21. Januar 2016

Optimierungswahn bei Kindern

Überengagiert, ehrgeizig und mit einer immens hohen Erwartungshaltung gegenüber den eigenen Kindern. Ist von heutigen Eltern die Rede, beschreiben Lehrer und Psychologen Mütter und Väter oft als extrem fordernd; Eltern als forsche Optimierer. Von Druck wird gesprochen, von fixen Vorstellungen, was aus dem Zweitklässler mal werden soll, und von Förderstunden ohne Ende. «Das Problem sind die Eltern» titelte in diesem Zusammenhang die «SonntagsZeitung» vergangenes Jahr. Und im «Spiegel» konnte man im Report «Du bist Mozart!»lesen: «Ein penetranter Typus Eltern breitet sich aus. Mütter und Väter, die ihre Kinder für kleine Genies halten und deren Schwächen mithilfe von Anwälten, Ärzten und Psychologen bekämpfen.»













Keine Lust zum Lernen - die intellektuelle Leistungsfähigkeit ist begrenzt, Bild: Pink Sherbet
Wenn das Kind "nur" Durchschnitt ist, Mamablog Tages Anzeiger, 21.1. von Gabriela Braun


Es finden sich darin weitere schauderhafte Sätze wie «Wenn Kindheit zur Krankheit wird» oder: «Es gibt Eltern, die Ärzte drängen, ihren Kindern Therapien zu verordnen, um sie von schlechten Schulnoten zu heilen.» Sätze wie diese bleiben haften. Was ist davon zu halten? Stimmt es, was Lehrer und Psychologen erzählen? Falls ja, welche Folgen haben die übermotivierten Eltern für die Kinder?

Der Zürcher Psychologe Roland Käser arbeitet seit Jahrzehnten im schulpsychologischen Dienst. Er bestätigt die oben beschriebene Tendenz. Der erfahrene Psychologe klärt Schulkinder ab und berät Familien. Er muss «den Eltern oft die Realität aufzeigen und ihnen Mut machen, das Unabdingbare zu akzeptieren.» Sprich: Roland Käser macht den Eltern häufig klar, dass ihr Sohn, ihre Tochter, kognitiv gar nicht in der Lage ist, die von ihnen erwarteten Ziele zu erreichen, wie etwa einen Übertritt ins Gymnasium. Viele Mütter und Väter könnten das kaum akzeptieren, sagt Käser, «denn sie gehen davon aus, dass alles irgendwie optimierbar ist. Sie glauben, sie brauchen für das Kind nur den richtigen Kurs zu buchen und fähige Experten beizuziehen. Doch Fakt ist: Die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Kinder ist oft begrenzt.»

Um die kognitiven Grenzen eines Kindes zu erkennen, macht Roland Käser in der schulpsychologischen Praxis häufig Intelligenztests mit ihnen. Das habe sich bewährt, er arbeite gerne mit dieser Methode – auch wenn gewisse Kollegen sie kritisieren würden. Die Resultate eines IQ-Tests zeigten das kognitive Potenzial auf und die Familie könne sich damit auseinandersetzen. Es erlaube den Eltern, ihr Kind besser wahrzunehmen und realistischer einzuschätzen. Sehe man beispielsweise, dass ein Schüler oder eine Schülerin einen Intelligenzquotienten von nur 70 habe, sei die Ausgangslage klar. Die Eltern müssten sich in einem solchen Fall von ihren hochgesteckten Zielen verabschieden und sich realistische Ziele setzen. «Das kann wehtun», sagt Käser. «Für viele Eltern ist dies verständlicherweise eine sehr belastende Diagnose.»

Der Schulpsychologe sagt, er habe Verständnis, wenn Eltern wollten, dass es ihrem Kind «gut» gehe. Doch was heisst das? Wohlstand, eine Karriere, Prestige, Zufriedenheit? Roland Käser wünscht, dass Eltern entspannt genug sind, gegenüber dem Kind offen zu bleiben, «damit es seinen Möglichkeiten entsprechend das Bestmögliche erreicht.» Er verweist auf die vielfältigen Bildungswege und deren zahlreiche Möglichkeiten; auch dies ein wichtiger Punkt in Elterngesprächen.

Neu ist das Phänomen des Optimierungswahns bei Kindern nicht: Roland Käser schrieb schon vor dreissig Jahren in Artikeln darüber, dass «durch die Machbarkeitseuphorie der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten bei Eltern auf ein unrealistisches Mass heranwachsen» könne. Kinder sollen etwas Besonderes sein oder werden, aber auf keinen Fall «nur» Durchschnitt.


Auf die Frage, was Eltern tun können, um ihre Kinder zu unterstützen, sagt der Psychologe: Strukturen und Vorgaben im Alltag schaffen – und diese auch einhalten. «Das ist sehr wichtig.» Das betreffe zum Beispiel den Umgang mit Hausaufgaben, Bildschirmzeiten, Abwechslung von Zeiten der Ruhe und Aktivität, Sozialkontakte in Jugendgruppen und Sportvereinen. «Denn die Hirnentwicklung der Kinder wird stark durch die Umwelt mit geprägt.»

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