Ist es ein Zufall, dass
die Schüler- und Elterngespräche zum Schulübertritt just auf denselben
Zeitpunkt fallen wie die Mitarbeitergespräche der Pharma-Unternehmen und der
Industrie, welche diese Konzerne für knapp eine Woche während des
Kalibrierungs- und Vermessungswahns am Menschen lahmlegen? Just in diesen
Tagen, im Dezember und Januar, erläutern auch die Lehrpersonen den «Erziehungsberechtigten»
in ihren Schulzimmern das Zeugnis und entscheiden – erstmals im
Baselbiet – auch den Schulübertritt von der sechsten Primar in einen der
drei Leistungszüge Niveau A, E und P der Sekundarschule.
Jürg Wiedemann ist Baselbieter Landrat und Sekundarlehrer, Bild: Basler Zeitung
Verfehlte Leistungsbeurteilung, Basler Zeitung, 5.1. von Jürg Wiedemann
Wobei, dies zum
allgemeinen Verständnis, Niveau A für die frühere Realschule, E für die
Sekundarschule und P für den stärksten Leistungszug, das Progymnasium, steht.
Die derzeitige Einschätzung der zwölfjährigen Kinder für den Übertritt in die
Mittelstufe ist einem industrialisierten Mitarbeitergespräch (MAG) ebenbürtig.
Das Betragen rückt ins
Zentrum
Längst geht es bei der
Leistungsbeurteilung nicht mehr nur um Noten. Das Betragen ist ins Zentrum bei
der Beurteilung gerückt – so sollen die Kinder frühzeitig wirtschaftsfähig
gemacht werden: Teamkompetenzen, Selbstkompetenzen treten mit der Leistung in Deutsch,
Mathematik und Französisch auf Augenhöhe auf. So haben die Schulleitungen der
Primarschulen in Binningen und Bottmingen gemeinsam einen
«Einschätzungsfragebogen» entwickelt, der bereits auf dem
kompetenzorientierten Lehrplan 21 fusst mit seinen fast 3500 Haupt- und
Unterkompetenzen. Denn Messbarkeit ist Voraussetzung dafür, dass der Lehrplan
21 die ihm zugedachte Steuerungsfunktion erfüllen kann.
«Kann einen anderen
Standpunkt gelten lassen», «kann Kontakte aktiv aufbauen», «kann Konflikte fair
bewältigen» – das Spielverhalten auf dem Fussballplatz führt nach diesem neuen
Fragebogen dazu, ob die Kinder A-, E- oder P-fähig werden. Denn die Auswertung
wird zum Gesamtbild über das Kind zusammengefügt.
Die Bemühung, Fortschritte
und Kompetenzen der Schüler differenzierter darzustellen, ist offensichtlich.
Im neuen Zeugnis zählen nicht mehr die Noten allein: Der Zwölfjährige «kann
über sein Lernen nachdenken», «geht konstruktiv mit Kritik um», «kann mit
Misserfolgen umgehen», «legt Wert auf ein sorgfältiges Arbeiten». Es ist wie
der Versuch, Äpfel nicht mehr nur nach Gewicht und Frischegrad zu verkaufen;
sie werden vermessen nach Wasseranteil und Spurenelementen. Ganz abgesehen
davon, dass es vielleicht noch völlig normal ist, wenn ein Zwölfjähriger nach
einer Rüge seines Lehrers Tränen in den Augen hat – und eben nicht mit Kritik
sonderlich erwachsen umgehen kann. Und mutmasslich ist ein Bub ein ungesundes
Kind, wenn es lieber Fussball spielt als sorgfältig Hausaufgaben schreibt.
Lehrpersonen in der Denkfalle
Lehrpersonen, die mit
diesem sektenhaften Fragebogen wie Scientology-Schlangenfänger über die Kinder
urteilen, halten entgegen, dass Sozialkompetenz und Selbstkompetenz – zum
Beispiel die Kritikfähigkeit, die faire Konfliktbewältigung – relevant für
die Leistungsfähigkeit sind. Das ist nur sehr bedingt richtig. Und es hätte
bereits in der Notengebung selber Niederschlag gefunden, wäre es denn
tatsächlich relevant für die Leistung gewesen.
Ein unartiges Kind, das
unruhig ist und weniger aufpasst, schreibt vielleicht schlechtere
Deutscharbeiten. Dies müsste schon in der Primarschule sichtbar sein. So aber
tappen jene Lehrpersonen in eine Denkfalle: Sie bemessen Sozialkompetenz,
nachdem sie bereits im Leistungsausweis (Note) ausgewiesen wäre, separat noch
einmal und somit doppelt.
Gemäss Evaluations- und
Einschätzungsbogen der Primarschulen in Binningen und Bottmingen gehören
sozialinkompetente und selbstinkompetente Kinder tendenziell in den
Leistungszug A. Der für den Staat charakterlich wohlgeformte Nachwuchs soll
hingegen ins Niveau P und darf dann einmal Arzt oder Pilot werden, sprich eine
akademische Laufbahn einschlagen. Kinder, die wenig/schwach mit Kritik
konstruktiv umgehen können, ist der Aufenthalt im Niveau A empfohlen.
Das Messen und Benoten der
Selbstkompetenz und der Sozialkompetenz, um das Kind in einen Leistungszug zu
schicken, ist das, was der Pfarrer und Frau Holle im Mittelalter gemacht haben:
die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Goldmarie und Pechmarie.
Wohl wissend, dass dies nie das Ziel der Primarschulleitungen von Bottmingen
und Binningen war. Aber den Kompetenz-Bildungszielen des Lehrplans 21
verpflichtet – diesen angeblich für den globalen Markt gefragten und messbar
und vergleichbar gemachten Fähigkeiten –, haben die Schulleitungen nun
begonnen, einen abstrusen, sektenhaften Fragebogen zur Mess- und
Überprüfbarkeit ihrer Kinder beizuziehen wie bei einem MAG. Und uns allen wird
klar: Im Baselbiet steht Niveau A neu für «Arschlochkind» und Niveau P für
«paradiesbefähigt».
Aus der Basler Zeitung vom 8.1.
AntwortenLöschenMit einem offenen Brief will sich die Präsidentin der Schulleitungskonferenz der Primarstufe, Regula Ineichen, zu den derzeit anberaumten Übertrittsgesprächen von der Primar- in die Sekundarstufe erklären – vermutlich nicht zuletzt, weil Landrat Jürg Wiedemann die kursierenden Frage-bogen zum Übertritt in der BaZ scharf kritisiert hat. Sie seien sektiererisch, weil sogar Selbstkompetenzkriterien wie «Ihr Kind kann mit Kritik umgehen» Entscheidungsgrundlage sind, welchem Leistungszug ein Kind zugeteilt wird. Ihren Brief begründet das Präsidium letztlich mit den Worten, dass es «neue, aber auch vielfach bestehende Modalitäten» für die Übertrittsgespräche gebe.
So sei es seit dem Jahr 2004 üblich, dass für Übertrittsentscheide neben den Noten auch die Persönlichkeitsentwicklung und die persönlichen situativen Lernvoraussetzungen mit in die Waagschale geworfen würden. Neu ist, so das Präsidium im offenen Brief, dass der neue Lehrplan und die neue Laufbahnverordnung «das bisherige Vorgehen legitimieren» und die Möglichkeit geben, das «Vorgehen für Eltern noch transparenter» zu gestalten. Dies, indem Kriterien im Lehrplan ausformuliert zur Verfügung stehen. Selbstverständlich werde man nicht den ganzen Lehrplan mit den Eltern anschauen, sondern selektiv Schlüsselkompetenzen auswählen, welche für die weitere schulische Laufbahn relevant seien.