10. März 2016

Bewerten des Charakters

In den vergangenen Wochen wurde Kritik laut am Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver und seiner Idee, mit dem Lehrplan 21 auch überfachliche – also personale und soziale – Kompetenzen zu beurteilen. Angestossen wurde die Diskussion von der «Basler Zeitung»: «Zensuren für Charaktereigenschaften», lautete der Titel. Im Kanton Bern sollten künftig Charaktereigenschaften und persönliche Einstellungen, Gefühlsregungen der Schülerinnen und Schüler oder Ansichten über fremde Religionen und Lebensformen angeblich im Zeugnis beurteilt werden, hiess es. In der «Sonntagszeitung» doppelte Lehrplan-21-Gegner Alain Pichard nach: Diese «psychometrische Vermessung» der Kinder sei «inakzeptabel». Verhalten und Charakter könne man objektiv gar nicht beurteilen. Pulver wehrte sich gegen die Vorwürfe: «Was wir wollen, ist das pure Gegenteil: weniger Vermessung, weniger Beurteilung.» 











Charakterbeurteilung mit LP21 ins Blickfeld gerückt, Bild: Annick Ramp
Keine Noten für den Charakter, NZZ, 10.3. von Valerie Zaslawski


Das Beispiel Bern hat aufgeschreckt. Mit dem Lehrplan 21 wird eine erziehungswissenschaftliche Wende vollzogen – weg von klassischen Lernzielen, hin zu einer Kompetenzorientierung, wobei Kompetenzorientierung die Anwendung von vermitteltem Wissen meint. Dieser Paradigmenwechsel stellt auch die Frage nach der Beurteilung neu. Die Diskussion über das Messen von Leistungen und das Bewerten von fachlichen und insbesondere überfachlichen Kompetenzen birgt viel emotionalen Sprengstoff – auch in Basel-Stadt und im Baselbiet, wo der Lehrplan 21 bereits auf das Schuljahr 2015/16 eingeführt wurde.

Schule als lebendiger Ort
Die beiden Kantone nehmen in der Schweiz damit eine Vorreiterrolle ein. Während der Lehrplan 21 im Landkanton erst auf Primarstufe eingeführt wurde, ist er im Stadtkanton auch auf Sekundarstufe bereits Realität. Der Lehrplan 21 gibt nicht vor, wie die Kompetenzen beurteilt werden müssen. Dies ist Sache der Kantone.

Wie ist die Beurteilung der überfachlichen Selbst- und Sozialkompetenzen in den beiden Basel geregelt?

Sowohl hüben wie drüben wird die Beurteilung der überfachlichen Kompetenzen in der kantonalen Schullaufbahnverordnung festgelegt. Sie wird in Lernberichten und in Selbsteinschätzungsbögen festgehalten und im Standortgespräch mit den Eltern besprochen. Zeugnischarakter haben die Einschätzungen nicht. Charaktereigenschaften würden nicht benotet, sagt Urs Zinniker, Leiter ad interim des Amtes für Volksschulen im Kanton Basel-Landschaft. An der Beurteilungspraxis habe der Lehrplan 21 auf der Primarstufe daher nichts geändert, und auch für die Sekundarstufe sei keine Änderung geplant. Auch Regina Kuratle, Projektleiterin Lehrplan 21 im Kanton Basel-Stadt, bestätigt: «Es darf keine schlechte Note geben, weil sich ein Schüler nicht benehmen kann.»
Die beiden Kantone schreiben nicht vor, welche Werkzeuge zur Einschätzung benutzt werden sollen, empfehlen aber eine Reihe solcher Tools und bieten Weiterbildungen an. An den einzelnen Schulstandorten können sich daher unterschiedliche Beurteilungsmodelle herausbilden. «Die Schule ist ein lebendiger Ort, man kann hier nicht alles vorschreiben», ergänzt Kuratle.

Die rasche Einführung des Lehrplans 21 hat im Kanton Basel-Landschaft von Beginn an zu grösseren Auseinandersetzungen und bildungspolitischen Diskussionen geführt. Insbesondere der ehemalige Bildungsdirektor Urs Wüthrich (sp.) stand in der Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, er wolle die nötigen Schritte noch vor seinem Rücktritt Mitte 2015 vollziehen. Im Kanton Basel-Stadt hingegen geht die Einführung ohne grosse Nebengeräusche über die Bühne. Mit Erziehungsdirektor Christoph Eymann (ldp.) habe man eine starke Figur, die in der Schullandschaft grosse Akzeptanz geniesse, sagt Kuratle.
Wenn auch Charaktereigenschaften in Schulzeugnissen nicht benotet werden, kommt man im Bildungsraum Nordwestschweiz, dem neben den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft auch Solothurn und der Aargau angehören, den Wünschen der Wirtschaft und der Lehrbetriebe nach einem aussagekräftigeren Leistungsausweis doch entgegen. Diese trauen dem Schulzeugnis nämlich kaum und verlangen von Bewerbern oftmals Eignungstests wie den Multicheck oder führen eigene Prüfungen durch.

Ab 2017/18 – im Kanton Basel-Landschaft ist der Entscheid des zuständigen Gremiums noch ausstehend – soll deshalb ein Abschlusszertifikat eingeführt werden, das Schülerinnen und Schüler am Ende der gesamten Volksschule zusätzlich zum regulären Zeugnis erhalten sollen. Dieser interkantonale Leistungsausweis enthält Informationen zu den Fähigkeiten der Lernenden, die für die Berufswelt und weiterführende Schulen relevant sind.

Gespräch vor Indikatoren
Doch die Frage bleibt: Was ist messbar, und was soll überhaupt gemessen werden? Der Baselbieter Lehrerpräsident Roger von Wartburg ist kritisch: «Ich habe Verständnis dafür, wenn Lehrbetriebe wissen möchten, wie es um Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit oder Umgangsformen potenzieller Lehrlinge bestellt ist. Dafür eignet sich aber ein Gespräch zwischen Lehrmeistern und Klassenlehrpersonen viel besser als ein Stapel Blätter, auf denen zig Fachlehrpersonen zahlreiche Indikatoren ankreuzen.»

Sollen Charaktereigenschaften oder Fragen der persönlichen Lebensführung schulisch bewertet werden? «In einem freiheitlichen Staatsgebilde geht das gar nicht», findet von Wartburg.


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