4. März 2016

Binnendifferenzierung wird zur Binnenselektion

Hauptziele des umstrittenen Konzepts des Lehrplan 21 und seines deutschen Pendants, der ebenfalls umstrittenen Gemeinschaftsschule, sind „soziale Gerechtigkeit zu schaffen“ und „Heterogenität zuzulassen“. Heterogenität soll die Chancengleichheit erhöhen und Selektion aus der Schule verbannen. Selektion ist für diese Schulreformer wie Weihrauch für den Teufel. Deshalb wird Heterogenität massiv gefördert (Total-Integration, altersdurchmischtes Lernen AdL, Mehrjahreszyklen, Sammelfächer, Kompetenzen statt Wissen usw.) und alles abgeschafft, was nur irgendwie nach Selektion bzw. äusserer Differenzierung riecht (dreiteiliges Schulsystem, homogene Jahrgangsstufen, Noten, Klassenunterricht, Kleinklassen, Sonderschulen, vielfältige Schularten, Förderkurse usw.).
Binnendifferenzierung wird zur Binnenselektion, Peter Aebersold, 4.3.

Um diese Heterogenität überhaupt möglich zu machen, braucht es millionenteure bauliche Veränderungen, vom gläsernen Grossraumschulzimmer für Binnendifferenzierung, über computergestützte Einzelarbeitsplätze bis zu ganzen Schulhausneubauten. Da äussere Differenzierung (gemeinsamer Klassenunterricht in möglichst leistungshomogenen Jahrgangsklassen) verpönt und wegen der bewusst geschaffenen Heterogenität nicht mehr möglich ist, muss auf Binnendifferenzierung mittels „selbstreguliertem Lernen“ und „Individualisierung“ umgestellt werden, um für jeden einzelnen Schülern individuelle „Zugänge zum Lerninhalt“ und „Lernumgebungen“ bereit stellen zu können.

Die neueste wissenschaftliche Studie der Universitäten Tübingen und Heidelberg (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.2.2016: „Lehrer wie Dompteure im Zirkus“)   zeigt nun aber am Beispiel der umstrittenen Gemeinschaftsschule, dass Chancengleichheit mittels Heterogenität und Binnendifferenzierung nicht zu haben ist. Laut Studie haben es gerade die schwachen Schüler schwer, weil leistungsschwächere Schüler beim Lernen eine stärkere Strukturierung brauchen. Während stärkere Schüler problemlos ihren Wochenplan abarbeiten können und erst am Ende eine Rückmeldung benötigten, seien schwächere Schüler mit der Wahlfreiheit beim Lernen („selbstgesteuertes Lernen“) überfordert.

Die Reformhits „Heterogenität“ und „Individualisierung“ sind viel zeitintensiver als der bewährte Klassenunterricht. Im Gegensatz zu den gängigen Behauptungen haben die „Lernbegleiter“ nicht mehr Zeit, um auf das einzelne Kind eingehen zu können, im Gegenteil. Obwohl die Gemeinschafts- und LP21 Versuchsschulen mit einer ungewöhnlich guten Ausstattung und bei der Lehrerzuweisung bevorzugt werden, sind die „Lernbegleiter“ mit der Bereitstellung der Lernpakete für die individuellen Arbeitsphasen und die verschiedenen Niveaustufen zeitlich derart überfordert, dass einzelne Schulen, ihr vielgerühmtes Coaching-Gespräch mit den Schülern einstellten. Erstaunlicherweise wurde das von Anton Strittmatter, Mitglied der Projektgruppe „Grundlagen für den Lehrplan 21“, schon im Jahre 2010 bestätigt: „Der «Lehrplan 21» geht davon aus, dass die Lehrpersonen wegen den Heterogenitätsbedingungen an Schulen (…)  Heterogenität nie wirklich zu «meistern» vermögen".

Die Studie bestätigt die hohen Leistungsunterschiede und die grosse Belastung der Lehrer durch das „selbstgesteuerte Lernen“. Die „Lernbegleiter“ berichten, dass sie nicht mehr einfach nur unterrichten, altersgerecht lehren und Wissen vermitteln dürfen und fürchten sich vor den Konsequenzen ihrer Kritik. Erstmals erfährt man von „Insidern“ etwas über die schlechten Leistungen und das tiefe Niveau der Gemeinschaftsschulen. Dabei waren Schülern und Eltern in Hochglanzbroschüren bessere Lernergebnisse durch die neuen Gemeinschaftsschulen versprochen worden.

Tatsächlich findet mit den neuen, offenen Lernformen wie dem „selbstgesteuerten Lernen“ eine Binnenselektion ab dem ersten Schultag statt. Die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten zwischen den heterogenen Schülern führen zu einem immer grösseren Schereneffekt und die Niveauunterschiede treten offen zutage, wenn zum Beispiel Fünftklässler noch Schwierigkeiten beim flüssigen Lesen im Deutschen haben. 52 Prozent der Fünftklässler einer Gemeinschaftsschule lagen bei der Lernstandserhebung unter dem erwarteten Niveau. Nur eine Schülerin wies die Fähigkeiten auf, die in der fünften Klasse eigentlich erreicht sein müssen.

Auch wenn Bildungspolitiker, Wirtschaftseliten, Eltern und sogar Lehrer von den angeblichen Vorteilen der neuen Lernformen überzeugt werden können, die Schüler an den Einzelarbeitsplätzen haben ein feines Gespür, wo sie und wo ihre Kameraden mit ihrer Lernleistung stehen. Wenn Schüler in einer heterogenen Grossgruppe tausend Mal feststellen müssen, dass sie nie eine Chance haben, einmal zu den besseren zu gehören, wie das zum Beispiel in einer Kleinklasse möglich gewesen wäre, werden ihre Motivation und ihre Leistungen massiv darunter leiden. Dann kann von Chancengleichheit und höherer Bildungsqualität keine Rede mehr sein.

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