Zuerst ein Geständnis: Das
Ausfüllen von Fragebögen ist mir ein Gräuel! Teilt die Flight Attendant beim
Anflug Formulare aus mit der Bitte, diese sorgfältig auszufüllen, dann verlange
ich zwei! Konzentriert schreibe ich dann meinen Namen auf die oberste Zeile.
Ich merke zu spät, dass er in die untere Zeile gehört. Beim Abfragen von Meinungen
geht es mir gleich. Oft kommt mir mehr als eine Antwort in den Sinn. Was soll
ich anstreichen bei der Frage: «Was ist Ihre Meinung bezüglich Minderheiten?»,
wenn alle vorgegebenen Antworten stimmen könnten? Wenn standardisierte Outputs
geliefert werden müssten, rebelliert mein Gehirn. Wehrt es sich gegen die
Einschränkung des Denkraums? Als Schüler hatte ich das Glück, dass nur selten
solche Anpassungsleistungen verlangt wurden. Multiple Choice war nicht
verbreitet. Empathische Lehrpersonen testeten im Dialog und unter Einsatz
verschiedenster Mittel meine Fähigkeiten. Viele wollten nicht nur hören, was
sie vermittelt hatten, sondern wie der Stoff weiterentwickelt wurde.
Schulen sind keine Trainingsanstalten, Basler Zeitung, 22.1. von Allan Guggenbühl
Auch heute erleben
Tausende von Schülern das formalisierte Abfragen ihrer Fähigkeiten als
geisttötend. Sie sehen in der Schule nicht eine Trainingsanstalt, sondern einen
Erfahrungs- und Erlebnisraum, in dem experimentiert, fantasiert, gedacht,
gelacht, musiziert, Freundschaften geschlossen und Streiche gespielt werden
können. Ihre Leistungen erleben sie als Nebenprodukt des facettenreichen
Schulgeschehens.
Diese Gewichtung des
Schulgeschehens ist heute unvereinbar mit den offiziellen Zielsetzungen der
Schule. Der Output der Schüler soll ins Zentrum gerückt werden. «Large Scale Assessment»
steht bei der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
(EDK) auf dem Programm. Mithilfe von einheitlichen Tests soll der konkrete
Output der Schweizer Schüler erfasst werden. Die Grundlage sind die über 2000
Kompetenzen, die im Lehrplan 21 definiert werden. Die Resultate ermöglichen
einen Vergleich. Einheitlichkeit wird angestrebt, damit Defizite identifiziert
und sich Bildungsexperten einbringen können. Der konkrete Output wird zum
Kriterium der Schulqualität. Bei einem Lesetext geht es dann nicht um
Inspiration, sondern die korrekte Wiedergabe des Inhaltes. Argumentiert wird
mit den angeblichen Bedürfnissen der Wirtschaft.
Leistungserfassungen sind
wichtig, doch die Ausrichtung auf aufgabenorientierte Outputs bringt die Gefahr
mit sich, dass Bildung zu einer Anpassungsleistung verkommt. Kinder sind jedoch
denkende Wesen, die sich über Eigenleistungen profilieren wollen. Die kreative
Umwandlung des Stoffes gehört dazu. Diese Kernfähigkeit wird vor allem in
direkten Kontakten gefördert. Die Lehrpersonen haben den Freiraum, die Leistungen
vor dem Hintergrund der Prägungen und Interessen der Schüler zu bewerten.
Unerwartete Antworten und ungewöhnliche Leistungen sind möglich. Messungen
durch Ausseninstanzen beschränken sich auf standardisierte Antworten auf
Fragen, die sich oft auf ein Detail des Schulgeschehens beziehen. Schulen
leisten mehr als die Vermittlung konkreter Aufgabenbewältigungskompetenzen.
Sie dienen der Menschenbildung. Innere und äussere Prozesse sind wichtig. In
einem halb chaotischen Umfeld begeistern Lehrpersonen ihre Schüler für Themen
und Kulturprodukte. Wenn der messbare Output als Kernleistung definiert wird,
führt dies zu einer problematischen Verschiebung des Wesens der Schule.
Rankings sind die Folge, auch wenn diese offiziell heftig umstritten sind.
Lehrpersonen werden ihren Unterricht auf das Bestehen in Tests ausrichten,
statt Gesamtförderung zu betreiben.
Allan Guggenbühl ist
Psychologe und Autor des Buches «Vergessene Klugheit – Wie Normen uns am
Denken hindern».
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