In den vergangenen Wochen wurde Kritik laut am Berner Erziehungsdirektor
Bernhard Pulver und seiner Idee, mit dem Lehrplan 21 auch überfachliche – also
personale und soziale – Kompetenzen zu beurteilen. Angestossen wurde die
Diskussion von der «Basler Zeitung»: «Zensuren für Charaktereigenschaften»,
lautete der Titel. Im Kanton Bern sollten künftig Charaktereigenschaften und
persönliche Einstellungen, Gefühlsregungen der Schülerinnen und Schüler oder
Ansichten über fremde Religionen und Lebensformen angeblich im Zeugnis
beurteilt werden, hiess es. In der «Sonntagszeitung» doppelte
Lehrplan-21-Gegner Alain Pichard nach: Diese «psychometrische Vermessung» der
Kinder sei «inakzeptabel». Verhalten und Charakter könne man objektiv gar nicht
beurteilen. Pulver wehrte sich gegen die Vorwürfe: «Was wir wollen, ist das
pure Gegenteil: weniger Vermessung, weniger Beurteilung.»
Charakterbeurteilung mit LP21 ins Blickfeld gerückt, Bild: Annick Ramp
Keine Noten für den Charakter, NZZ, 10.3. von Valerie Zaslawski
Das Beispiel Bern hat aufgeschreckt. Mit dem Lehrplan 21 wird eine
erziehungswissenschaftliche Wende vollzogen – weg von klassischen Lernzielen,
hin zu einer Kompetenzorientierung, wobei Kompetenzorientierung die Anwendung
von vermitteltem Wissen meint. Dieser Paradigmenwechsel stellt auch die Frage
nach der Beurteilung neu. Die Diskussion über das Messen von Leistungen und das
Bewerten von fachlichen und insbesondere überfachlichen Kompetenzen birgt viel
emotionalen Sprengstoff – auch in Basel-Stadt und im Baselbiet, wo der Lehrplan
21 bereits auf das Schuljahr 2015/16 eingeführt wurde.
Schule als lebendiger Ort
Die beiden Kantone nehmen in der Schweiz damit eine Vorreiterrolle ein.
Während der Lehrplan 21 im Landkanton erst auf Primarstufe eingeführt wurde,
ist er im Stadtkanton auch auf Sekundarstufe bereits Realität. Der Lehrplan 21
gibt nicht vor, wie die Kompetenzen beurteilt werden müssen. Dies ist Sache der
Kantone.
Wie ist die Beurteilung der überfachlichen Selbst- und Sozialkompetenzen
in den beiden Basel geregelt?
Sowohl hüben wie drüben wird die Beurteilung der überfachlichen
Kompetenzen in der kantonalen Schullaufbahnverordnung festgelegt. Sie wird in
Lernberichten und in Selbsteinschätzungsbögen festgehalten und im
Standortgespräch mit den Eltern besprochen. Zeugnischarakter haben die
Einschätzungen nicht. Charaktereigenschaften würden nicht benotet, sagt Urs
Zinniker, Leiter ad interim des Amtes für Volksschulen im Kanton
Basel-Landschaft. An der Beurteilungspraxis habe der Lehrplan 21 auf der
Primarstufe daher nichts geändert, und auch für die Sekundarstufe sei keine
Änderung geplant. Auch Regina Kuratle, Projektleiterin Lehrplan 21 im Kanton
Basel-Stadt, bestätigt: «Es darf keine schlechte Note geben, weil sich ein
Schüler nicht benehmen kann.»
Die beiden Kantone schreiben nicht vor, welche Werkzeuge zur
Einschätzung benutzt werden sollen, empfehlen aber eine Reihe solcher Tools und
bieten Weiterbildungen an. An den einzelnen Schulstandorten können sich daher
unterschiedliche Beurteilungsmodelle herausbilden. «Die Schule ist ein
lebendiger Ort, man kann hier nicht alles vorschreiben», ergänzt Kuratle.
Die rasche Einführung des Lehrplans 21 hat im Kanton Basel-Landschaft
von Beginn an zu grösseren Auseinandersetzungen und bildungspolitischen
Diskussionen geführt. Insbesondere der ehemalige Bildungsdirektor Urs Wüthrich
(sp.) stand in der Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, er wolle die nötigen Schritte
noch vor seinem Rücktritt Mitte 2015 vollziehen. Im Kanton Basel-Stadt hingegen
geht die Einführung ohne grosse Nebengeräusche über die Bühne. Mit
Erziehungsdirektor Christoph Eymann (ldp.) habe man eine starke Figur, die in
der Schullandschaft grosse Akzeptanz geniesse, sagt Kuratle.
Wenn auch Charaktereigenschaften in Schulzeugnissen nicht benotet
werden, kommt man im Bildungsraum Nordwestschweiz, dem neben den Kantonen
Basel-Stadt und Basel-Landschaft auch Solothurn und der Aargau angehören, den
Wünschen der Wirtschaft und der Lehrbetriebe nach einem aussagekräftigeren
Leistungsausweis doch entgegen. Diese trauen dem Schulzeugnis nämlich kaum und
verlangen von Bewerbern oftmals Eignungstests wie den Multicheck oder führen
eigene Prüfungen durch.
Ab 2017/18 – im Kanton Basel-Landschaft ist der Entscheid des
zuständigen Gremiums noch ausstehend – soll deshalb ein Abschlusszertifikat
eingeführt werden, das Schülerinnen und Schüler am Ende der gesamten
Volksschule zusätzlich zum regulären Zeugnis erhalten sollen. Dieser
interkantonale Leistungsausweis enthält Informationen zu den Fähigkeiten der
Lernenden, die für die Berufswelt und weiterführende Schulen relevant sind.
Gespräch vor Indikatoren
Doch die Frage bleibt: Was ist messbar, und was soll überhaupt gemessen
werden? Der Baselbieter Lehrerpräsident Roger von Wartburg ist kritisch: «Ich
habe Verständnis dafür, wenn Lehrbetriebe wissen möchten, wie es um
Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit oder Umgangsformen potenzieller Lehrlinge
bestellt ist. Dafür eignet sich aber ein Gespräch zwischen Lehrmeistern und
Klassenlehrpersonen viel besser als ein Stapel Blätter, auf denen zig
Fachlehrpersonen zahlreiche Indikatoren ankreuzen.»
Sollen Charaktereigenschaften oder Fragen der persönlichen Lebensführung
schulisch bewertet werden? «In einem freiheitlichen Staatsgebilde geht das gar
nicht», findet von Wartburg.
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