Brunner: Mut zum gesunden Menschenverstand, Bild: Juri Junkov
Schulpsychologe Martin Brunner: "Zehn Schüler pro Primarklasse", BZ Basel, 30.12.
Mit
Martin Brunner (65) geht Ende Jahr einer der besten Kenner der Baselbieter
Schule in Pension. Er hat die Schule seit 1976 aus ganz verschiedenen
Perspektiven kennen gelernt (siehe spezielles Textelement), in den letzten acht
Jahren als Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Baselland. Mit der bz
schaut er zurück auf die bewegte Zeit mit vielen Veränderungen. Weniger
gesprächig ist Brunner, was die Zukunft seiner Fachstelle betrifft.
Denn dem
Schulpsychologischen Dienst blüht nun, was anderen Abteilungen innerhalb der
Bildungsdirektion auch schon widerfahren ist: Der abtretende
Dienststellenleiter wird nur mit einer Zwischenlösung ersetzt, weil die neue
Vorsteherin Monica Gschwind auch hier die erste Ausschreibung einer
Nachfolgelösung stoppte und jetzt nicht rechtzeitig einen Brunner-Ersatz
präsentieren kann.
Herr
Brunner, Sie können auf 40 Jahre Schulgeschichte zurückblicken. Wie haben
sich in dieser Zeit die Schüler verändert?
Martin
Brunner: Wichtig
ist mir: Die Grundkonstellation der Schule mit Schülern, Lehrern und Eltern ist
gleichgeblieben und damit vieles, was Schule wesentlich ausmacht. Aber die
Gesellschaft, und mit ihr die Akteure der Schule, haben sich schon verändert.
Stichworte sind etwa Schnelllebigkeit, Individualisierung und
«Elektronisierung». Auch Familienmodelle und das Verhältnis der Geschlechter
zueinander haben sich verändert. Die Schüler stehen heute unter grösserem
Leistungs- und Anpassungsdruck; wer nicht mindestens in die Sek E kommt, meint,
verloren zu haben. Viele Schüler scheitern an diesen hohen Anpassungsleistungen
und werden prompt auch als unangepasst – verhaltensauffällig eben –
wahrgenommen. Das passiert heute leichter als vor 40 Jahren, mit der
Konsequenz, dass an den Rändern ausgesondert wird.
Der Druck
kommt ja oft von den Eltern. Inwieweit haben sich denn die verändert?
Eltern
haben aufgrund der erwähnten Individualisierung heute einen viel grösseren
Anspruch, dass die Schule ein just auf ihr Kind zugeschnittenes Angebot machen
muss. Eltern sind anspruchsvoller geworden. Sie wissen mehr über spezifische
Störungsbilder, und sie stellen heute viel öfter die Autorität der Schule
infrage. Und wenn die Kinder spüren, dass sie nicht das bekommen, was die
Eltern wollen, so sind sie weniger bereit, das zu akzeptieren, was ihnen die
Schule bietet. Dazu kommt, dass der Lehrerberuf in den letzten Jahrzehnten an
Ansehen verloren hat. Dabei sind die Lehrer nicht schlechter geworden.
Vielleicht hat der Ansehensverlust des Berufsstands auch mit der Feminisierung
vor allem in der Primarschule zu tun, was ein gesellschaftliches Phänomen ist.
Wobei ich nicht weiss, was Huhn und was Ei ist. Das heisst, ob die
Feminisierung oder der Ansehensverlust zuerst da war; aber beides hat
miteinander zu tun.
Haben sich
auch die Änderungen bei der Schulorganisation auf das Verhalten der Schüler
ausgewirkt?
Eine der
wichtigsten Veränderungen besteht darin, dass sich heute Schüler schon in der
Primarstufe auf mehrere Lehrpersonen in der gleichen Klasse einstellen müssen.
Da ist eine Klassenlehrerin, jemand, der deren Teilpensum abdeckt, der
Heilpädagoge, bei einer integrierten Klasse eventuell noch eine Heil- oder
Sozialpädagogin für die Sonderschüler, und so weiter. Die berühmten Ergebnisse
von Hattie, der untersuchte, was wirklich Einfluss hat auf den Lernerfolg,
zeigten unter anderem, dass ein wichtiger Einflussfaktor die «Klarheit der
Lehrperson» ist. Wie soll das mit vier verschiedenen Lehrpersonen gehen? Das
ist – wenn überhaupt – nur möglich mit einem riesigen Koordinationsaufwand. Die
hohe Spezialisierung und damit die Fraktionierung des Unterrichts können vor
allem für den Lernerfolg der jüngeren Kinder nicht gut sein.
Wie viele
Lehrer sollten denn maximal in der gleichen Primarklasse unterrichten?
Mein Rat:
Eine Lehrperson pro Klasse, aber die Klasse sollte nur zehn Kinder haben. Das
geht natürlich nur, wenn die Spezialisierung massiv reduziert wird. Lehrer
sollten Allrounder sein, die auch von den Spezialgebieten etwas verstehen.
Spezialistinnen sollten erst sehr viel höherschwellig zum Einsatz kommen. Auf
der Sekundarstufe ist es etwas anders, aber auch dort spielt die Fachkompetenz
der Lehrperson gemäss der angesprochenen Studie nicht die zentrale Rolle, die
ihr oft zugeschrieben wird. Natürlich muss ein Französisch-Lehrer die Sprache
können. Aber viel wichtiger als die perfekte Beherrschung ist, dass der Lehrer
bei den Schülern die Begeisterung fürs Französisch wecken kann. Wohlverstanden:
Ich bin nicht der Meinung, die Schule brauche momentan eine weitere Reform.
Aber an gewissen Haltungen könnte man durchaus arbeiten. Und vermehrt bräuchte
es den Mut zum gesunden Menschenverstand.
Die
inzwischen abgeschafften Schulinspektoren waren früher der Inbegriff des
gesunden Menschenverstands im Schulbereich. Ein Verlust also?
Dazu
erzähle ich Ihnen ein Beispiel aus meinem eigenen Berufsleben: Als junger
Lehrer sah ich den Besuchen der Inspektoren natürlich mit Respekt und auch
ein bisschen Angst entgegen. Wir hatten umfangreiche Präparationen abzuliefern
und achteten penibel auf unser Lehrverhalten. Die guten Inspektoren
merkten aber, wo Schwächen und Stärken lagen. Wir bekamen mündliche und
schriftliche Rückmeldungen. Das war für mich absolut hilfreich. Heute müssen
das die Schulleitungen übernehmen.
Und
können die das?
Ich
glaube, dass es eine kritische Schulgrösse gibt, wo das möglich ist.
Schulleitungen von grösseren Einheiten können die notwendige Professionalität
und die nötige Distanz als Chef entwickeln. Aber eine Dorfschule mit einer
Handvoll Lehrern, bei der einer noch ein kleines Teilpensum für die
Schulleitung hat, geht das weniger gut. Deshalb sollte man die Funktionsräume
überdenken. Andererseits habe ich in kleinen Schulen immer wieder beobachtet,
dass man unbürokratische Lösungen auch für grössere Probleme gefunden hat. Hier
spielt dann oft der angesprochene
gesunde Menschenverstand.
gesunde Menschenverstand.
Zu den
Änderungen der Schulorganisation gehört auch die Verlängerung der Primarschule.
Ist das eine Chance für die Kinder, weil der Niveau-Entscheid hinausgeschoben
wird?
Für die Schüler
ist die Selektion ein Riesenstress. Der dauert jetzt einfach noch länger.
Vielleicht gibt es Schüler, an denen die Selektionsfrage ein bisschen
vorbeigeht. Die profitieren vom längeren Verbleib im gewohnten sozialen Umfeld.
Ich habe den Wechsel auf sechs Primar- und drei Sekundarschuljahre fachlich
nicht zwingend gefunden, aber er war als Tribut an die schweizerische
Schulharmonisierung nötig.
Ein
anderer Acker im Umbruch ist die Lehrerausbildung: Stimmt hier heute das
Verhältnis zwischen Theorie und Praxis?
Ich bin
kein Spezialist für die Lehrerbildung. Falsch finde ich, in der
Lehrerausbildung Theorie und Praxis gegeneinander auszuspielen: Es braucht
sowohl viel Theorie wie auch viel Praxis. Theorie ist nötig, damit die Lehrer
gute Generalisten sein können. Sie müssen auch von Logopädie, Psychologie und
Psychomotorik, aber vor allem von Heilpädagogik eine Ahnung haben. Nur so wird
es längerfristig möglich, dass weniger Lehrpersonen in einer Klasse arbeiten.
Die Praxisorientierung der Ausbildung – ich erinnere wieder an Hattie – ist
besonders wichtig für den zukünftigen Lernerfolg der Kinder. Wenn das nicht
alles Platz hat, dann muss man sich Überlegungen zur Dauer der Ausbildung
machen.
In den
letzten Jahren ist die Schule auch in die Kritik gekommen, sie betreibe
Kuschelpädagogik. Zu Recht?
Mitnichten!
Die 68er-Generation habe alles falsch gemacht, deshalb hätten wir nun eine
Wohlfühl-Schule und die Schüler leisteten nichts mehr, weshalb wir zurück zur
Leistungsschule müssten – das ist ein verheerender Irrtum oder auch einfach
dumm. Dies aus zwei Gründen. Erstens hat man damit die Reformpädagogik der
1970er-Jahre nicht verstanden. Der noch viel grössere Irrtum ist aber zu
meinen, Leistung und Wohlfühlen seien ein Widerspruch. Das Gegenteil ist der Fall:
Wenn man eine Schule will, an der die Leistungen gut sind, so müssen die
Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schülern und zwischen den Schülern
untereinander stimmen. Das sind, um nochmals Hattie zu zitieren, die
wichtigsten Einflussfaktoren. Und das ist eigentlich meine wichtigste Botschaft
nach 40 Berufsjahren.
Wie weit
haben all die Änderungen den Schulpsychologischen Dienst verändert?
Die
wichtigste Änderung ist die Schärfung des systemischen Blicks. Ich erkläre das
anhand eines Beispiels: Eine Schülerin begann zu schwänzen, sackte mit den
Leistungen ab und verweigerte später den Unterricht ganz. Die Testpsychologie
ergab keine Erklärungen. Erst bei späteren Gesprächen fiel mir auf, dass die
Mutter oft übers Putzen sprach. Das Ansprechen dieser Beobachtung öffnete den
Weg für die spätere Erkenntnis, dass die Mutter unter schweren Zwangsstörungen
und Selbstmordgedanken litt: Das Mädchen blieb, ohne sich dessen bewusst zu
sein, lediglich zu Hause, um die Mutter zu schützen. Nachdem das klar war, ging
sie umgehend wieder zur Schule. Erst die Offenheit für das Zusammenwirken
verschiedener, auch äusserer Faktoren ermöglicht es, nicht beim Symptom stehen
zu bleiben. Eine negative Änderung ist andererseits, dass sich der
administrative Aufwand vergrössert hat. Angesichts der Tatsache, dass die
Ansprüche von Eltern und Öffentlichkeit an die Transparenz eines
Dienstleistungsbetriebs grösser geworden sind, aber auch weil Eltern ihre
Anliegen oft mit Anwälten durchzusetzen versuchen, ist das leider unumgänglich
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