12. Januar 2016

Mehr Menschlichkeit mit Flüchtlingskindern

Unter den Flüchtlingen, die in die Schweiz kommen, sind zunehmend Kinder und Jugendliche. Das stellt die Schulen vor besondere Herausforderungen – auch finanziell.
Sie sind auf der Flucht vor Verfolgung, Gewalt und Krieg. Im November ersuchten in der Schweiz rund 5700 Menschen um Asyl. Das sind 1000 mehr als im Monat zuvor. Unter den Asylsuchenden sind auch viele Kinder und Jugendliche. «Sie alle müssen in die Schule integriert werden», sagt Beat W. Zemp. Der Zentralpräsident des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz ist sich der Schwierigkeit dieses Auftrags wohl bewusst. Er plädiert für mehr Menschlichkeit im Umgang mit den besonders Schutzbedürftigen.
























Zuflucht: Die Schulen sind gefordert, Coopzeitung, 12.1. von Masa Diethelm

Was bedeutet der Flüchtlingsstrom für die Schulen?
Das ist eine grosse Herausforderung für das Bildungssystem. Die Lebenswirklichkeiten der Kinder und ihrer Familien sind ja jetzt schon sehr unterschiedlich. Nun kommt mit den Flüchtlingskindern eine neue Dimension dazu. Viele von ihnen kommen aus Kriegsgebieten, in denen sie kaum eine Schule besucht haben. Es hat aber auch syrische Jugendliche darunter, die eine sehr gute Ausbildung haben. Neu ist zudem die rasch steigende Anzahl von Flüchtlingskindern, die alleine, also ohne Eltern, unterwegs sind. Diese unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) sind eine grosse Herausforderung.

Viele der Kinder und Jugendlichen sind traumatisiert von den Ereignissen im Herkunftsland.
Ja, das ist furchtbar. Die unbegleiteten Flüchtlingskinder sind davon besonders betroffen. Wir reden hier von 12- oder 13-jährigen Mädchen und Jungen, die während Monaten ganz alleine unterwegs waren. Viele haben die schrecklichsten Dinge durchlitten, Vergewaltigungen und Gewaltanwendungen erlebt. Manche mussten mitansehen, wie ihre Eltern getötet wurden und sind der-massen traumatisiert, dass sie nicht mehr sprechen. Diese Kinder muss man nicht nur schulisch, sondern auch psychisch und sozial integrieren.

Wie geht man in der Praxis auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder ein?
Die kriegstraumatisierten Kinder kommen in spezielle Kleinklassen. Diese wurden ja im Zuge der Integration abgeschafft und werden nun speziell für die UMA wieder geöffnet. Und das ist auch richtig, denn ich glaube nicht, dass man ein kriegstraumatisiertes Kind, das ohne Familie hier in der Schweiz ist, ohne Zusatzbetreuung in der Regelklasse einschulen kann. Es muss zuerst psychisch stabilisiert werden. Spezialisten schauen jeden Fall einzeln an. Wenn hier gespart wird oder der Aufenthaltsstatus zu lange unsicher bleibt, kommen die Probleme später umso deutlicher zum Vorschein. 

Braucht es zusätzliche Fachpersonen mit einer entsprechenden Ausbildung?
Unbedingt! In jeder Schule sollte mindestens eine Lehrperson mit besonderer Weiterbildung arbeiten. Auch viele schulische Heilpädagogen brauchen noch spezifische Kenntnisse. Ausserdem werden zusätzliche Dolmetscherdienste benötigt.

Wie lange dauert es, bis die Kinder und Jugendlichen eine Regelklasse besuchen können?
Sie werden mithilfe eines Drei-Phasen-Modells integriert. Die erste Phase erstreckt sich auf sechs bis zwölf Monate. In dieser Zeit bleiben die Flüchtlinge in den Bundeszentren. Dort werden sie in Empfangs- oder Übergangsklassen eingeschult, wo sie erste Deutschkenntnisse erwerben. Danach folgt die Verteilung auf die Gemeinden. Nach dieser Phase muss die Wohnsituation geklärt werden, damit die Kinder in reguläre Klassen integriert werden können. Natürlich klappt das meist nur mit Zusatzhilfe wie psychologischer Betreuung oder Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Danach folgt die dritte Phase, die volle Integration in die Regelklasse, in der diese Hilfe nicht mehr benötigt wird. Oder es kommt zur Rückführung – das gibt es natürlich auch.  

Haben Sie bereits Rückmeldungen von Lehrern erhalten, die mit der Situation konfrontiert sind?
Alarmmeldungen gibt es noch keine. Wir konnten bisher alles gut meistern, vor allem, da Phase zwei und drei der Integration in die Regelklassen erst anstehen. Das kommt noch. 2016 wird ein Flüchtlingsintegrationsjahr sein, ähnlich wie das Jahr 2000, als wir viele Flüchtlinge aus dem Kosovo schulisch integrieren mussten. Ich gehe nicht davon aus, dass ein Chaos ausbricht. Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass die Situation überschaubar bleibt. Seit dem Herbst hat sich die Anzahl der Asylsuchenden witterungsbedingt stabilisiert. Im Frühling werden die Zahlen sicher wieder steigen. Wenn aber plötzlich Zehntausende einreisen, brauchen wir neue Schulräume und zusätzliches Personal. Das können wir nicht mehr mit den bestehenden Strukturen bewältigen.

Wo liegt aus Sicht der Schule die Grenze?
Letztendlich muss die Migrationsbehörde darüber entscheiden. Wir hatten ja bereits Ende der 90er-Jahre eine Welle, wo wir Tausende neuer Menschen integriert haben – und zwar sehr erfolgreich. Man darf Flüchtlinge nicht nur als Belastung für das System und die Gesellschaft anschauen, sie sind nämlich auch eine Chance. Es gibt Studien, die belegen, dass Länder, die Flüchtlingsströme aufgenommen haben, letztlich immer davon profitieren. Voraussetzung ist aber, dass genügend Mittel für die schulische Integration vorhanden sind. Der gesamtschweizerische Sparkurs trifft auch die Schulen. Seit 2013 wurden gemäss Berechnungen des Lehrerver-bands bereits rund 318 Millionen Franken eingespart. In den nächsten Jahren sind weitere Kürzungen von etwa 130 Millionen geplant.

Was bedeutet das in der aktuellen Situation?
Man kann nicht ausgerechnet bei den Schwächsten abbauen: Deutsch als Zweitsprache streichen, Kleinklassen weglassen, Fachstellen abbauen – das sind genau die Strukturen, die wir jetzt für die Flüchtlinge brauchen. Das ist wirklich ganz schlecht. Man kann es auch plakativ sagen: Schulische Integration von Flüchtlingen und Sparmassnahmen in der Bildung, das beisst sich. In Ausnahmesituationen sind finanzielle Mittel ausserhalb der ordentlichen Budgetplanungen nötig. Es reicht nicht, Geld für Zäune und Grenzkontrollen auszugeben.

Was sagen Sie Eltern, die befürchten, dass die Integration von Flüchtlingen einen Einfluss auf den schulischen Erfolg der eigenen Kinder hat?
Das kann ich verstehen, aber es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Es ist eine Tatsache, dass Kinder, die gut in der Schule sind, durch weniger leistungsfähige Kinder nicht behindert werden. Heute ist es der Normalfall, dass das Lerntempo individualisiert wird. Kinder, die lernen wollen, lassen sich nicht aufhalten. Auf der menschlichen Ebene profitieren aber alle Kinder. Es ist eine Chance, zu erfahren, dass nicht alle Menschen gleich sind und Schicksale sich stark unterscheiden können.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Integration der Kinder und Jugendlichen gelingen wird?
Die Schweiz hat langjährige Erfahrungen mit der Integration von Flüchtlingen. Wir wissen genau, was zu tun ist, damit sie gelingt. Wir wissen auch, was geschieht, wenn sie nicht gelingt, wie während der Jugoslawienkriege in den 90er-Jahren. Damals hatten wir Jugendliche, die keine Berufslehre beginnen durften, weil ihr Aufenthaltsstatus auch nach Jahren noch nicht klar war. Aufgenommene Familien brauchen sehr rasch Gewissheit über ihren Status, damit sich für das Lernen und die Integration Perspektiven ergeben. Oberstes Ziel bleibt, dass 95 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs einen Abschluss auf der Sekundarstufe II machen können. Wir müssen alles unternehmen, damit die schulische und berufliche Integration dieser Menschen gelingt. Sie sollen später ihren Lebensunterhalt selber verdienen können, wenn sie über längere Zeit bei uns bleiben.

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