22. Januar 2016

Bildung verkommt zu Anpassungsleistung

Zuerst ein Geständnis: Das Ausfüllen von Frage­bögen ist mir ein Gräuel! Teilt die Flight Attendant beim Anflug Formulare aus mit der Bitte, diese sorgfältig auszufüllen, dann verlange ich zwei! Konzentriert schreibe ich dann meinen Namen auf die oberste Zeile. Ich merke zu spät, dass er in die untere Zeile gehört. Beim Abfragen von ­Meinungen geht es mir gleich. Oft kommt mir mehr als eine Antwort in den Sinn. Was soll ich anstreichen bei der Frage: «Was ist Ihre Meinung bezüglich Minderheiten?», wenn alle vorge­gebenen Antworten stimmen könnten? Wenn standardisierte Outputs geliefert werden müssten, rebelliert mein Gehirn. Wehrt es sich gegen die Einschränkung des Denkraums? Als Schüler hatte ich das Glück, dass nur selten solche ­Anpassungsleistungen verlangt wurden. Multiple Choice war nicht verbreitet. Empathische Lehrpersonen testeten im Dialog und unter Einsatz verschiedenster Mittel meine Fähigkeiten. Viele wollten nicht nur hören, was sie vermittelt hatten, sondern wie der Stoff weiterentwickelt wurde.
Schulen sind keine Trainingsanstalten, Basler Zeitung, 22.1. von Allan Guggenbühl

Auch heute erleben Tausende von Schülern das formalisierte Abfragen ihrer Fähigkeiten als geisttötend. Sie sehen in der Schule nicht eine Trainingsanstalt, sondern einen Erfahrungs- und Erlebnisraum, in dem experimentiert, fantasiert, gedacht, gelacht, musiziert, Freundschaften geschlossen und Streiche gespielt werden können. Ihre Leistungen erleben sie als Nebenprodukt des facettenreichen Schulgeschehens.

Diese Gewichtung des Schulgeschehens ist heute unvereinbar mit den offiziellen Zielsetzungen der Schule. Der Output der Schüler soll ins Zentrum gerückt werden. «Large Scale ­Assessment» steht bei der Schweizerischen ­Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) auf dem Programm. Mithilfe von einheit­lichen Tests soll der konkrete Output der Schweizer Schüler erfasst werden. Die Grundlage sind die über 2000 Kompetenzen, die im Lehrplan 21 definiert werden. Die Resultate ermöglichen einen Vergleich. Einheitlichkeit wird angestrebt, damit Defizite identifiziert und sich Bildungs­experten einbringen können. Der konkrete Output wird zum Kriterium der Schulqualität. Bei einem Lesetext geht es dann nicht um Inspiration, sondern die korrekte Wiedergabe des Inhaltes. Argumentiert wird mit den angeblichen ­Bedürfnissen der Wirtschaft.

Leistungserfassungen sind wichtig, doch die Ausrichtung auf aufgabenorientierte Outputs bringt die Gefahr mit sich, dass Bildung zu einer Anpassungsleistung verkommt. Kinder sind jedoch denkende Wesen, die sich über Eigenleistungen profilieren wollen. Die kreative Umwandlung des Stoffes gehört dazu. Diese Kernfähigkeit wird vor allem in direkten Kontakten gefördert. Die Lehrpersonen haben den Freiraum, die ­Leistungen vor dem Hintergrund der Prägungen und Interessen der Schüler zu bewerten. Unerwartete Antworten und ungewöhnliche ­Leistungen sind möglich. Messungen durch ­Ausseninstanzen beschränken sich auf standardisierte Antworten auf Fragen, die sich oft auf ein Detail des Schulgeschehens beziehen. Schulen leisten mehr als die Vermittlung konkreter ­Aufgabenbewältigungskompetenzen. Sie ­dienen der Menschenbildung. Innere und äussere ­Prozesse sind wichtig. In einem halb chaotischen Umfeld begeistern Lehrpersonen ihre Schüler für Themen und Kulturprodukte. Wenn der messbare Output als Kernleistung definiert wird, führt dies zu einer problematischen Verschiebung des Wesens der Schule. Rankings sind die Folge, auch wenn diese offiziell heftig umstritten sind. Lehrpersonen werden ihren Unterricht auf das Bestehen in Tests ausrichten, statt Gesamtförderung zu betreiben.

Allan Guggenbühl ist Psychologe und Autor des Buches ­«Vergessene Klugheit – Wie Normen uns am Denken hindern».


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen