Das Fremdsprachenlernen bleibt in der Schweiz eine umstrittene
Sache. Sollen es zwei Fremdsprachen sein, die Primarschüler erlernen? Oder doch
nur eine? Sollen die Schülerinnen und Schüler an erster Stelle Englisch lernen
oder doch besser Französisch? Bekanntlich hat die Bildungspolitik dazu eine
klare Haltung und Strategie entwickelt: Es sollen zwei Fremdsprachen in der
Primarschule sein, beginnend im 3. und im 5. Schuljahr. Welche Fremdsprache
zuerst an die Reihe kommt, dies darf jeder Kanton eigenmächtig entscheiden.
Bildungspolitik oder Wissenschaft: Nach welchen Grundsätzen sollen Entscheide getroffen werden? Bild: Gaetan Bally
Bildungspolitik, nicht Wissenschaft, NZZ, 7.1. von Michael Schoenenberger
Umstritten
bleibt die Angelegenheit, weil einzelne Kantone ausscheren und nur noch eine
Fremdsprache auf der Primarschulstufe unterrichten lassen wollen. Überdies
äussern sich Lehrerverbände kritisch. Sie machen vor allem fehlende Ressourcen
geltend und stellen pädagogische Überlegungen an. Hinzu kommen Argumente von
jenen, die gerne in mathematische Kenntnisse investieren möchten: Das Erlernen
einer zweiten Fremdsprache brauche Zeit - diese Zeit fehle, um zum Beispiel
mehr Mathematik zu pauken.
Viele Worte, kaum Studien
Gerne
wird von den verschiedenen Akteuren - auf welcher Seite sie auch stehen - die
Wissenschaft bemüht. Um herauszufinden, was genau die Wissenschaft zum Erlernen
der Fremdsprachen zu sagen hat, hat die Koordinationskonferenz
Bildungsforschung von Bund und Kantonen eine systemische Forschungsübersicht
beim Danish Clearing House der Universität Århus in Auftrag gegeben. Das
ernüchternde Fazit lautet: Keine der verschiedenen Präferenzen zum
Fremdsprachenunterricht kann wissenschaftlich untermauert werden.
Die
systematische Übersicht wurde nach einem standardisierten Verfahren erstellt.
Es könne nahezu ausgeschlossen werden, dass öffentlich verfügbare
Forschungsinformationen nicht berücksichtigt würden, sagt Stefan Wolter von der
Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Der Bildungsökonom
hält weiter fest, dass die gefundene Forschung von externen Experten einzeln
nach ihrer Relevanz für die gewählte Fragestellung beurteilt wird. Die
systematische Übersicht sei deshalb nicht mit einer herkömmlichen
Literaturanalyse zu vergleichen und führe zu anderen Aussagen. «Mit rund 7000
Publikationen zum Thema ist die Ausbeute der Arbeit sehr gross», sagt Wolter
auf Anfrage. Allerdings seien nach der fundierten Analyse nur 43 Studien übrig
geblieben, die tatsächlich als wissenschaftliche Forschung bezeichnet werden
können. Bei vielen anderen handle es sich schlicht und einfach um
Meinungsaufsätze oder um die Beschreibung von Ergebnissen anderer Forscher,
sagt Wolter. Trotzdem werde in der politischen Debatte häufig auf solche nichtwissenschaftliche
Arbeit verwiesen, kritisiert er.
Kaum Aussagen möglich
Wichtige
Erkenntnis der Analyse ist, dass über die Reihenfolge von Fremdsprachen keine
Aussage gemacht werden kann. Für Schweizer Verhältnisse heisst das: Die
Wissenschaft kann nicht sagen, ob es besser ist, mit Französisch oder mit
Englisch in der Primarschule anzufangen. Nachweisen lässt sich, dass gute
Kenntnisse in der Schulsprache und in der ersten Fremdsprache sich positiv auf
den Erwerb einer zweiten Fremdsprache auswirken, wie Wolter betont. Es könne
überdies keine Überforderung der Schüler nachgewiesen werden, wenn zwei
Fremdsprachen gleichzeitig vermittelt würden. «Viel mehr als diese Erkenntnisse
gibt es nicht aus der Forschung», sagt er. Aber eine eindeutige
Schlussfolgerung zieht der Bildungsökonom dann doch: «Wer den Unterricht einer
zweiten Fremdsprache aus der Primarschule verbannen will, kann dies mit
Sicherheit nicht mit wissenschaftlicher Forschung begründen.» Eine solche
Entscheidung wäre bildungspolitisch motiviert, nicht wissenschaftlich.
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