3. Januar 2016

Management-Regime der Schule

Technokratische Reformen gefährden die hohe Qualität des Schweizer Bildungssystems.
Management-Regime der Schule, Reform. vpod Bildungspolitik 194, von Beat Kissling und Alain Pichard


Am 26. Januar 2015 haben die SP-Nationalrätinnen und Nationalräte Jacqueline Badran (ZH), Marina Carobbio Guscetti (TI), Jean Christophe Schwaab (VD), Carlo Sommaruga (GE) und Cédric Wermuth (AG) sowie François Clément, Vize-Zentralsekretär, und Fabian Molina, Präsident der JUSO Schweiz, in Le Temps eine Stellungnahme mit dem Titel «Neue Freihandelsabkommen bedrohen das ‹Erfolgsmodell Schweiz› – Stopp TISA» veröffentlicht. Es geht darin insbesondere um den Schutz des schweizerischen Service public, der durch dieses Abkommen (TISA) weitgehend dem «freien» Markt, sprich der Privatisierung, überlassen und somit der demokratischen Kontrolle entzogen würde. Die AutorInnen erinnern daran, dass das «Erfolgsmodell Schweiz» wesentlich auf den Pfeilern des bestehenden Service public, auf der direkten Demokratie und einer auf Ausgleich ausgerichteten Wirtschaftspolitik beruht. Die auf Gemeinnutz und genossenschaftlichen Prinzipien bauenden Werte der politischen Kultur in unserem Land (Jacqueline Badran) spiegeln sich gerade in diesem Service public wider, welcher «eine wichtige Rolle für den nationalen und sozialen Zusammenhalt» (Le Temps) spielt. Dieses Manifest gilt es im Folgenden dabei zu haben, wenn es um unsere öffentliche Schule geht.

Reformhektik im öffentlichen Schulwesen
Im Bildungswesen als wohl sensibelsten Bereich dieses Service public, das vom TISA-Abkommen im Hinblick auf Privatisierungsbestrebungen mit Sicherheit betroffen sein dürfte, erleben wir seit Jahren Kaskaden von Reformen, die mit enormer Propaganda und dem Gestus einer eigenmächtigen Verwaltungsbürokratie durchgezogen werden – zumeist ohne öffentliche Diskussion und gänzlich ohne Zustimmung der eigentlichen Schulexperten, nämlich den Lehrpersonen. Einige wenige profilierte Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik haben – mit merkwürdig wenig Resonanz – wiederholt versucht, auf die fehlende Sach- und Fachbegründung dieser «Reformitis» hinzuweisen und die längst fällige Zäsur zur vertieften Reflexion und Diskussion endlich zu ermöglichen. Im Memorandum «Mehr Bildung – weniger Reformen» forderten vor zwei Jahren namhafte Humanwissenschaftler, unter anderem die Professoren Walter Herzog, Roland Reichenbach, Allan Guggenbühl, Remo Largo, Fritz Osterwalder, Rolf Dubs einen «Stopp der Reformhektik», die ohne öffentlichen Konsens «von oben» verordnet und durchgesetzt werde; ja man sprach gar vom Weichen der öffentlichen Kontrolle im Bildungswesen zugunsten einer «demokratiefernen Expertokratie». Solche Stellungnahmen waren über die letzten Jahre rar und zwar im gesamten politischen Spektrum, leider auch bei den sich als fortschrittlich verstehenden Kreisen. Umso erfreulicher, wenn gelegentlich ein beherztes Auftreten den scheinbaren gesellschaftlichen Konsens durchbricht: «Lasst die Schule in Ruhe! Der Lehrplan 21 ist gescheitert» äusserte im letzten Oktober Ständerätin Anita Fetz in der «ZEIT». Die Schule brauche «weniger pseudopädagogische Reformen, weniger Reformitis. Dafür gut ausgebildete und engagierte Lehrpersonen, die man in Ruhe guten Unterricht durchführen» lassen solle. Dieser Aufruf war ein Segen aus der Feder einer profilierten linken Persönlichkeit. Sie hat mit dieser Aussage den «Nagel auf den Kopf getroffen», was heute in unserem Schulwesen Programm ist – das pure Gegenteil.

Zweifellos gilt der ebenfalls in Kabinettspolitikmanier fabrizierte Lehrplan 21 als grosser Meilenstein für eine Art Kulturrevolution beziehungsweise Paradigmenwechsel im Bildungswesen – zumindest ist dies eine der Botschaften, die aus den kantonalen Bildungsdirektionen «dem Volk» übermittelt werden; die andere, recht paradox anmutende, gänzlich gegensätzliche Botschaft lautet: «Entwarnung! Es ändert sich eigentlich gar nichts». In der Psychiatrie spricht man bei solch widersprüchlichen Botschaften von einer «Double-Bind»-Kommunikation.

Missbrauch der Bildungsartikel für technokratische Steuerung?
2006 stimmten die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger mit grosser Mehrheit den Bildungsartikeln in der Bundesverfassung zu. Zu was haben sie eigentlich konkret «Ja» gesagt? Gemäss Abstimmungsvorlage des Bundesrates befürworteten sie damit die Möglichkeit zu vereinfachter Mobilität bei Schulwechsel zwischen den Kantonen sowie die Absicherung vergleichbarer Schulniveaus in allen Kantonen. Konkret sollten gemäss Artikel 62 BV die Dauer der obligatorischen Schule, die Dauer und Ziele der Bildungsstufen, die Übergänge im Bildungssystem und die Anerkennung von Abschlüssen harmonisiert werden.

Diese eigentlich sehr klar umrissene, bescheidene Harmonisierung der kantonalen Bildungsbesonderheiten ist seither in flagranter Weise umgedeutet worden zu einem generellen Freipass zur Umsetzung einer umfassenden Neuorientierung des Bildungswesens mit dem Lehrplan 21. Die «Gleichschaltung» (Anita Fetz) der kantonalen Lehrpläne mit dem Lehrplan 21 verkaufte die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und ihre beratende Entourage als Umsetzung des «Volkswillens», ohne dabei offenzulegen, dass damit wesentlich weitgehendere und grundlegendere Veränderungen im Bildungswesen eingeschlossen werden, die – wie oben angesprochen – in wissenschaftlichen Fachkreisen mehr als nur umstritten sind.

Der Kern der Lehrplan 21-Reform ist einerseits die Umorientierung der Bildung auf die PISA-inspirierte «Output-Orientierung» und andererseits die Zementierung der Topdown-Steuerung des Bildungswesens mittels Transformation der demokratisch kontrollierten Verwaltung zum betriebswirtschaftlichen Modell des New Public Management (NPM). Seit Einführung des NPM im Bildungswesen in den 90er-Jahren dirigiert auch in der Schweiz eine streng hierarchisierte Bildungsbürokratie in der Manier von CEOs die sogenannte Schulentwicklung nach Massgabe «höherer Interessen» als derjenigen der Schweizer Bevölkerung. Bezüglich «Output-Orientierung» ist es der magische Terminus der sogenannten Kompetenzorientierung, der den «Geist» des Lehrplans 21 entscheidend ausmacht. Offiziell machen die Promotoren des Lehrplans 21 die Kompetenzorientierung von Fall zu Fall als Durchbruch zu neuen Ufern oder als Umsetzung von längst Praktiziertem beliebt. Tatsache ist, dass innerhalb der Erziehungswissenschaft kein Konsens besteht, was mit «Kompetenzorientierung» wirklich gemeint ist. Pragmatisch gesehen ist dies eigentlich irrelevant. Entscheidend ist, dass das Verständnis von Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 die Forderung beinhaltet, dass alles, was in der Schule gelernt wird, mess- und vergleichbar gemacht werden kann. Im Klartext: der Lehrplan 21 ist ein «Kind von PISA», ein eigentliches «Testbuch», so Professor Rudolf Künzli, Pädagogikprofessor, Lehrplanforscher und ehemaliger Rektor der grössten Deutschschweizer Pädagogischen Hochschule. Künzli sieht in der Konstruktion des Lehrplans 21 einen Übergriff auf die Professionalität des Lehrerberufes, da der Unterricht mittels unzähliger Kompetenzziele, -stufen und -rastern technisch vollkommen vorreglementiert ist, die Unterrichtsinhalte marginalisiert und eben eine «output-orientierte» Schulkultur etabliert werden soll, die den Vorgaben von OECD-Funktionären (Verantwortlichen für die PISA-Agenda) entspreche. Wenn man bedenkt, dass das Schweizer Bildungswesen noch im OECD-Bericht von 1990 eine hohe Wertschätzung erfuhr und damals insbesondere ein tief in der Bevölkerung verankertes «Ethos der Schule» diagnostiziert wurde, fragt man sich, wieso die eigenen Bildungsverantwortlichen so beflissen dieses kulturfremde psychometrische Testmanagement zunehmend zum geltenden Massstab für die Schweizer «Schulentwicklung» erhoben haben.

PISA-Governance und Diskursverweigerung
Im Jahre 2000 gelang es der OECD nach jahrelangen, durch die USA forcierten Bemühungen, den europäischen Ländern die sogenannten PISA-Tests aufzubürden. Diese akzeptierten damit, ihre historisch-kulturell unterschiedlich gewachsenen Bildungssysteme zukünftig über einen (aussereuropäischen) Leisten schlagen zu lassen. Das daraus resultierende Länderranking löste in vielen Ländern, darunter auch in der Schweiz, zunächst eine ganz offensichtlich gewollte Schockwelle aus, dann – als Folge – im zweiten Schritt geschäftigen Aktionismus mit der kleinlauten Bereitschaft, sich zukünftig regelmässigen, von der Wirtschaftsorganisation vorgegebenen Ländervergleichstests auszusetzen und somit sich längerfristig de facto von der europäischen, humanistisch geprägten Bildungstradition zu entfernen.

Aber schon vor 2000 tauchten im Schweizer Schulwesen bis anhin als skurril empfundene Begriffe wie Kontraktmanagement mit Zielvereinbarung, Outputorientierung, Controlling, Kundenorientierung, prozessorientierte Organisation, Qualitätsmanagement und Benchmarking auf. Dies geschah insbesondere auf Betreiben des damaligen Zürcher Bildungsdirektors, Ernst Buschor, der auch für die Verwaltungsreform gemäss New Public Management und somit die Hierarchisierung beziehungsweise Entdemokratisierung des Volksschulwesens wesentlich verantwortlich zeichnete. Seine international mentorierte Bildungspolitik im Verbund mit der Implementierung einer an neoliberalen Zielsetzungen orientierten Steuerung (Governance) des Bildungswesens ermöglichten schrittweise, die demokratische Kontrolle zu neutralisieren und die Bildung auf eine utilitaristisch-ökonomistisch orientierte Konzeption auszurichten.

Dass mit der Abstimmung zu den neuen Bildungsartikeln nun quasi durch die Hintertüre ein OECD-Bildungsmodell, das nichts mit der bisherigen politischen und bildungspädagogischen Kultur in unserem Lande gemein hat, Einzug halten soll, ist den Menschen in unserem Lande und auch vielen Lehrkräften kaum bekannt. Dafür sorgte die jahrelange systematische Unterbindung des demokratischen Diskurses über die Schweizer Schulentwicklung. Wie dies bewerkstelligt wurde, hat der langjährige SP-Bildungspolitiker Hans Zbinden 2009 in einem Artikel mit dem Titel «Stiller Partner Schweiz. Lautloser Gang des schweizerischen Bildungswesens nach Europa» (vgl. vpod-bildungspolitik 159) ausführlich offengelegt. Tatsächlich folgt die Öffentlichkeitsstrategie der Bildungspolitiker unseres Landes – in erster Linie die der EDK – seit Jahren der Taktik der Beschwichtigung. Führende Meinungsträger in der EDK wie der Berner Bildungsdirektor Bernhard Pulver, der EDK-Präsident Christoph Eymann wie auch der für den Lehrplan verantwortliche Präsident der Deutsch-EDK Christian Amsler verkaufen den Lehrplan 21 als Weiterführung längst erprobter Konzepte. Diese Interpretation unterscheidet sich radikal von der Einschätzung der als Bildungsexperten in der Schweiz bekannten Erziehungswissenschaftler Kurt Reusser und Jürgen Oelkers. Sie bezeichnen die Einführung von kompetenzgestützten Bildungsstandards und die damit einhergehende Änderung der «Steuerungsphilosophie» als «massiven Paradigmenwechsel im Bildungswesen» (Oelkers & Reusser, 2008, S. 514). Weshalb, fragt man sich, haben Bildungsdirektor Pulver und Erziehungswissenschaftler Reusser, die beide in erheblicher Verantwortung für das Zustandekommen des Lehrplans 21 stehen, der Öffentlichkeit so unterschiedliche Interpretationen geliefert?

Marginalisierung der Lehrperson zugunsten technokratischer Management-Regime

Wie Professor Künzli erklärt Professor Kurt Reusser den «massiven Paradigmenwechsel» mit dem Kulturwandel zur «Output-Orientierung»: Die Installierung uniformer Vergleichstests, mit denen «Kompetenzen» gemessen werden können, sind eine Folge der nationalen Bildungsstandards; die Tests dienen den Schulverwaltungen als zentrale Kontroll-, Vergleichs- und Steuerungsinstrumente. Hiermit wird verständlich, wieso im Lehrplan 21 die Inhalte zweitrangig geworden sind. Die messbaren Kompetenzen müssen nämlich als Grundlage der Tests möglichst inhaltsneutral sein, damit Vergleichbarkeit überhaupt geschaffen werden kann. «Teaching to the Test» wird zur zwangsläufigen gleichschaltenden Norm, der sich jede Lehrperson unterordnen muss, um die gute «Qualität» ihres Unterrichts-Outputs unter Beweis zu stellen. Schule soll eben zukünftig als «System» ökonomisch «gesteuert», ihre Qualität «gemanaged» und über Test-Feedbacks im nationalen Vergleich zu laufend besseren Leistungen konditioniert werden. Im Kanton Zürich brauchen zwischenzeitlich Schulleiter in den Volksschulen keine Qualifikation in Pädagogik und Didaktik mehr, dafür aber eine Managementbefähigung.

Dass dieses Output-Steuerungs-Modell mit einer psychometrischen Vermessung unserer Kinder einhergeht und einer eigentlichen Ökonomisierung der Schule Tür und Tor öffnet, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Den verordneten Reduktionismus der kindlichen Persönlichkeit auf messbare Kompetenzen – eine eigentliche Verdinglichung des Menschen – erleben heute schon Zürcher Kindergärtnerinnen, zu deren Kerntätigkeit es neuerdings gehört, anhand von (durch Test-Profis) vorgefertigten Fragebögen mit über 50 detaillierten Beobachtungspunkten die Kompetenzen ihrer Kinder als Daten zu erfassen (Die Experten verklären dieses Ankreuzen von standardisierten Fragebögen als «Diagnose-Arbeit».).

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Promotoren des Lehrplans 21 notorisch betonen, den Lehrkräften bleibe mit dieser «Schulentwicklungsperspektive» die nötige Freiheit erhalten, ihren Unterricht nach wie vor eigenständig zu gestalten. Die OECD-Agenda, die von Professor Reusser vorgezeichnete Logik der «Output-Orientierung» sowie die Tatsache, dass die Lehrerinnen- und Lehrerbildung an den Pädagogischen Hochschulen mittlerweile das Ausbilden eines Coaches und nicht einer Lehrerperson beinhaltet, zumal die Schü- ler ihr Lernen mit «apersonalen Medien» (Hermann Forneck) allein bewerkstelligen sollen (Selbstgesteuertes oder -organisiertes Lernen) sprechen eher dafür, dass der pädagogisch-didaktische «Spielraum» für die Lehrpersonen schwindet. Stattdessen werden sie nahezu zwangsläufig zu «Erfüllungsgehilfen der Testentwickler» (Andreas Gruschka) degradiert, deren Kernaufgabe nicht mehr darin besteht, den Schülerinnen und Schülern den systematischen Zugang zu Fach und Lernweise zu vermitteln.

Der Ende letzten Jahres emeritierte Berner Lehrstuhlinhaber für Erziehungswissenschaften, Walter Herzog, schrieb kürzlich zu dieser Entwertung des Lehrerberufs: «Einerseits wird den Lehrerinnen und Lehrern mit einem kompetenzorientierten Lehrplan detailliert vorgegeben, was sie zu leisten haben, andererseits wird ihnen die Kompetenz, die Schülerleistungen zu beurteilen, abgesprochen, indem diese an ein testbasiertes Bildungsmonitoring delegiert wird. Expertinnen und Experten, die im Dienste der Bildungsverwaltungen stehen, übernehmen zunehmend das Zepter.»

Dieser Typus «Lehrer» bietet aus ökonomischer Sicht einen grossen Vorteil: er hilft erheblich zu sparen, weil sich eine vertiefte Lehrerausbildung zukünftig erübrigt. Einige Wochenendkurse könnten reichen, wie die bekannte amerikanische Erziehungswissenschaftlerin, Diana Ravitch, am Beispiel der öffentlichen Schulen in den USA aufzeigt. Ravitch klärt seit Jahren über die verheerenden Auswirkungen solcher test- und rankingbasierten «Schulreformen» in ihrem Land auf, die sie ursprünglich in gutem Glauben unterstützt hatte. Wird das «Selbstgesteuerte Lernen» – bei dem jedes Kind (auch schon Primarschüler in den ersten Schuljahren) alleine auf sich selbst zurückgeworfen ist und die anderen Gleichaltrigen zu Rivalen im schulischen Vorankommen mutieren statt kooperierende Kameraden und Kameradinnen sein zu können – zum neuen didaktischen Dogma erhoben, dem in den Pädagogischen Hochschulen veritable «Gottesdienste» gefeiert werden (Roland Reichenbach), fällt den Lehrpersonen die wenig rühmliche Rolle zu, dieses entsolidarisierte Szenario als «Coach» oder «Lernbegleiter» zu verwalten.

Instrumenteller Geist als «innovatives» Bildungsziel?
Andreas Gruschka, Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, renommierter empirischer Forscher zu Unterrichtsentwicklung sowie Präsident der internationalen «Gesellschaft für Bildung und Wissen», nimmt in seiner Bilanz dieses Reformtrends kein Blatt vor den Mund. Er charakterisiert den «kompetenten Schüler», wie er unter anderem im Lehrplan 21 als Modell gedacht ist, folgendermassen: «Er ‹weiss Bescheid›, wo er nachzuschauen hat. Das Gedächtnis seines Geräts arbeitet als Ersatz für ein eigenes. So beherrscht er Lösungen für Aufgaben, aber beider Fraglichkeit bleibt in der Regel ungeklärt. Den Schülern wird so abgewöhnt, überhaupt noch Fragen zu stellen, die eine tiefere Berührung mit der Sache auslösen können. Dafür lernen sie Antworten auf Fragen zu geben, die mit diesen beziehungsweise dem hinzugezogenen Material bereits geliefert worden sind […] Eine eloquente Schülerschaft vermag alles zu präsentieren, über alles zu reden, weil und wo sie nicht vor die Herausforderung gestellt wird, einen schulischen Inhalt wirklich sachverständig zu erarbeiten.» Schule werde also zu einer «Anstalt des Scheins», sagt Gruschka, in der der Schülerschaft eine «Gesinnung der Anpassungsbereitschaft» vermittelt wird und sie sich selbst zu «Arbeitswerkzeugen» entwickeln, «die sich beliebig einsetzen lassen.» Die humanistischen Bildungsziele Mündigkeit, Befähigung zu eigenständigem Urteil und Schulung der Urteilskraft werden ersetzt durch einen «instrumentellen Geist», der Schüler dahin bringe, zu «funktionieren ohne reflektierende Distanz gegenüber dem, was sie tun.» Diese Charakterisierung trifft leider schon heute für einen grösseren Teil der Schülerschaft zu. Eltern beklagen heute schon eine zunehmende Abneigung ihrer Kinder gegenüber der Schule, zumal das, was die Freude an der Schule ausmacht, das Miteinanderlernen, die ansteckende Begeisterung der Lehrperson für das Fach, der Halt beim Lernen durch die erforderliche persönliche Unterstützung, Begleitung und Abstützung auf konkrete pädagogisch-didaktische Hilfen usw. vielfach kaum mehr eine Rolle im Schulalltag spielt. Stundenlang, berichten viele, müssten sie abends und am Wochenende mit ihren Kindern arbeiten, um sicherzustellen, dass deren Wochenaufträge, die im Selbststudium zu erledigen sind, einigermassen erfüllt werden können. Schwache und unsichere Schüler – zumeist aus sogenannt bildungsfernen Elternhäusern – fallen automatisch «durch die Maschen», zumal es gemäss «Bildungsgerechtigkeit» (statt «Chancengleichheit») für die Lehrperson nicht mehr angezeigt ist, die Verantwortung für das Lernen und Vorankommen der Kinder zu übernehmen. Längerfristig kann man es sich ausmalen, wo Eltern landen, um ihrem Kind eine Chance zu bieten: in der Privatschule, sofern sie es sich leisten können.

Wo bleibt der Widerstand der Linken?
Was Verwaltungsbeamte, Bildungspolitiker, Schulleiter und sonstige Mitglieder der neuen Expertokratie vielleicht zu begeistern vermag, stösst bei der Bevölkerung und vielen Lehrerinnen und Lehrern auf Skepsis und Ablehnung. Denn die Volksschule als zentraler Teil des Service public ist tief im demokratischen Bewusstsein der Menschen in der Schweiz verwurzelt, wie es im Manifest der SP-Nationalräte prägnant formuliert ist. Die Debatte, welche die Bildungsverwaltung bisher wohl unbedingt vermeiden wollte, wird ihr nun mit politisch zum Teil sehr breit abgestützten Initiativen aufgezwungen. Aber wie steht es um den Aufschrei, den geharnischten Einspruch einer empörten Linken angesichts einer starken Bedrohung für unsere öffentliche Bildung? Wo bleibt der anschwellende Protest, den Anita Fetz vor einem halben Jahr angestimmt hat? Was ist übrig geblieben vom sozialethisch wertvollen linken Postulat der Chancengleichheit als zentrale Aufgabe der Volksschule beziehungsweise der Schulpädagogik? Hatte Pestalozzi darin nicht Recht, dass das Ethos der Volksschule nebst der Aneignung der Elementarbildung vor allem in der Sozial- und Gemeinschaftsbildung (Herzensbildung) bestehen muss? Wie lange noch will ein erheblicher Teil der Linken über die skizzierten Entwicklungen im Schulwesen hinwegsehen oder sich sogar als Steigbügelhalter für internationale und transnationale Organisationen wie die OECD, die EU und andere einspannen lassen, die den nationalen Bildungssystemen ihr neoliberales Verständnis von Bildungspolitik aufdrängen?

Dr. Beat Kissling, Psychologe und Erziehungswissenschaftler, Kantonsschullehrer und Hochschuldozent, Beirat der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Alain Pichard, Reallehrer, Bieler Initiant des Memorandums 550 gegen 550.

Literatur
Badran, Jacqueline: Hören Sie doch jetzt endlich auf, von Feudalismus zu reden. E-Mail-Debatte mit Christian Wasserfallen, NZZ am Sonntag, 29. März 2015

Fetz, Anita: Last die Schule in Ruhe! Der Lehrplan 21 ist gescheitert. In: Die ZEIT, 23. Oktober 2014

Forneck, Hermann: Professionalisierung statt Innovationsabstinenz – Gastkommentar zum «selbstgesteuerten Lernen». In: NZZ, 31. Juli 2014

Gruschka, Andreas: Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen. Verlag Barbara Budrich, Opladen – Berlin – Toronto, 2015

Herzog, Walter: Wissen und Kompetenz – was brauchen unsere Kinder? Eine kritische Betrachtung der Reformpolitik der EDK; erweiterte Fassung des Referats auf Einladung der Ostschweizer Kinderärzte und des Ostschweizer Kinderspitals an der Fachhochschule St. Gallen am 11. März 2015

Künzli, Rudolf: Lehrplan 21 – Praxisfern oder zukunftsweisend? Radio SRF 2, Kontextsendung, Rudolf Künzli mit Kathrin Schmocker, 27. Februar 2014

Le Temps: Les nouveaux accords de libre- échange menacent le «modèle suisse», 26 Janvier 2015

Ravitch, Diana: The Death and Life of the Great American School. How Testing and Choice are Undermining Education. Basic Books, Philadelphia 2010

Ravitch, Diana: Reign of Error. The Hoax of Privatization Movement and the Danger to America's Public Schools. Alfred A. Knopf, Borzoi Books, New York and Toronto 2013

Reichenbach, Roland: Alternative Lernformen. «Leider gibt es an den Schulen eine Neo-Manie». In: NZZ, 26. Juli 2014

von Wartburg, Roger: Memorandum «Mehr Bildung – weniger Reformen»: Erziehungswissenschaftler fordern Notbremse, lvb inform, 2013/14-01


Zbinden, Hans: Stiller Partner Schweiz. Lautloser Gang des schweizerischen Bildungswesens nach Europa, vpod-bildungspolitik 159, Mai 2009

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