20. Januar 2016

"Die Umstellung hält sich in Grenzen"

In St. Gallen spürt man offenbar den wachsenden Widerstand gegen den Lehrplan 21. Nur so ist nachvollziehbar, dass ein Journalist nach Basel geschickt wird, um dort die Lage nach der Einführung zu sondieren. Das Urteil fällt entsprechend mild aus: Im Amt betont man, dass der neue Lehrplan keine wesentlichen Neuerungen bringe. Ausserdem bemüht man sich, "Unwahrheiten" über den Lehrplan 21 mit Hilfe einer Power-Point-Präsentation aus dem Weg zu räumen. Und die Präsidentin der kantonalen Schulkonferenz beruhigt. Nur wer sich den neuen Entwicklungen gegenüber verschlossen habe, habe jetzt halt Mühe. Das alte Cliché: Die Kritiker müssen bequeme, konservative Leute sein. 
Noch etwas anderes fällt auf: Während die Fächerkombination Geografie/Geschichte in Graubünden offenbar kein Problem ist, müssen sich die Basler Lehrer dazu nachqualifizieren. (uk)












Fazit eines Besuches in Basel: Der Lehrplan 21 stosse inhaltlich auf Zuspruch, Bild: Georgios Kefalas
Arbeiten mit dem "Monster", St. Galler Tagblatt, 20.1. von Tobias Bär


Ein dickes Buch kann abschreckend wirken. Das gilt nicht nur für Schüler. Zu umfangreich, zu detailliert, zu technokratisch – so lautet das Urteil der erwachsenen Kritiker des Lehrplans 21. Dass sich die Autoren bemühten, das finale Werk im Vergleich zu den Entwürfen zu entschlacken und seinen Umfang auf unter 500 Seiten zu drücken, half nichts mehr. Das Bild eines «Monsters», erschaffen von «Bildungsbürokraten», hatte sich festgesetzt.

Regina Kuratle setzt deshalb auf Reduktion. Spricht sie in ihrem Büro im Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt über die Vorzüge des Lehrplans 21, dann tut sie das mit Hilfe einer 22seitigen Broschüre oder einer Power-Point-Präsentation mit 35 Folien. Die Unterlagen dienen Kuratle dazu, einige «Unwahrheiten» über den Lehrplan 21, den sie in Basel-Stadt verantwortet, aus dem Weg zu räumen: «Er ist weder dicker als die bisherigen Lehrpläne, noch bringt er im Vergleich zu diesen wesentliche Neuerungen.» Kuratles Aussage lässt sich nirgends besser überprüfen als eben in Basel. Der Stadtkanton hat den neuen Lehrplan, mit dem die 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone ihre Bildungsziele für die Volksschule vereinheitlichen, im Sommer 2015 eingeführt – dies im Rahmen einer grossen Schulreform und mindestens zwei Jahre vor allen anderen.

«Wir füllen das mit Inhalt»

Gaby Hintermann unterrichtet Deutsch an der Sekundarschule Theobald Baerwart im Kleinbasel direkt am Rhein. Hintermann sagt: «Es ist nicht so, dass ich in den Sommerferien den Lehrplan 21 gelesen habe und jetzt ganz anders unterrichte.» Wurde der Unterricht also nicht anwendungsorientierter, zielgerichteter und besser auf die einzelnen Schüler zugeschnitten, wie sich das die Macher versprochen hatten? Natürlich habe sie ihre Unterrichtsmethoden angepasst, sagt Hintermann, die als Präsidentin der kantonalen Schulkonferenz die Basler Lehrer vertritt. «Der Lehrplan 21 legt Wert darauf, dass die Schüler ihr Lernen reflektieren. Sie müssen also vermehrt beschreiben, wie sie eine Aufgabe angepackt haben.» Der Lehrplan nehme aber viele Entwicklungen auf, die bereits zuvor Eingang in den Schulalltag gefunden hätten. «Für Lehrer, die diese Entwicklungen mitgemacht haben, hält sich die Umstellung in Grenzen. Hat man sich diesen verweigert, ist der Schritt hingegen ziemlich gross», sagt Hintermann.

Die Basler gehen mit dem neuen Lehrplan pragmatisch um. Das gilt sowohl für das Erziehungsdepartement als auch für die Schulleiter und Lehrer. Die baselstädtischen Volksschulen können die Einführung selber planen, sie haben dafür bis 2021 Zeit. Im Schulhaus Theobald Baerwart gilt folgender Fahrplan: Ein Drittel der Lektionen sollten bereits heute so aufgebaut sein, dass sie dem Lehrplan 21 entsprechen. Ab Sommer 2016 sollen es dann zwei Drittel sein.

Ein Lehrplan dürfe nicht von oben nach unten umgesetzt werden, sagt Regina Kuratle. «Mit Vorschriften kommt man nirgends hin, man muss die Lehrer dazu einladen, ihren Unterricht zu entwickeln.» Auf einer von Kuratles Folien steht: Der Lehrplan 21 ist kein Gesetzbuch, er ist ein Kompass. Und genau so begreift die Lehrerin Gaby Hintermann den Lehrplan: «Wir sollten einen selbstbewussten Umgang mit dem Ding finden», sagt sie und zeigt auf den Ordner, der vor ihr auf dem Tisch liegt. «Wir sind die, die das Geschriebene mit Inhalt füllen.»

Reizwort Kompetenzen

Diese Freiheit der Lehrpersonen sehen die Kritiker des Lehrplans gefährdet. Der Lehrer werde zu einem Coach degradiert, der die Schüler nur noch begleite, die klassische Wissensvermittlung bleibe auf der Strecke. Der Widerstand entzündet sich besonders an einem Wort: Kompetenzen. Als solche werden im Lehrplan die Lernziele beschrieben. «Es kann doch nicht sein, dass der Lehrer sagt: Wenn ihr wissen wollt, wo dieser Ort liegt, dann gebt ihn bei Google Maps ein», sagt Saskia Olsson. Die Kunststudentin sitzt im Vorstand eines Vereins, der den Lehrplan 21 vom Nachbarkanton Baselland fernhalten will. «Die Kernaufgabe der Lehrpersonen sollte weiterhin das Unterrichten vor der Klasse sein», sagt Olsson.

Genau, meint Gaby Hintermann, und das werde sich auch mit dem Lehrplan 21 nicht ändern. «So wie ich den Lehrplan lese, steht die Wissensvermittlung immer noch an erster Stelle.»

Viel Neues, aber kein Platz dafür

Ganz ohne Reibungen geht die Einführung des Lehrplans 21 aber auch am Rheinknie nicht vonstatten. Da wäre zum Beispiel das Problem der fehlenden Lehrmittel. Weil die anderen Kantone zögerlicher vorgehen als Basel, liegen nur für die wenigsten Fächer Lehrmittel vor, die den Vorgaben des Lehrplans entsprechen. Und da wären die Umstellungen, die mit der Zusammenlegung von Fächern – zum Beispiel Geographie und Geschichte – einhergehen. Zwar bietet der Kanton Weiterbildungen an, damit die Lehrer ihren Fächerkanon erweitern können. Das Problem sei, dass die Zertifikatslehrgänge am Samstag angeboten würden, meint die Leiterin der Sekundarschule Theobald Baerwart, Tove Specker: «Das kann ich nicht verlangen. Die Lehrer haben Anspruch auf ein freies Wochenende.»
Zudem, so Specker, würden mit dem Lehrplan die Module «Medien und Informatik» sowie «Berufliche Orientierung» eingeführt – im Stundenplan sei dafür aber kein Platz vorgesehen. «Man hat sehr viel Gutes in das Werk gepackt, aber leider nirgends Platz dafür geschaffen», sagt Gaby Hintermann.

Eymann lobt «unaufgeregte Lehrer»

Offener Widerspruch gegen den Inhalt des Lehrplans ist in Basel aber nur leise zu vernehmen. Der kantonale Erziehungsdirektor Christoph Eymann lobt denn auch die «unaufgeregte Art», mit der die Lehrer den Lehrplan aufgenommen hätten. Ein Beispiel dafür bekommt, wer Gaby Hintermann auf den Umfang des Lehrplans anspricht: «Da drin steht schon sehr viel, manches hätte ich weggelassen. Man muss den Lehrplan 21 deswegen aber nicht gleich in die Tonne treten.»


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