Management-Regime der Schule, Reform. vpod Bildungspolitik 194, von Beat Kissling und Alain Pichard
Am 26.
Januar 2015 haben die SP-Nationalrätinnen und Nationalräte Jacqueline Badran
(ZH), Marina Carobbio Guscetti (TI), Jean Christophe Schwaab (VD), Carlo
Sommaruga (GE) und Cédric Wermuth (AG) sowie François Clément,
Vize-Zentralsekretär, und Fabian Molina, Präsident der JUSO Schweiz, in Le
Temps eine Stellungnahme mit dem Titel «Neue Freihandelsabkommen bedrohen das
‹Erfolgsmodell Schweiz› – Stopp TISA» veröffentlicht. Es geht darin
insbesondere um den Schutz des schweizerischen Service public, der durch dieses
Abkommen (TISA) weitgehend dem «freien» Markt, sprich der Privatisierung,
überlassen und somit der demokratischen Kontrolle entzogen würde. Die
AutorInnen erinnern daran, dass das «Erfolgsmodell Schweiz» wesentlich auf den
Pfeilern des bestehenden Service public, auf der direkten Demokratie und einer
auf Ausgleich ausgerichteten Wirtschaftspolitik beruht. Die auf Gemeinnutz und
genossenschaftlichen Prinzipien bauenden Werte der politischen Kultur in
unserem Land (Jacqueline Badran) spiegeln sich gerade in diesem Service public
wider, welcher «eine wichtige Rolle für den nationalen und sozialen
Zusammenhalt» (Le Temps) spielt. Dieses Manifest gilt es im Folgenden dabei zu
haben, wenn es um unsere öffentliche Schule geht.
Reformhektik im öffentlichen Schulwesen
Im
Bildungswesen als wohl sensibelsten Bereich dieses Service public, das vom
TISA-Abkommen im Hinblick auf Privatisierungsbestrebungen mit Sicherheit
betroffen sein dürfte, erleben wir seit Jahren Kaskaden von Reformen, die mit
enormer Propaganda und dem Gestus einer eigenmächtigen Verwaltungsbürokratie
durchgezogen werden – zumeist ohne öffentliche Diskussion und gänzlich ohne
Zustimmung der eigentlichen Schulexperten, nämlich den Lehrpersonen. Einige
wenige profilierte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik haben – mit
merkwürdig wenig Resonanz – wiederholt versucht, auf die fehlende Sach- und
Fachbegründung dieser «Reformitis» hinzuweisen und die längst fällige Zäsur zur
vertieften Reflexion und Diskussion endlich zu ermöglichen. Im Memorandum «Mehr
Bildung – weniger Reformen» forderten vor zwei Jahren namhafte
Humanwissenschaftler, unter anderem die Professoren Walter Herzog, Roland
Reichenbach, Allan Guggenbühl, Remo Largo, Fritz Osterwalder, Rolf Dubs einen
«Stopp der Reformhektik», die ohne öffentlichen Konsens «von oben» verordnet
und durchgesetzt werde; ja man sprach gar vom Weichen der öffentlichen
Kontrolle im Bildungswesen zugunsten einer «demokratiefernen Expertokratie».
Solche Stellungnahmen waren über die letzten Jahre rar und zwar im gesamten
politischen Spektrum, leider auch bei den sich als fortschrittlich verstehenden
Kreisen. Umso erfreulicher, wenn gelegentlich ein beherztes Auftreten den
scheinbaren gesellschaftlichen Konsens durchbricht: «Lasst die Schule in Ruhe!
Der Lehrplan 21 ist gescheitert» äusserte im letzten Oktober Ständerätin Anita
Fetz in der «ZEIT». Die Schule brauche «weniger pseudopädagogische Reformen,
weniger Reformitis. Dafür gut ausgebildete und engagierte Lehrpersonen, die man
in Ruhe guten Unterricht durchführen» lassen solle. Dieser Aufruf war ein Segen
aus der Feder einer profilierten linken Persönlichkeit. Sie hat mit dieser
Aussage den «Nagel auf den Kopf getroffen», was heute in unserem Schulwesen
Programm ist – das pure Gegenteil.
Zweifellos
gilt der ebenfalls in Kabinettspolitikmanier fabrizierte Lehrplan 21 als
grosser Meilenstein für eine Art Kulturrevolution beziehungsweise
Paradigmenwechsel im Bildungswesen – zumindest ist dies eine der Botschaften,
die aus den kantonalen Bildungsdirektionen «dem Volk» übermittelt werden; die
andere, recht paradox anmutende, gänzlich gegensätzliche Botschaft lautet:
«Entwarnung! Es ändert sich eigentlich gar nichts». In der Psychiatrie spricht
man bei solch widersprüchlichen Botschaften von einer «Double-Bind»-Kommunikation.
Missbrauch der Bildungsartikel für
technokratische Steuerung?
2006
stimmten die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger mit grosser Mehrheit den
Bildungsartikeln in der Bundesverfassung zu. Zu was haben sie eigentlich
konkret «Ja» gesagt? Gemäss Abstimmungsvorlage des Bundesrates befürworteten
sie damit die Möglichkeit zu vereinfachter Mobilität bei Schulwechsel zwischen
den Kantonen sowie die Absicherung vergleichbarer Schulniveaus in allen
Kantonen. Konkret sollten gemäss Artikel 62 BV die Dauer der obligatorischen
Schule, die Dauer und Ziele der Bildungsstufen, die Übergänge im Bildungssystem
und die Anerkennung von Abschlüssen harmonisiert werden.
Diese
eigentlich sehr klar umrissene, bescheidene Harmonisierung der kantonalen
Bildungsbesonderheiten ist seither in flagranter Weise umgedeutet worden zu
einem generellen Freipass zur Umsetzung einer umfassenden Neuorientierung des
Bildungswesens mit dem Lehrplan 21. Die «Gleichschaltung» (Anita Fetz) der
kantonalen Lehrpläne mit dem Lehrplan 21 verkaufte die
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und ihre beratende Entourage als Umsetzung
des «Volkswillens», ohne dabei offenzulegen, dass damit wesentlich
weitgehendere und grundlegendere Veränderungen im Bildungswesen eingeschlossen
werden, die – wie oben angesprochen – in wissenschaftlichen Fachkreisen mehr
als nur umstritten sind.
Der
Kern der Lehrplan 21-Reform ist einerseits die Umorientierung der Bildung auf
die PISA-inspirierte «Output-Orientierung» und andererseits die Zementierung
der Topdown-Steuerung des Bildungswesens mittels Transformation der
demokratisch kontrollierten Verwaltung zum betriebswirtschaftlichen Modell des
New Public Management (NPM). Seit Einführung des NPM im Bildungswesen in den
90er-Jahren dirigiert auch in der Schweiz eine streng hierarchisierte
Bildungsbürokratie in der Manier von CEOs die sogenannte Schulentwicklung nach
Massgabe «höherer Interessen» als derjenigen der Schweizer Bevölkerung.
Bezüglich «Output-Orientierung» ist es der magische Terminus der sogenannten Kompetenzorientierung,
der den «Geist» des Lehrplans 21 entscheidend ausmacht. Offiziell machen die
Promotoren des Lehrplans 21 die Kompetenzorientierung von Fall zu Fall als
Durchbruch zu neuen Ufern oder als Umsetzung von längst Praktiziertem beliebt.
Tatsache ist, dass innerhalb der Erziehungswissenschaft kein Konsens besteht,
was mit «Kompetenzorientierung» wirklich gemeint ist. Pragmatisch gesehen ist
dies eigentlich irrelevant. Entscheidend ist, dass das Verständnis von
Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 die Forderung beinhaltet, dass alles, was
in der Schule gelernt wird, mess- und vergleichbar gemacht werden kann. Im
Klartext: der Lehrplan 21 ist ein «Kind von PISA», ein eigentliches «Testbuch»,
so Professor Rudolf Künzli, Pädagogikprofessor, Lehrplanforscher und ehemaliger
Rektor der grössten Deutschschweizer Pädagogischen Hochschule. Künzli sieht in
der Konstruktion des Lehrplans 21 einen Übergriff auf die Professionalität des
Lehrerberufes, da der Unterricht mittels unzähliger Kompetenzziele, -stufen und
-rastern technisch vollkommen vorreglementiert ist, die Unterrichtsinhalte
marginalisiert und eben eine «output-orientierte» Schulkultur etabliert werden
soll, die den Vorgaben von OECD-Funktionären (Verantwortlichen für die
PISA-Agenda) entspreche. Wenn man bedenkt, dass das Schweizer Bildungswesen
noch im OECD-Bericht von 1990 eine hohe Wertschätzung erfuhr und damals
insbesondere ein tief in der Bevölkerung verankertes «Ethos der Schule»
diagnostiziert wurde, fragt man sich, wieso die eigenen
Bildungsverantwortlichen so beflissen dieses kulturfremde psychometrische Testmanagement
zunehmend zum geltenden Massstab für die Schweizer «Schulentwicklung» erhoben
haben.
PISA-Governance und Diskursverweigerung
Im
Jahre 2000 gelang es der OECD nach jahrelangen, durch die USA forcierten
Bemühungen, den europäischen Ländern die sogenannten PISA-Tests aufzubürden.
Diese akzeptierten damit, ihre historisch-kulturell unterschiedlich gewachsenen
Bildungssysteme zukünftig über einen (aussereuropäischen) Leisten schlagen zu
lassen. Das daraus resultierende Länderranking löste in vielen Ländern,
darunter auch in der Schweiz, zunächst eine ganz offensichtlich gewollte
Schockwelle aus, dann – als Folge – im zweiten Schritt geschäftigen Aktionismus
mit der kleinlauten Bereitschaft, sich zukünftig regelmässigen, von der
Wirtschaftsorganisation vorgegebenen Ländervergleichstests auszusetzen und
somit sich längerfristig de facto von der europäischen, humanistisch geprägten
Bildungstradition zu entfernen.
Aber
schon vor 2000 tauchten im Schweizer Schulwesen bis anhin als skurril
empfundene Begriffe wie Kontraktmanagement mit Zielvereinbarung,
Outputorientierung, Controlling, Kundenorientierung, prozessorientierte
Organisation, Qualitätsmanagement und Benchmarking auf. Dies geschah
insbesondere auf Betreiben des damaligen Zürcher Bildungsdirektors, Ernst
Buschor, der auch für die Verwaltungsreform gemäss New Public Management und
somit die Hierarchisierung beziehungsweise Entdemokratisierung des
Volksschulwesens wesentlich verantwortlich zeichnete. Seine international
mentorierte Bildungspolitik im Verbund mit der Implementierung einer an
neoliberalen Zielsetzungen orientierten Steuerung (Governance) des
Bildungswesens ermöglichten schrittweise, die demokratische Kontrolle zu
neutralisieren und die Bildung auf eine utilitaristisch-ökonomistisch orientierte
Konzeption auszurichten.
Dass
mit der Abstimmung zu den neuen Bildungsartikeln nun quasi durch die Hintertüre
ein OECD-Bildungsmodell, das nichts mit der bisherigen politischen und
bildungspädagogischen Kultur in unserem Lande gemein hat, Einzug halten soll,
ist den Menschen in unserem Lande und auch vielen Lehrkräften kaum bekannt.
Dafür sorgte die jahrelange systematische Unterbindung des demokratischen
Diskurses über die Schweizer Schulentwicklung. Wie dies bewerkstelligt wurde,
hat der langjährige SP-Bildungspolitiker Hans Zbinden 2009 in einem Artikel mit
dem Titel «Stiller Partner Schweiz. Lautloser Gang des schweizerischen
Bildungswesens nach Europa» (vgl. vpod-bildungspolitik 159) ausführlich
offengelegt. Tatsächlich folgt die Öffentlichkeitsstrategie der
Bildungspolitiker unseres Landes – in erster Linie die der EDK – seit Jahren
der Taktik der Beschwichtigung. Führende Meinungsträger in der EDK wie der
Berner Bildungsdirektor Bernhard Pulver, der EDK-Präsident Christoph Eymann wie
auch der für den Lehrplan verantwortliche Präsident der Deutsch-EDK Christian
Amsler verkaufen den Lehrplan 21 als Weiterführung längst erprobter Konzepte.
Diese Interpretation unterscheidet sich radikal von der Einschätzung der als
Bildungsexperten in der Schweiz bekannten Erziehungswissenschaftler Kurt
Reusser und Jürgen Oelkers. Sie bezeichnen die Einführung von
kompetenzgestützten Bildungsstandards und die damit einhergehende Änderung der
«Steuerungsphilosophie» als «massiven Paradigmenwechsel im Bildungswesen» (Oelkers
& Reusser, 2008, S. 514). Weshalb, fragt man sich, haben Bildungsdirektor
Pulver und Erziehungswissenschaftler Reusser, die beide in erheblicher
Verantwortung für das Zustandekommen des Lehrplans 21 stehen, der
Öffentlichkeit so unterschiedliche Interpretationen geliefert?
Marginalisierung der Lehrperson zugunsten
technokratischer Management-Regime
Wie
Professor Künzli erklärt Professor Kurt Reusser den «massiven
Paradigmenwechsel» mit dem Kulturwandel zur «Output-Orientierung»: Die
Installierung uniformer Vergleichstests, mit denen «Kompetenzen» gemessen
werden können, sind eine Folge der nationalen Bildungsstandards; die Tests
dienen den Schulverwaltungen als zentrale Kontroll-, Vergleichs- und
Steuerungsinstrumente. Hiermit wird verständlich, wieso im Lehrplan 21 die
Inhalte zweitrangig geworden sind. Die messbaren Kompetenzen müssen nämlich als
Grundlage der Tests möglichst inhaltsneutral sein, damit Vergleichbarkeit
überhaupt geschaffen werden kann. «Teaching to the Test» wird zur
zwangsläufigen gleichschaltenden Norm, der sich jede Lehrperson unterordnen
muss, um die gute «Qualität» ihres Unterrichts-Outputs unter Beweis zu stellen.
Schule soll eben zukünftig als «System» ökonomisch «gesteuert», ihre Qualität
«gemanaged» und über Test-Feedbacks im nationalen Vergleich zu laufend besseren
Leistungen konditioniert werden. Im Kanton Zürich brauchen zwischenzeitlich
Schulleiter in den Volksschulen keine Qualifikation in Pädagogik und Didaktik
mehr, dafür aber eine Managementbefähigung.
Dass
dieses Output-Steuerungs-Modell mit einer psychometrischen Vermessung unserer
Kinder einhergeht und einer eigentlichen Ökonomisierung der Schule Tür und Tor
öffnet, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Den verordneten Reduktionismus
der kindlichen Persönlichkeit auf messbare Kompetenzen – eine eigentliche
Verdinglichung des Menschen – erleben heute schon Zürcher Kindergärtnerinnen,
zu deren Kerntätigkeit es neuerdings gehört, anhand von (durch Test-Profis)
vorgefertigten Fragebögen mit über 50 detaillierten Beobachtungspunkten die
Kompetenzen ihrer Kinder als Daten zu erfassen (Die Experten verklären dieses
Ankreuzen von standardisierten Fragebögen als «Diagnose-Arbeit».).
Es
entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Promotoren des Lehrplans 21
notorisch betonen, den Lehrkräften bleibe mit dieser
«Schulentwicklungsperspektive» die nötige Freiheit erhalten, ihren Unterricht
nach wie vor eigenständig zu gestalten. Die OECD-Agenda, die von Professor
Reusser vorgezeichnete Logik der «Output-Orientierung» sowie die Tatsache, dass
die Lehrerinnen- und Lehrerbildung an den Pädagogischen Hochschulen
mittlerweile das Ausbilden eines Coaches und nicht einer Lehrerperson
beinhaltet, zumal die Schü- ler ihr Lernen mit «apersonalen Medien» (Hermann
Forneck) allein bewerkstelligen sollen (Selbstgesteuertes oder -organisiertes
Lernen) sprechen eher dafür, dass der pädagogisch-didaktische «Spielraum» für
die Lehrpersonen schwindet. Stattdessen werden sie nahezu zwangsläufig zu
«Erfüllungsgehilfen der Testentwickler» (Andreas Gruschka) degradiert, deren
Kernaufgabe nicht mehr darin besteht, den Schülerinnen und Schülern den
systematischen Zugang zu Fach und Lernweise zu vermitteln.
Der Ende
letzten Jahres emeritierte Berner Lehrstuhlinhaber für
Erziehungswissenschaften, Walter Herzog, schrieb kürzlich zu dieser Entwertung
des Lehrerberufs: «Einerseits wird den Lehrerinnen und Lehrern mit einem
kompetenzorientierten Lehrplan detailliert vorgegeben, was sie zu leisten
haben, andererseits wird ihnen die Kompetenz, die Schülerleistungen zu
beurteilen, abgesprochen, indem diese an ein testbasiertes Bildungsmonitoring
delegiert wird. Expertinnen und Experten, die im Dienste der Bildungsverwaltungen
stehen, übernehmen zunehmend das Zepter.»
Dieser
Typus «Lehrer» bietet aus ökonomischer Sicht einen grossen Vorteil: er hilft
erheblich zu sparen, weil sich eine vertiefte Lehrerausbildung zukünftig
erübrigt. Einige Wochenendkurse könnten reichen, wie die bekannte amerikanische
Erziehungswissenschaftlerin, Diana Ravitch, am Beispiel der öffentlichen
Schulen in den USA aufzeigt. Ravitch klärt seit Jahren über die verheerenden
Auswirkungen solcher test- und rankingbasierten «Schulreformen» in ihrem Land auf,
die sie ursprünglich in gutem Glauben unterstützt hatte. Wird das
«Selbstgesteuerte Lernen» – bei dem jedes Kind (auch schon Primarschüler in den
ersten Schuljahren) alleine auf sich selbst zurückgeworfen ist und die anderen
Gleichaltrigen zu Rivalen im schulischen Vorankommen mutieren statt
kooperierende Kameraden und Kameradinnen sein zu können – zum neuen
didaktischen Dogma erhoben, dem in den Pädagogischen Hochschulen veritable
«Gottesdienste» gefeiert werden (Roland Reichenbach), fällt den Lehrpersonen
die wenig rühmliche Rolle zu, dieses entsolidarisierte Szenario als «Coach»
oder «Lernbegleiter» zu verwalten.
Instrumenteller Geist als «innovatives»
Bildungsziel?
Andreas
Gruschka, Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt
am Main, renommierter empirischer Forscher zu Unterrichtsentwicklung sowie
Präsident der internationalen «Gesellschaft für Bildung und Wissen», nimmt in
seiner Bilanz dieses Reformtrends kein Blatt vor den Mund. Er charakterisiert
den «kompetenten Schüler», wie er unter anderem im Lehrplan 21 als Modell
gedacht ist, folgendermassen: «Er ‹weiss Bescheid›, wo er nachzuschauen hat.
Das Gedächtnis seines Geräts arbeitet als Ersatz für ein eigenes. So beherrscht
er Lösungen für Aufgaben, aber beider Fraglichkeit bleibt in der Regel
ungeklärt. Den Schülern wird so abgewöhnt, überhaupt noch Fragen zu stellen,
die eine tiefere Berührung mit der Sache auslösen können. Dafür lernen sie
Antworten auf Fragen zu geben, die mit diesen beziehungsweise dem hinzugezogenen
Material bereits geliefert worden sind […] Eine eloquente Schülerschaft vermag
alles zu präsentieren, über alles zu reden, weil und wo sie nicht vor die
Herausforderung gestellt wird, einen schulischen Inhalt wirklich sachverständig
zu erarbeiten.» Schule werde also zu einer «Anstalt des Scheins», sagt
Gruschka, in der der Schülerschaft eine «Gesinnung der Anpassungsbereitschaft»
vermittelt wird und sie sich selbst zu «Arbeitswerkzeugen» entwickeln, «die
sich beliebig einsetzen lassen.» Die humanistischen Bildungsziele Mündigkeit,
Befähigung zu eigenständigem Urteil und Schulung der Urteilskraft werden
ersetzt durch einen «instrumentellen Geist», der Schüler dahin bringe, zu
«funktionieren ohne reflektierende Distanz gegenüber dem, was sie tun.» Diese
Charakterisierung trifft leider schon heute für einen grösseren Teil der
Schülerschaft zu. Eltern beklagen heute schon eine zunehmende Abneigung ihrer
Kinder gegenüber der Schule, zumal das, was die Freude an der Schule ausmacht,
das Miteinanderlernen, die ansteckende Begeisterung der Lehrperson für das
Fach, der Halt beim Lernen durch die erforderliche persönliche Unterstützung,
Begleitung und Abstützung auf konkrete pädagogisch-didaktische Hilfen usw.
vielfach kaum mehr eine Rolle im Schulalltag spielt. Stundenlang, berichten
viele, müssten sie abends und am Wochenende mit ihren Kindern arbeiten, um
sicherzustellen, dass deren Wochenaufträge, die im Selbststudium zu erledigen
sind, einigermassen erfüllt werden können. Schwache und unsichere Schüler – zumeist
aus sogenannt bildungsfernen Elternhäusern – fallen automatisch «durch die
Maschen», zumal es gemäss «Bildungsgerechtigkeit» (statt «Chancengleichheit»)
für die Lehrperson nicht mehr angezeigt ist, die Verantwortung für das Lernen
und Vorankommen der Kinder zu übernehmen. Längerfristig kann man es sich
ausmalen, wo Eltern landen, um ihrem Kind eine Chance zu bieten: in der
Privatschule, sofern sie es sich leisten können.
Wo bleibt der Widerstand der Linken?
Was
Verwaltungsbeamte, Bildungspolitiker, Schulleiter und sonstige Mitglieder der
neuen Expertokratie vielleicht zu begeistern vermag, stösst bei der Bevölkerung
und vielen Lehrerinnen und Lehrern auf Skepsis und Ablehnung. Denn die
Volksschule als zentraler Teil des Service public ist tief im demokratischen
Bewusstsein der Menschen in der Schweiz verwurzelt, wie es im Manifest der
SP-Nationalräte prägnant formuliert ist. Die Debatte, welche die
Bildungsverwaltung bisher wohl unbedingt vermeiden wollte, wird ihr nun mit
politisch zum Teil sehr breit abgestützten Initiativen aufgezwungen. Aber wie
steht es um den Aufschrei, den geharnischten Einspruch einer empörten Linken
angesichts einer starken Bedrohung für unsere öffentliche Bildung? Wo bleibt
der anschwellende Protest, den Anita Fetz vor einem halben Jahr angestimmt hat?
Was ist übrig geblieben vom sozialethisch wertvollen linken Postulat der
Chancengleichheit als zentrale Aufgabe der Volksschule beziehungsweise der
Schulpädagogik? Hatte Pestalozzi darin nicht Recht, dass das Ethos der
Volksschule nebst der Aneignung der Elementarbildung vor allem in der Sozial-
und Gemeinschaftsbildung (Herzensbildung) bestehen muss? Wie lange noch will
ein erheblicher Teil der Linken über die skizzierten Entwicklungen im
Schulwesen hinwegsehen oder sich sogar als Steigbügelhalter für internationale
und transnationale Organisationen wie die OECD, die EU und andere einspannen
lassen, die den nationalen Bildungssystemen ihr neoliberales Verständnis von
Bildungspolitik aufdrängen?
Dr.
Beat Kissling, Psychologe und Erziehungswissenschaftler, Kantonsschullehrer und
Hochschuldozent, Beirat der Gesellschaft für Bildung und Wissen.
Alain
Pichard, Reallehrer, Bieler Initiant des Memorandums 550 gegen 550.
Literatur
Badran,
Jacqueline: Hören Sie doch jetzt endlich auf, von Feudalismus zu reden.
E-Mail-Debatte mit Christian Wasserfallen, NZZ am Sonntag, 29. März 2015
Fetz,
Anita: Last die Schule in Ruhe! Der Lehrplan 21 ist gescheitert. In: Die ZEIT,
23. Oktober 2014
Forneck,
Hermann: Professionalisierung statt Innovationsabstinenz – Gastkommentar zum
«selbstgesteuerten Lernen». In: NZZ, 31. Juli 2014
Gruschka,
Andreas: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Verlag
Barbara Budrich, Opladen – Berlin – Toronto, 2015
Herzog,
Walter: Wissen und Kompetenz – was brauchen unsere Kinder? Eine kritische
Betrachtung der Reformpolitik der EDK; erweiterte Fassung des Referats auf
Einladung der Ostschweizer Kinderärzte und des Ostschweizer Kinderspitals an
der Fachhochschule St. Gallen am 11. März 2015
Künzli,
Rudolf: Lehrplan 21 – Praxisfern oder zukunftsweisend? Radio SRF 2,
Kontextsendung, Rudolf Künzli mit Kathrin Schmocker, 27. Februar 2014
Le Temps: Les nouveaux accords de libre- échange menacent
le «modèle suisse», 26 Janvier 2015
Ravitch, Diana: The Death and Life of the Great
American School. How Testing and Choice are Undermining Education. Basic Books,
Philadelphia 2010
Ravitch, Diana: Reign of Error. The Hoax of
Privatization Movement and the Danger to America's Public Schools. Alfred A.
Knopf, Borzoi Books, New York and Toronto 2013
Reichenbach, Roland: Alternative Lernformen. «Leider gibt es an
den Schulen eine Neo-Manie». In: NZZ, 26. Juli 2014
von
Wartburg, Roger: Memorandum «Mehr Bildung – weniger Reformen»:
Erziehungswissenschaftler fordern Notbremse, lvb inform, 2013/14-01
Zbinden,
Hans: Stiller Partner Schweiz. Lautloser Gang des schweizerischen
Bildungswesens nach Europa, vpod-bildungspolitik 159, Mai 2009
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