"Wann machen Sie wieder einmal Ihren begnadeten Frontalunterricht"?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.1. von Rainer Werner
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Kluge Schüler helfen
Lehrern manchmal auf die Sprünge. Als ich an einer Berliner Gesamtschule
unterrichtete, öffnete mir eine Schülerin die Augen darüber, was im Unterricht
dieser Schule im Argen liegt. Sie fragte mich zum Beginn der Stunde: “Müssen
wir heute schon wieder das machen, was wir machen wollen?” – Hintergrund dieser
erstaunlichen Frage war die Angewohnheit einiger Lehrer, schwierige Klassen
dadurch “ruhig zu stellen”, dass sie ihnen eine “stille Selbstbeschäftigung” –
natürlich mit dem laufenden Stoff – gestatteten. Dieser gönnerhafte Verzicht
auf Unterricht war in Wahrheit eine Form der Kapitulation vor den
disziplinarischen Schwierigkeiten, die in Schulklassen immer wieder auftreten –
auch am Gymnasium. Diese Lehrer gingen selbstverständlich von der Annahme aus,
den Schülern dadurch einen Gefallen zu tun, dass sie ihnen die Konfrontation
mit dem anstrengenden Stoff ersparten. Allzu oft erweckt das aufmüpfige Gebaren
der Schüler, der Gestus des hinhaltenden Widerstandes den Anschein, sie wollten
nur eines: das Lernen vermeiden. Das mag für einige Schüler in einer Klasse
durchaus zutreffen, keineswegs aber für die Mehrheit. Die aufgeweckte
Schülerin, die diesen bemerkenswerte Satz sagte, sprach für diejenigen, die
etwas lernen wollten und die von der Lehrkraft zurecht erwarteten, dass sie in
der Lage ist, eine ruhige Lernatmosphäre herzustellen, auch wenn es einer
Kraftanstrengung bedarf und mit Konflikten verbunden ist.
Mir wurde durch die Frage der
Schülerin auch klar, dass Schüler oft hellsichtige Beobachter dessen sind, was
sie täglich im Unterricht erleben. Es ist ihnen keineswegs egal, was die Lehrer
vor ihren Augen veranstalten. Sie haben ein feines Gespür dafür, ob sie beim
Geschichtslehrer etwas lernen oder ob er nur mit ihnen plaudert, ob der
Mathelehrer die Rechenoperationen, die er an die Tafel schreibt, auch
verständlich erklären kann. An einem Berliner Gymnasium erlebte ich eine
erstaunliche Neuerung: Die Schüler durften in altersgerechten Fragebögen ihre
Lehrer bewerten. Ein häufig geäußerter Kommentar lautete: “Bei Herrn Krause /
Frau Lehmann lernt man nichts.” – Die Schüler wollen lernen, und wenn sie
erleben, dass der Lernstoff unverstanden an ihnen vorbeirauscht, empfinden sie
das als echte Strafe. Für die Lehrkraft ist eine solche Aussage ein Urteil über
mangelnde Professionalität.
Auf Klassenfahrten unterhalten sich
Schüler sehr gerne über ihre Lehrer. Wenn die jugendtypischen Themen wie die
neueste Mode oder die gerade angesagte Musik abgehakt sind, reden die Schüler
ausgiebig und mit Hingabe über die Vorzüge und die Nachteile ihrer Lehrer.
Dabei spielen oft die Aspekte eine Rolle, die mit der Persönlichkeit des
Lehrers zusammenhängen. Denn die Akzeptanz, die Schüler einem Lehrer
entgegenbringen, macht sich vor allem an Persönlichkeitsmerkmalen fest, wozu
Kleidung, Sprechweise und die Körpersprache gehören. Bei einem neuen Lehrer
erkennen sie blitzschnell, ob eine selbstsichere Person vor ihnen steht oder ein
“schwankendes Rohr im Wind”. Die Ausstrahlung, die eine Person besitzt, wird
von den Schülern spontan und intuitiv wahrgenommen und in ein Urteil
“übersetzt”: “Wow, das ist aber ein starker Typ!” oder “Oh weh, da haben sie
uns aber ein zartes Pflänzchen vorgesetzt”. Nach meiner Erfahrung unterschätzen
Lehrer gerne diese “weichen Faktoren” ihrer Profession, weil sie auf die Kraft
der Regeln und auf ihre Autorität vertrauen, die schon alles richten werden.
Sie begeben sich dann freilich des Erfolges, den sie als Lehrperson haben
könnten, wenn sie sich ernsthaft um eine sympathische Außenwirkung bemühten.
Seit einigen Jahren widmen sich die
Schulen dieser Republik mit Eifer der “pädagogischen Schulentwicklung”. Dabei
lernen die Lehrer, “moderne”, “schülerzugewandte” Lernmethoden anzuwenden.
Diese werden dann wochenlang in allen Klassen erprobt. Der öffentliche Diskurs
verlangt die Abkehr von lehrerdominierten Lehrformen, vor allem vom
Frontalunterricht. Auch hier gab mir eine Schülerin zu denken. Nach einer längeren
Phase der Gruppenarbeit im Deutsch-Leistungskurs fragte mich die aufgeweckte
Abiturientin: “Wann machen Sie denn mal wieder Ihren begnadeten
Frontalunterricht?” – Lässt man die Koketterie, die in der Frage mitschwingt,
beiseite, formuliert die Schülerin ein ernsthaftes Anliegen. Das klug geführte
Unterrichtsgespräch wird von den Schülern als besonders effektive, informative,
sie keineswegs bevormundende Lernform wahrgenommen. Die Gruppenarbeit erleben
sie hingegen oft als ineffektiv und chaotisch. Vor allem dann, wenn im Kurs
oder in der Klasse zuvor nicht eisern an den Spielregeln der Gruppenarbeit
gefeilt worden ist. Vor allem gute Schüler hadern mit der Gruppenarbeit, weil
sich dabei häufig die Gewohnheit einschleicht, dass sie die Hauptlast der Arbeit
zu tragen haben, während die schwächeren Schüler als Trittbrettfahrer an ihren
Ergebnissen partizipieren. Ich habe deshalb mitunter die leistungsstarken
Schüler in einer Gruppen versammelt und ihnen auch anspruchsvollere Aufgaben
gegeben. Dies hat mir allerdings von einigen Kollegen den Vorwurf der sozialen
Selektion eingebracht.
Es ist ein gerne gepflegtes Vorurteil,
das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch sei identisch mit dem notorischen
Monologisieren, mit dem die Studienräte in den 1950er und 1960er Jahren ihre
Schüler traktiert haben. Weit gefehlt. Das Unterrichtsgespräch ist eine
anspruchsvolle Lernmethode, die, wenn sie vom Lehrer beherrscht wird, zu
spannenden und lehrreichen Unterrichtsstunden führen kann. Die Betonung liegt
durchaus auf dem Wort “Gespräch”. Der Lehrer muss die Schüler im Dialog an den
Lernstoff heranführen, sie an den Überraschungen und Zumutungen teilhaben
lassen, die er bereit hält. Für den großen Germanisten Eberhard Lämmert ist das
Gespräch die “menschenbildende und menschenbindende Wechselrede”. Die beiden
Adjektive kann man ruhig wörtlich nehmen: Ein klug geführtes
Unterrichtsgespräch “bildet” und “(ver)bindet”. Kognitives (Wissen) und
Affektives (soziale Tugenden) gehen dabei Hand in Hand.
Ich kann mich noch gut an eine
Deutsch-Stunde in einem Oberstufenkurs erinnern. Ich präsentierte den Schülern
das Gedicht “Der Mensch” von Matthias Claudius. Die Schüler tauchten ein in die
für sie befremdliche Welt von Empfindsamkeit und naiver Frömmigkeit: “Empfangen
und genähret / Vom Weibe wunderbar”. Das Wunder der Entstehung eines Kindes
kommt zur Sprache. Die Diskussion wird erregter. Ist die Retortenzeugung von
Kindern auch noch ein Wunder? Darf der Mensch eigentlich in die Geschehnisse
der Schöpfung eingreifen? Der Text von Claudius verstört durch seine
unerschütterliche Ruhe und Glaubensgewissheit: “Dann legt er sich zu seinen
Vätern nieder / Und er kömmt nimmer wieder”. Der Blickwinkel der Diskussion
weitet sich. Die letzten Dinge kommen zur Sprache. Schüler im Alter von 17 / 18
Jahren lieben den spekulativen Diskurs. Sie bringen alles ein, was zum Thema
Tod gerade in Umlauf ist: Fernöstlich-Esoterisches, Naturwissenschaftliches,
Christliches, auch Persönliches. Das Gedicht hat den Horizont geöffnet für eine
Diskussion mit philosophischem Gehalt. Glaubt jemand im Ernst, dieses
Lehrer-Schüler-Gespräch hätte die Schüler “dominiert”, sie gar “bevormundet”?
Lehrer haben nun einmal einen großen fachlichen Vorsprung. Es kommt darauf an,
ihn im Sinne der Schüler einzusetzen. Dafür ist das Unterrichtsgespräch sehr
gut geeignet.
Hätte man die Schüler, wie es bei der
Methode des “individuellen Lernens” üblich ist, mit diesem Gedicht und einigen
Erschließungsfragen allein gelassen, hätte die Mehrzahl der Schüler die oben
geschilderte Tiefenschicht des Gedichts gar nicht erschließen können. Was sich
in einem Gespräch oder einer Diskussion an gemeinsam gewonnenen Erkenntnissen
ergibt, lässt sich durch die schriftliche Beantwortung von Textfragen nie
erreichen. Es gehört zu den traurigen Folgen dieser vermeintlich
schülerfreundlichen Methode, dass sie die Schüler um die Bildungserlebnisse
betrügt, die sich nur im intellektuellen Gespräch über einen Gegenstand
gewinnen lassen.
Mit einem Referendar, den ich als
Mentor betreute, hatte ich einmal eine interessante Diskussion. Er fragte mich,
ob ich ihm für seine Deutsch-Lehrprobe in einer zehnten Klasse einen guten Text
empfehlen könne. Ich meinte, “Der Nachbar” oder “Eine kaiserliche Botschaft”
von Franz Kafka seien gute, altbewährte Texte, die bei Schülern wegen ihres
existentiellen Gehalts gut ankommen und mit denen man auch ihr Textverständnis
herausfordern kann. Der Referendar blickte mich etwas verzagt an und meinte
dann, der Fachseminarleiter wolle von ihm “Lernen an Stationen” sehen. Darauf
sagte ich ironisch, dann könne er Kafka vergessen. Kafkas Texte ließen sich
nicht an Stationen lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof.
Es ist modisch geworden, die Methode
des Unterrichtens wichtiger zu nehmen als die zu vermittelnden Inhalte. Früher
fragte ein Lehrer, wenn er eine Deutschstunde für eine 8. Klasse plante:
“Welcher Text ist für Schüler, die sich gerade in der Pubertät befinden,
geeignet, um ihnen ein wenig Orientierung zu geben?” – Heute fragt man: “Welche
Kompetenzen sind im Kompetenzraster noch abzuarbeiten?” – In der
Pädagogikabteilung von Buchhandlungen stößt man zu Hauf auf Titel wie
“Methodentraining”, “Lerntraining”, “Abiturtraining”, “Kompetenzen trainieren”.
Man fragt sich, ob man nicht aus Versehen in der Sportabteilung gelandet ist.
Nach meiner Erfahrung verändert die
Kompetenzorientierung die Sicht auf den zu planenden Unterricht. Die Stoffe,
die schwierig zu erschließen sind, werden gerne “geopfert”, wenn sie sich nicht
mit einer der gängigen Kompetenzen vermitteln lassen. Leider gehen dabei auch
die Stoffe verloren, die bei den Schülern auf Begeisterung stoßen könnten.
Schüler für den Lernstoff zu entflammen, ist das Erfolgsrezept eines guten
Unterrichts. Ein langweiliger Unterricht ist für Schüler oft das Schlimmste, was
sie in der Schule erleben. Sie leiden darunter und fangen an, den Lehrer als
“Schlafpille” zu hassen. Deshalb ist es bedauerlich, dass das formale Prinzip
der Kompetenzorientierung dazu beiträgt, die Spannungsmomente im Unterricht,
die durch den Lehrstoff gegeben sein könnten, abzutöten.
Schüler fordern einen spannenden und
interessanten Unterricht oft ein. Da sie mit den Parallelklassen bestens
vernetzt sind, erfahren sie, welche Texte die anderen Klassen in Deutsch gerade
lesen und wie der Geschichtsunterricht verläuft. Dann häufen sich Fragen wie:
“Warum machen wir nicht auch Rollenspiele zum Wartburgfest wie die 8 c bei
Herrn Weber?” oder “Frau Müller liest in der 9 b die `Schachnovelle´. Die soll
sehr spannend sein. Lesen wir das Buch auch?”. Damit sich gute
Unterrichtskonzepte in der Schule verbreiten, führte das oben schon erwähnte
Gymnasium eine “revolutionäre” Neuerung ein: das offene Klassenzimmer. Lehrer
wurden angehalten, spannende Stunden im Lehrerzimmer anzukündigen und die
Kollegen dazu einzuladen. So erlebte ich – fachfremd – eine besonders pfiffige
Physikstunde: 8. Klasse: Das Prinzip des Auftriebs, demonstriert an
Ostereiern. Die Lehrerin stellte drei mit Flüssigkeit gefüllte Glaszylinder auf
das Lehrerpult. Dann gab sie unterschiedlich gefärbte Ostereier
hinein. Das rote Ei sank bis auf den Grund, das gelbe verharrte in der Mitte
und das blaue blieb an der Oberfläche schweben. Die Schüler rätselten, warum
sich die Eier so verhielten. Nach vielen Irrwegen („Es liegt an der Farbe“) kam
ein Schüler auf die richtige Idee: Es liegt an dem unterschiedlichen Zustand
der Flüssigkeiten. Der Rest der Stunde war klassische Physik mit Formeln und
Rechenoperationen. Die fünf „Gäste“ aus dem Kollegium waren begeistert, weil
sie etwas erlebt haben, was jeden Unterricht bereichert: eine originell
aufbereitete Problemstellung und ein klug geführtes Unterrichtsgespräch. Die
Schüler waren stolz, dass “ihre” Physiklehrerin einige “Fans” aus dem Kollegium
angelockt hat. Nach meiner Erfahrung schlummert das größte Qualitätspotential
unserer Schulen in der fachlich-methodischen Verbesserung des Unterrichts. Dazu
brauchen wir keine neuen Schulformen und keine didaktischen “Erfindungen”. Wir
brauchen nur leidenschaftliche und kreative Lehrer.
Guter Unterricht lebt aber nicht nur
von seinen spannenden Momenten. Schüler lieben es auch, mit geistigen
Herausforderungen konfrontiert zu werden. Sie dabei zu überfordern ist allemal
besser, als sie mit flauen Inhalten zu abzuspeisen. In meinem Deutschunterricht
habe ich gerne solche Texte besprochen, von denen ich annahm, dass sie für die
geistige Reifung junger Menschen unverzichtbar sind. Dabei ließ ich mich von
dem Vorsatz leiten: Inhalt vor Methode. Geistiger Mehrwert vor Kompetenz. Das
Gedicht “An den Mond” von Johann Wolfgang von Goethe (“Füllest wieder Busch und
Tal / Still mit Nebelglanz…”) war für mich immer erste Wahl. Zum einen ist es
eines der wertvollsten Gedichte Goethes aus seiner klassischen Periode, erfüllt
also einen hohen literarischen Anspruch. Zum anderen ist es makellos schön,
vollendet in Gehalt, Form und sprachlicher Gestalt – es hat also eine
ästhetische Qualität. Zum dritten enthält es eine Botschaft, die jungen
Menschen auch in unserer modernen Zeit etwas Wichtiges vermitteln kann: Ein
erfülltes Leben gibt es auch jenseits des großen Weltgetriebes (“Selig, wer
sich vor der Welt / Ohne Hass verschließt…”). Das Gedicht bietet also
Sinnstiftung und geistige Orientierung. Wäre es wirklich vertretbar, eine
solche Kostbarkeit unter den Tisch fallen zu lassen, weil sie wegen ihrer
schwierigen Erschließbarkeit den “schülerzugewandten Lehrmethoden” und der
“Kompetenzorientierung” widerstrebt? Man muss es sich vergegenwärtigen: Gerade
das, was die Qualität unserer klassischen Texte ausmacht, ihre poetische
Codierung, erweist sich als Hindernis für ihre Behandlung im Unterricht
“moderner” Prägung.
Wenn man als Lehrer – wie ich – schon
länger im Geschäft ist, hat man viele didaktische Moden kommen und gehen sehen.
Dabei stellt man immer wieder beruhigt fest, dass das eigentliche Anliegen der
Lehrertätigkeit sich nie verändert: Schulische Erziehung und Bildung dienen
dazu, dem Kind die wunderbare Welt des Wissens zu erschließen und ihm das Tor
zur Welt der Erwachsenen zu öffnen. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass
der Lehrer authentisch und glaubhaft für das steht, was er den Schülern
vermittelt. Ich habe mich gerne von der “Erlaubnis” des Pädagogen Jochen Grell
leiten lassen: “Du darfst direkt unterrichten, auch die ganze Klasse auf
einmal. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du Schüler belehren
willst. Die Schule ist ja erfunden worden, damit man nicht jedes Kind einzeln
unterrichten muss.”
Rainer Werner ist Gymnasiallehrer für
Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Autor des Buches “Lehrer machen
Schule”.
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