5. Januar 2016

Fragwürdige Übertrittsmethoden

Ist es ein Zufall, dass die Schüler- und Elterngespräche zum Schulübertritt just auf denselben Zeitpunkt fallen wie die Mitarbeitergespräche der Pharma-­Unternehmen und der Industrie, ­welche diese Konzerne für knapp eine Woche während des Kalibrierungs- und Vermessungswahns am Menschen lahmlegen? Just in diesen Tagen, im Dezember und Januar, erläutern auch die Lehrpersonen den «Erziehungs­berechtigten» in ihren Schulzimmern das Zeugnis und entscheiden – erstmals im Baselbiet – auch den Schulübertritt von der sechsten Primar in einen der drei Leistungszüge Niveau A, E und P der Sekundarschule.



















Jürg Wiedemann ist Baselbieter Landrat und Sekundarlehrer, Bild: Basler Zeitung
Verfehlte Leistungsbeurteilung, Basler Zeitung, 5.1. von Jürg Wiedemann


Wobei, dies zum allgemeinen ­Verständnis, Niveau A für die frühere Realschule, E für die Sekundarschule und P für den stärksten Leistungszug, das Progymnasium, steht. Die derzeitige Einschätzung der zwölfjährigen Kinder für den Übertritt in die Mittelstufe ist einem industrialisierten Mitarbeitergespräch (MAG) ebenbürtig.
Das Betragen rückt ins Zentrum
Längst geht es bei der Leistungs­beurteilung nicht mehr nur um Noten. Das Betragen ist ins Zentrum bei der Beurteilung gerückt – so sollen die Kinder frühzeitig wirtschaftsfähig gemacht werden: Teamkompetenzen, Selbstkompetenzen treten mit der Leistung in Deutsch, Mathematik und Französisch auf Augenhöhe auf. So haben die Schulleitungen der Primarschulen in Binningen und Bottmingen gemeinsam einen «Einschätzungsfragebogen» ­entwickelt, der bereits auf dem kompetenzorientierten Lehrplan 21 fusst mit seinen fast 3500 Haupt- und Unterkompetenzen. Denn Messbarkeit ist Voraussetzung dafür, dass der Lehrplan 21 die ihm zugedachte Steuerungsfunktion erfüllen kann.
«Kann einen anderen Standpunkt gelten lassen», «kann Kontakte aktiv aufbauen», «kann Konflikte fair bewältigen» – das Spielverhalten auf dem Fussballplatz führt nach diesem neuen Fragebogen dazu, ob die Kinder A-, E- oder P-fähig werden. Denn die Auswertung wird zum Gesamtbild über das Kind zusammengefügt.
Die Bemühung, Fortschritte und Kompetenzen der Schüler differenzierter darzustellen, ist offensichtlich. Im neuen Zeugnis zählen nicht mehr die Noten allein: Der Zwölfjährige «kann über sein Lernen nachdenken», «geht konstruktiv mit Kritik um», «kann mit Misserfolgen umgehen», «legt Wert auf ein sorgfältiges Arbeiten». Es ist wie der Versuch, Äpfel nicht mehr nur nach Gewicht und Frischegrad zu verkaufen; sie werden vermessen nach Wasser­anteil und Spurenelementen. Ganz abgesehen davon, dass es vielleicht noch völlig normal ist, wenn ein Zwölfjähriger nach einer Rüge seines Lehrers Tränen in den Augen hat – und eben nicht mit Kritik sonderlich erwachsen umgehen kann. Und mutmasslich ist ein Bub ein ungesundes Kind, wenn es lieber Fussball spielt als sorgfältig Hausaufgaben schreibt.
Lehrpersonen in der Denkfalle
Lehrpersonen, die mit diesem sektenhaften Fragebogen wie Scientology-­Schlangenfänger über die Kinder urteilen, halten entgegen, dass Sozialkompetenz und Selbstkompetenz – zum Beispiel die Kritikfähigkeit, die faire Konfliktbewältigung – relevant für die Leistungsfähigkeit sind. Das ist nur sehr bedingt richtig. Und es hätte bereits in der Notengebung selber Niederschlag gefunden, wäre es denn tatsächlich relevant für die Leistung gewesen.
Ein unartiges Kind, das unruhig ist und weniger aufpasst, schreibt vielleicht schlechtere Deutscharbeiten. Dies müsste schon in der Primarschule sichtbar sein. So aber tappen jene Lehrpersonen in eine Denkfalle: Sie bemessen Sozialkompetenz, nachdem sie bereits im Leistungsausweis (Note) ausgewiesen wäre, separat noch einmal und somit doppelt.
Gemäss Evaluations- und Einschätzungsbogen der Primarschulen in ­Binningen und Bottmingen gehören sozialinkompetente und selbstinkompetente Kinder tendenziell in den Leistungszug A. Der für den Staat charakterlich wohlgeformte Nachwuchs soll hingegen ins Niveau P und darf dann einmal Arzt oder Pilot werden, sprich eine akademische Laufbahn einschlagen. Kinder, die wenig/schwach mit Kritik konstruktiv umgehen können, ist der Aufenthalt im Niveau A empfohlen.
Das Messen und Benoten der Selbstkompetenz und der Sozialkompetenz, um das Kind in einen Leistungszug zu schicken, ist das, was der Pfarrer und Frau Holle im Mittelalter gemacht haben: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Goldmarie und Pechmarie. Wohl wissend, dass dies nie das Ziel der Primarschulleitungen von Bottmingen und Binningen war. Aber den Kompetenz-Bildungszielen des Lehrplans 21 verpflichtet – diesen angeblich für den globalen Markt gefragten und messbar und vergleichbar gemachten Fähigkeiten –, haben die Schulleitungen nun begonnen, einen abstrusen, sektenhaften Fragebogen zur Mess- und Überprüfbarkeit ihrer Kinder beizuziehen wie bei einem MAG. Und uns allen wird klar: Im Baselbiet steht Niveau A neu für «Arschlochkind» und Niveau P für «paradiesbefähigt».


1 Kommentar:

  1. Aus der Basler Zeitung vom 8.1.
    Mit einem offenen Brief will sich die Präsidentin der Schulleitungskonferenz der Primarstufe, Regula Ineichen, zu den derzeit anberaumten Übertrittsgesprächen von der Primar- in die Sekundarstufe erklären – vermutlich nicht zuletzt, weil Landrat Jürg Wiedemann die kursierenden Frage-bogen zum Übertritt in der BaZ scharf kritisiert hat. Sie seien sektiererisch, weil sogar Selbstkompetenzkriterien wie «Ihr Kind kann mit Kritik umgehen» Entscheidungsgrundlage sind, welchem Leistungszug ein Kind zugeteilt wird. Ihren Brief begründet das Präsidium letztlich mit den Worten, dass es «neue, aber auch vielfach bestehende Modalitäten» für die Übertrittsgespräche gebe.

    So sei es seit dem Jahr 2004 üblich, dass für Übertrittsentscheide neben den Noten auch die Persönlichkeitsentwicklung und die persönlichen situativen Lernvoraussetzungen mit in die Waagschale geworfen würden. Neu ist, so das Präsidium im offenen Brief, dass der neue Lehrplan und die neue Laufbahnverordnung «das bisherige Vorgehen legitimieren» und die Möglichkeit geben, das «Vorgehen für Eltern noch transparenter» zu gestalten. Dies, indem Kriterien im Lehrplan ausformuliert zur Verfügung stehen. Selbstverständlich werde man nicht den ganzen Lehrplan mit den Eltern anschauen, sondern selektiv Schlüsselkompetenzen auswählen, welche für die weitere schulische Laufbahn relevant seien.

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