In einer seiner
letzten Abhandlungen nannte Sigmund Freud das Erziehen einen jener
«unmöglichen» Berufe, in denen man sich «des ungenügenden Erfolgs von
vornherein sicher sein kann». Die Äusserung steht in einem Kontext, in dem sich
Freud mit der Persönlichkeit des Analytikers auseinandersetzt. Diese kann sich
als Hindernis einer erfolgreichen Therapie erweisen, lässt sich aber nie so
weit aufdecken, dass sie als therapeutischer Wirkfaktor genutzt werden könnte.
Kein Mensch wird jemals die Vollkommenheit erreichen, deren es bedürfte, um die
eigene Person als Mittel zum Zweck einzusetzen.
Lehrplan 21 stärkt den Lehrerberuf nicht, Bild: Gut
Politik der pädagogischen Aufmerksamkeits-Verschiebung, NZZ, 7.12. von Walter Herzog
Im Binnenraum der Schule
Zwar wird gerade
von Lehrpersonen gerne erwartet, dass sie Vorbild sind, um gezielt auf ihre
Zöglinge einzuwirken. Aber Vorbild kann man nicht sein wollen, als Vorbild muss
man gewählt werden. Genau so, wie sich Aktivität und Passivität in einer
Psychoanalyse nicht einseitig auf Analytiker und Analysand verteilen, sind
Bildung und Erziehung interaktive Prozesse. Kinder sind an ihrer Erziehung
ebenso beteiligt wie ihre Eltern, und ohne aktive Teilnahme der Schülerinnen
und Schüler am Unterricht würde die Schule einer ihrer wichtigsten Ressourcen
beraubt.
Da in pädagogischen
Situationen auf beiden Seiten Subjekte stehen, lassen sich Erziehung und
Unterricht auch nicht auf Technologie reduzieren. Es gibt Ansprüche an das
pädagogische Handeln, die unabhängig sind von seiner Zwecksetzung. In den
Worten von Kant unterliegt, wer unterrichtet oder erzieht, dem Anspruch, die
Adressaten seines Handelns nie bloss als Mittel zum Zweck, sondern jederzeit
als Selbstzweck zu behandeln. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass
strenge Strafen das effektivste Mittel sind, um Schüler zum Lernen anzuhalten,
wäre es moralisch verwerflich, dieser Erkenntnis Folge zu leisten.
Des Weiteren haben
es Lehrpersonen im Unterschied zum Arzt oder Psychotherapeuten in der Regel
nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv.
Das klassische Modell des pädagogischen Verhältnisses mag für die familiäre
Erziehung seine Berechtigung haben, auf den Unterricht übertragen, führt es in
die Irre. Weil Schülerinnen und Schüler keine passiven Objekte sind, ihre
Beteiligung am Unterricht den Intentionen der Lehrkraft aber oft entgegenläuft,
erweisen sich Schulklassen als äusserst komplexe Gebilde, die in ihrer Dynamik
schwer vorhersehbar sind.
Wenn man sich im
Lehrerberuf «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann», dann
erklären diese drei Wahrheiten über den schulischen Unterricht, weshalb dem so
ist. Zu viele Bedingungen pädagogischer Wirksamkeit entziehen sich der
Kontrolle durch die Lehrperson, zu komplex ist das soziale Gefüge des
Unterrichts, als dass das Lehrerhandeln technologisch abgesichert werden
könnte, und zu sehr unterscheidet sich die pädagogische Berufsarbeit von einem
industriellen Fertigungsprozess, als dass ethischen Ansprüchen ausgewichen werden
könnte.
Die Schule, von aussen betrachtet
Es scheint, als
würde die Einsicht in die «Unmöglichkeit» des Lehrerberufs vor unseren Augen in
Vergessenheit geraten. Dafür verantwortlich ist eine Bildungspolitik, die –
gewollt oder nicht – die Aufmerksamkeit vom schulischen Binnengeschehen
zunehmend auf die Aussenwirkungen der Schule lenkt. Begonnen hat es mit den
Pisa-Studien, die beanspruchen, das Wissen und Können 15-jähriger Schülerinnen
und Schüler zu erfassen, dabei aber ausdrücklich davon absehen, nach welchem
Lehrplan sie unterrichtet wurden. Die Schule wird gemäss ihrem Beitrag zur
Produktion von Humankapital beurteilt, Bildung auf ihre Funktionalität für die
erfolgreiche Bewältigung einer sich schnell verändernden Gesellschaft
reduziert.
Entlarvend ist die
Terminologie, die sich für die Pisa- und ähnliche Studien eingebürgert hat. Man
spricht von Schulleistungsstudien, als ob die erfassten Leistungen nicht den
Schülerinnen und Schülern, sondern der Schule zuzuschreiben wären. Das
Input-Output-Denken, das auch vielen Modellen der Schulevaluation zugrunde
liegt, verbannt das komplexe Bedingungsgefüge des schulischen Lernens in eine
Black Box, deren Existenz zwar nicht geleugnet wird, die in ihrem
Wirkungsgefüge aber unaufgeklärt bleibt. Bezeichnenderweise geht der Begriff
der «guten Schule» auf eine Forschungstradition zurück, die im Englischen mit
dem Etikett der «effective school» belegt wird. Das moralisch Gute der Schule,
dem man im Binnenraum begegnet, fällt in deren Aussenbetrachtung dem technisch
Guten gänzlich zum Opfer.
Nicht nur Harmos,
auch das jüngste Reformprojekt der EDK, das den Gymnasien gewidmet ist, folgt
dieser Logik zweckrationalen Denkens. Auch wenn betont wird, dass sie mehr als
nur Zubringer der Universitäten sind, erscheinen die Gymnasien ausschliesslich
im Lichte ihrer Leistungen für die «Langfristige Sicherung des prüfungsfreien
Hochschulzugangs» (so der prätentiöse Titel des Projekts). Den Gymnasien wird
gleichsam die Garantie abverlangt, dass künftig ausnahmslos alle Maturandinnen
und Maturanden gewisse Stoffe in gewissen Fächern (noch beschränkt sich das
Projekt auf Mathematik und Unterrichtssprache) lückenlos beherrschen.
Ein weiteres
Beispiel ist das Bildungsmonitoring, das dem Bildungsbericht Schweiz zugrunde
liegt. Es folgt einem simplen kybernetischen Schema, bei dem die Politik Ziele
vorgibt, deren Erreichung von der Bildungsforschung überprüft wird, worauf die
Politik entweder korrigierend eingreift oder neue Ziele setzt. Als
Zielkriterien gelten Effektivität, Effizienz und Bildungsgerechtigkeit
(Chancengleichheit) des Systems. Wie den Pisa-Studien wird dem Bildungsbericht
eine Steuerungsfunktion zugewiesen. Daten, die sich nicht für Steuerungszwecke
nutzen lassen, werden ausdrücklich nicht in den Bericht aufgenommen. Indem die
Aufmerksamkeit vom Inneren der Schule auf deren Aussenwirkung verschoben wird,
entschwinden die Erfolgsbedingungen des Lehrerhandelns dem politischen Blick.
Ein lineares Verständnis pädagogischer Wirksamkeit rückt an die Stelle des
kommunikativen und kooperativen Charakters pädagogischer Praxis. Ein
technologisches Verständnis pädagogischen Handelns überdeckt die nicht
eliminierbare moralische Basis pädagogischer Interaktionen. Und ein
irreführendes Verständnis der Lehrer-Schüler-Beziehung lenkt von der eminenten
Komplexität und Dynamik des Unterrichtsgeschehens ab.
Die Folgen sind in
mindestens dreierlei Hinsicht gravierend. Erstens folgt auf den Entzug der
Aufmerksamkeit ein Entzug der Ressourcen. Statt vermehrt in den Binnenbereich
der Schule zu investieren, werden die knapper werdenden finanziellen Mittel
dazu verwendet, die Schule mit einem Schwarm von Expertinnen und Experten zu
umgeben, die Evaluationen durchführen, Schülerleistungen messen und
Output-Daten sammeln, oft ohne Nutzen für die pädagogische Praxis.
Zweitens geht die
Verschiebung der pädagogischen Aufmerksamkeit mit einer Entmündigung der
Bürgerinnen und Bürger einher. In dem Masse, wie das Bildungssystem einer
Steuerung über den Output unterworfen wird, erweist sich die demokratische Kontrolle
des Systems als obsolet. Nicht nur Harmos und der Lehrplan 21, auch die
vielenorts geplante oder schon vollzogene Abschaffung der lokalen Schulaufsicht
zeigen, dass ein wesentliches Element unserer Schule, nämlich deren
öffentlicher Charakter, in Gefahr steht, klammheimlich abgeschafft zu werden.
Drittens führt die
Ablenkung von den Realbedingungen pädagogischer Wirksamkeit zur Überschätzung
der Möglichkeiten schulischer Bildung. Bildung scheint machbar zu sein, wenn
nur die richtigen Massnahmen getroffen werden. Ein Steuerungswahn macht sich
breit, der suggeriert, durch Intensivierung der Kontrolle lasse sich erreichen,
was durch Vertrauen in die Professionalität des Lehrerhandelns nicht erreichbar
sei.
Damit wird
Tendenzen Vorschub geleistet, die in Standardisierung und Zentralisierung den
Königsweg zur Qualitätssicherung im Bildungswesen sehen. Doch die
Erfolgsaussichten pädagogischen Handelns liegen nicht in der Nivellierung
lokaler und partikularer Gegebenheiten. Letztlich sind es die konkreten Umstände,
die Rücksichtnahme auf die heterogenen Voraussetzungen der Schülerinnen und
Schüler sowie die Fähigkeit der Lehrperson, den oft widersprüchlichen
Anforderungen pädagogischen Handelns gerecht zu werden, die darüber befinden,
ob Bildungsprozesse gelingen oder nicht. Eine Politik, die versucht, ihr
zweckrationales Verständnis von Schule im Inneren der Schule zu etablieren, wie
es tendenziell mit dem Lehrplan 21 geschieht, trägt nicht dazu bei, den
Lehrerberuf zu stärken.
Das Gebot der
Stunde ist daher, der Politik bewusst zu machen, dass ihre Aussensicht der
Schule ein verarmtes Abbild der pädagogischen Realität der Schule darstellt, und
ihr in Erinnerung zu rufen, was ihre eigentliche Aufgabe wäre. Diese liegt
nicht im Durchgriff auf den Binnenbereich der Schule, sondern in der Schaffung
von Rahmenbedingungen, die es den Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen, ihrer
Arbeit professionell, d. h. unter optimaler Ausnutzung der Erfolgsbedingungen
pädagogischen Handelns und im Wissen um die «Unmöglichkeit» ihres Berufs, und
verantwortungsvoll nachzugehen.
Walter Herzog ist
em. Professor für Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Didaktik und
Schulforschung an der Universität Bern.
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