11. Dezember 2015

Verarmte Aussensicht der pädagogischen Realität

In einer seiner letzten Abhandlungen nannte Sigmund Freud das Erziehen einen jener «unmöglichen» Berufe, in denen man sich «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann». Die Äusserung steht in einem Kontext, in dem sich Freud mit der Persönlichkeit des Analytikers auseinandersetzt. Diese kann sich als Hindernis einer erfolgreichen Therapie erweisen, lässt sich aber nie so weit aufdecken, dass sie als therapeutischer Wirkfaktor genutzt werden könnte. Kein Mensch wird jemals die Vollkommenheit erreichen, deren es bedürfte, um die eigene Person als Mittel zum Zweck einzusetzen.














Lehrplan 21 stärkt den Lehrerberuf nicht, Bild: Gut
Politik der pädagogischen Aufmerksamkeits-Verschiebung, NZZ, 7.12. von Walter Herzog

Im Binnenraum der Schule
Zwar wird gerade von Lehrpersonen gerne erwartet, dass sie Vorbild sind, um gezielt auf ihre Zöglinge einzuwirken. Aber Vorbild kann man nicht sein wollen, als Vorbild muss man gewählt werden. Genau so, wie sich Aktivität und Passivität in einer Psychoanalyse nicht einseitig auf Analytiker und Analysand verteilen, sind Bildung und Erziehung interaktive Prozesse. Kinder sind an ihrer Erziehung ebenso beteiligt wie ihre Eltern, und ohne aktive Teilnahme der Schülerinnen und Schüler am Unterricht würde die Schule einer ihrer wichtigsten Ressourcen beraubt.

Da in pädagogischen Situationen auf beiden Seiten Subjekte stehen, lassen sich Erziehung und Unterricht auch nicht auf Technologie reduzieren. Es gibt Ansprüche an das pädagogische Handeln, die unabhängig sind von seiner Zwecksetzung. In den Worten von Kant unterliegt, wer unterrichtet oder erzieht, dem Anspruch, die Adressaten seines Handelns nie bloss als Mittel zum Zweck, sondern jederzeit als Selbstzweck zu behandeln. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass strenge Strafen das effektivste Mittel sind, um Schüler zum Lernen anzuhalten, wäre es moralisch verwerflich, dieser Erkenntnis Folge zu leisten.

Des Weiteren haben es Lehrpersonen im Unterschied zum Arzt oder Psychotherapeuten in der Regel nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv. Das klassische Modell des pädagogischen Verhältnisses mag für die familiäre Erziehung seine Berechtigung haben, auf den Unterricht übertragen, führt es in die Irre. Weil Schülerinnen und Schüler keine passiven Objekte sind, ihre Beteiligung am Unterricht den Intentionen der Lehrkraft aber oft entgegenläuft, erweisen sich Schulklassen als äusserst komplexe Gebilde, die in ihrer Dynamik schwer vorhersehbar sind.

Wenn man sich im Lehrerberuf «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann», dann erklären diese drei Wahrheiten über den schulischen Unterricht, weshalb dem so ist. Zu viele Bedingungen pädagogischer Wirksamkeit entziehen sich der Kontrolle durch die Lehrperson, zu komplex ist das soziale Gefüge des Unterrichts, als dass das Lehrerhandeln technologisch abgesichert werden könnte, und zu sehr unterscheidet sich die pädagogische Berufsarbeit von einem industriellen Fertigungsprozess, als dass ethischen Ansprüchen ausgewichen werden könnte.

Die Schule, von aussen betrachtet
Es scheint, als würde die Einsicht in die «Unmöglichkeit» des Lehrerberufs vor unseren Augen in Vergessenheit geraten. Dafür verantwortlich ist eine Bildungspolitik, die – gewollt oder nicht – die Aufmerksamkeit vom schulischen Binnengeschehen zunehmend auf die Aussenwirkungen der Schule lenkt. Begonnen hat es mit den Pisa-Studien, die beanspruchen, das Wissen und Können 15-jähriger Schülerinnen und Schüler zu erfassen, dabei aber ausdrücklich davon absehen, nach welchem Lehrplan sie unterrichtet wurden. Die Schule wird gemäss ihrem Beitrag zur Produktion von Humankapital beurteilt, Bildung auf ihre Funktionalität für die erfolgreiche Bewältigung einer sich schnell verändernden Gesellschaft reduziert.

Entlarvend ist die Terminologie, die sich für die Pisa- und ähnliche Studien eingebürgert hat. Man spricht von Schulleistungsstudien, als ob die erfassten Leistungen nicht den Schülerinnen und Schülern, sondern der Schule zuzuschreiben wären. Das Input-Output-Denken, das auch vielen Modellen der Schulevaluation zugrunde liegt, verbannt das komplexe Bedingungsgefüge des schulischen Lernens in eine Black Box, deren Existenz zwar nicht geleugnet wird, die in ihrem Wirkungsgefüge aber unaufgeklärt bleibt. Bezeichnenderweise geht der Begriff der «guten Schule» auf eine Forschungstradition zurück, die im Englischen mit dem Etikett der «effective school» belegt wird. Das moralisch Gute der Schule, dem man im Binnenraum begegnet, fällt in deren Aussenbetrachtung dem technisch Guten gänzlich zum Opfer.

Nicht nur Harmos, auch das jüngste Reformprojekt der EDK, das den Gymnasien gewidmet ist, folgt dieser Logik zweckrationalen Denkens. Auch wenn betont wird, dass sie mehr als nur Zubringer der Universitäten sind, erscheinen die Gymnasien ausschliesslich im Lichte ihrer Leistungen für die «Langfristige Sicherung des prüfungsfreien Hochschulzugangs» (so der prätentiöse Titel des Projekts). Den Gymnasien wird gleichsam die Garantie abverlangt, dass künftig ausnahmslos alle Maturandinnen und Maturanden gewisse Stoffe in gewissen Fächern (noch beschränkt sich das Projekt auf Mathematik und Unterrichtssprache) lückenlos beherrschen.

Ein weiteres Beispiel ist das Bildungsmonitoring, das dem Bildungsbericht Schweiz zugrunde liegt. Es folgt einem simplen kybernetischen Schema, bei dem die Politik Ziele vorgibt, deren Erreichung von der Bildungsforschung überprüft wird, worauf die Politik entweder korrigierend eingreift oder neue Ziele setzt. Als Zielkriterien gelten Effektivität, Effizienz und Bildungsgerechtigkeit (Chancengleichheit) des Systems. Wie den Pisa-Studien wird dem Bildungsbericht eine Steuerungsfunktion zugewiesen. Daten, die sich nicht für Steuerungszwecke nutzen lassen, werden ausdrücklich nicht in den Bericht aufgenommen. Indem die Aufmerksamkeit vom Inneren der Schule auf deren Aussenwirkung verschoben wird, entschwinden die Erfolgsbedingungen des Lehrerhandelns dem politischen Blick. Ein lineares Verständnis pädagogischer Wirksamkeit rückt an die Stelle des kommunikativen und kooperativen Charakters pädagogischer Praxis. Ein technologisches Verständnis pädagogischen Handelns überdeckt die nicht eliminierbare moralische Basis pädagogischer Interaktionen. Und ein irreführendes Verständnis der Lehrer-Schüler-Beziehung lenkt von der eminenten Komplexität und Dynamik des Unterrichtsgeschehens ab.

Die Folgen sind in mindestens dreierlei Hinsicht gravierend. Erstens folgt auf den Entzug der Aufmerksamkeit ein Entzug der Ressourcen. Statt vermehrt in den Binnenbereich der Schule zu investieren, werden die knapper werdenden finanziellen Mittel dazu verwendet, die Schule mit einem Schwarm von Expertinnen und Experten zu umgeben, die Evaluationen durchführen, Schülerleistungen messen und Output-Daten sammeln, oft ohne Nutzen für die pädagogische Praxis.

Zweitens geht die Verschiebung der pädagogischen Aufmerksamkeit mit einer Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger einher. In dem Masse, wie das Bildungssystem einer Steuerung über den Output unterworfen wird, erweist sich die demokratische Kontrolle des Systems als obsolet. Nicht nur Harmos und der Lehrplan 21, auch die vielenorts geplante oder schon vollzogene Abschaffung der lokalen Schulaufsicht zeigen, dass ein wesentliches Element unserer Schule, nämlich deren öffentlicher Charakter, in Gefahr steht, klammheimlich abgeschafft zu werden.

Drittens führt die Ablenkung von den Realbedingungen pädagogischer Wirksamkeit zur Überschätzung der Möglichkeiten schulischer Bildung. Bildung scheint machbar zu sein, wenn nur die richtigen Massnahmen getroffen werden. Ein Steuerungswahn macht sich breit, der suggeriert, durch Intensivierung der Kontrolle lasse sich erreichen, was durch Vertrauen in die Professionalität des Lehrerhandelns nicht erreichbar sei.

Damit wird Tendenzen Vorschub geleistet, die in Standardisierung und Zentralisierung den Königsweg zur Qualitätssicherung im Bildungswesen sehen. Doch die Erfolgsaussichten pädagogischen Handelns liegen nicht in der Nivellierung lokaler und partikularer Gegebenheiten. Letztlich sind es die konkreten Umstände, die Rücksichtnahme auf die heterogenen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler sowie die Fähigkeit der Lehrperson, den oft widersprüchlichen Anforderungen pädagogischen Handelns gerecht zu werden, die darüber befinden, ob Bildungsprozesse gelingen oder nicht. Eine Politik, die versucht, ihr zweckrationales Verständnis von Schule im Inneren der Schule zu etablieren, wie es tendenziell mit dem Lehrplan 21 geschieht, trägt nicht dazu bei, den Lehrerberuf zu stärken.

Das Gebot der Stunde ist daher, der Politik bewusst zu machen, dass ihre Aussensicht der Schule ein verarmtes Abbild der pädagogischen Realität der Schule darstellt, und ihr in Erinnerung zu rufen, was ihre eigentliche Aufgabe wäre. Diese liegt nicht im Durchgriff auf den Binnenbereich der Schule, sondern in der Schaffung von Rahmenbedingungen, die es den Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen, ihrer Arbeit professionell, d. h. unter optimaler Ausnutzung der Erfolgsbedingungen pädagogischen Handelns und im Wissen um die «Unmöglichkeit» ihres Berufs, und verantwortungsvoll nachzugehen.

Walter Herzog ist em. Professor für Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Didaktik und Schulforschung an der Universität Bern.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen