch private Kurse
einen Platz im Gymnasium: «Das hat mit Chancengleichheit nichts mehr zu tun.»
Einige Schülerinnen und Schüler würden auch nach dem Eintritt ins Gymnasium
weiter mit Privatnachhilfekursen unterstützt. Wie gross die Nachfrage nach diesen
Kursen ist, zeigen die Zahlen aus dem Lernstudio. In der Filiale an der
Stüssistrasse, dem Einzugsgebiet des Schulkreises Zürichberg, ist die Zahl der
Kursteilnehmer in den letzten Jahren um etwa 20 Prozent gestiegen, wie Ursina
Pajarola, Geschäftsführerin der Privatschule, auf Anfrage sagt.
Weshalb
nur wird der Zustrom ans Gymnasium immer grösser, obwohl der Weg über die
Berufslehre und die Berufsmaturität ständig an Bedeutung gewinnt? Selbst in den
USA wird das duale Bildungssystem der Schweiz als Beispiel gelobt und kopiert.
Sowohl Mirella Forster wie Esther Girsberger sind der Meinung, dass es auch
eine Frage der Information ist. Besonders Ausländern sei kaum bekannt, dass man
über eine Lehre und die Berufsschule an der Universität studieren und dabei
erst noch praktische Erfahrung sammeln könne. «Für manche Deutsche, die das
Abitur mit der Matura gleichsetzen, ist ein Leben ohne Gymnasium kaum
vorstellbar», sagt Girsberger.
Entspannter
sieht SP-Kantonsrätin Isabel Bartal die Situation. Auch ihre beiden Söhne haben
die öffentliche Primarschule am Zürichberg gemacht und dann ans Gymnasium
gewechselt. Die Soziologin hat persönlich gute Erfahrungen gemacht. Der
Übertritt ins Gymi sei bei ihren Söhnen «ohne Murks» gegangen. In ihrer
Familie, Bartals Mann ist Architekt, sei allerdings kaum über andere
Bildungswege gesprochen worden. Isabel Bartal ist in Portugal aufgewachsen und
räumt denn auch ein: «Die Berufsbildung ist zwar sehr wichtig, aber ich wäre
ins Schwitzen geraten, wenn ich eines meiner Kinder auf eine Berufslehre hätte
vorbereiten müssen.»
Bei
der hohen Gymiquote im Schulkreis Zürichberg stellt sich auch die Frage nach
dem Stellenwert der Sekundarschule. Auch hier geben die Zahlen Antwort: Vor 15
Jahren gab es am Zürichberg noch über 500 Jugendliche in der öffentlichen
Sekundarschule. Heute sind es noch rund 360 – trotz steigender
Gesamtschülerzahl in der Volksschule.
Lilo
Lätzsch unterrichtet seit über 40 Jahren als Sekundarlehrerin am Zürichberg und
sagt klipp und klar: «Uns gehen langsam die leistungsstarken Schüler verloren.»
Es sei unterdessen sehr anspruchsvoll geworden, mit einer Klasse die Lernziele
zu erreichen.
Der schlechte Ruf der
Sek
Für
sie gibt es drei Gründe für die Abwanderung in die Gymnasien. Erstens haben die
Zürichberg-Kinder sieben öffentliche und mehrere private Gymnasien praktisch
vor der Haustür. Dann nennt Lätzsch die hohe Akademikerdichte im Quartier und
schliesslich den Druck der anderen. «Wenn alle Schulkameraden ans Gymi wollen,
ist es für ein Kind schwierig, einen anderen Weg einzuschlagen.» Ebenso gross
sei der Druck unter den Eltern. Lätzsch erlebt oft Väter oder Mütter, die sich
rechtfertigen müssen, wenn sie ihre Kinder nicht ins Gymi schicken wollen.
Seklehrerin Lätzsch erinnert daran, dass das Langgymnasium einzig für
Ausnahmekönner gedacht ist. Es könne nicht sein, dass 42 Prozent der Kinder zu
dieser Gruppe gehörten: «Auch nicht am Zürichberg.»
Lätzsch
weiss dies aus eigener Erfahrung. Denn jedes Jahr kehren Kinder aus dem Gymi
an die Sekundarschule zurück, weil sie die Probezeit nicht geschafft haben. Die
Rückkehrer seien zwar selten schulisch schwach, doch oft vom Scheitern
gezeichnet. Lätzsch würde es daher begrüssen, wenn die Eintrittshürde ins
Langgymnasium höher wäre.
Schauspielerin
Hanna Scheuring, Direktorin am Bernhard-Theater, ist im Aargau in einem ganz
anderen Schulsystem gross geworden. Sie würde sogar die Abschaffung des
Langgymnasiums begrüssen: «Das würde unsere Sekundarschule stark aufwerten.»
Sie kennt die Sek am Zürichberg. Es herrsche dort eine laute, unkonzentrierte
Stimmung. Das hänge auch mit dem Schulmodell zusammen, kritisiert Scheuring.
Weil die Schülerzahlen am Zürichberg so klein geworden sind, wurden in der Sek
die Niveaus zusammengelegt. A- und B-Schüler sitzen in der gleichen Klasse.
«Das funktioniert nicht», so Scheuring. Sie ist überzeugt: Am Zürichberg wird
der Run aufs Gymi auch wegen des schlechten Rufs der Sek immer stärker.
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