3. Dezember 2015

"Eltern sollen Kinder wieder besser erziehen"

Die Lehrer wünschen sich von den Eltern mehr Respekt und weniger Einmischung. Das zeigt eine Umfrage des Zürcher Lehrerverbandes. Doch auch von Elternseite kommt Kritik.





































Sowohl unterengagierte wie auch überengagierte Eltern verursachen Zusatzaufwand, Bild: Schaad
Lehrer benoten Eltern schlecht, Tages Anzeiger, 3.12. von Hannes Nussbaumer


«Ich stelle eine Ernüchterung fest», sagt Lilo Lätzsch, die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands: eine Ernüchterung der Lehrer über die Eltern und deren schulisches Engagement.
Die Beteiligung der Eltern am Schulbetrieb ist im Kanton Zürich gesetzlich festgezurrt: Das 2005 angenommene Volksschulgesetz verlangt, dass Schule, Eltern und Lehrer zusammenarbeiten und dass die Eltern mitwirken, wenn es um Entscheide geht, die für ihr Kind wichtig sind. In der Folge hätten viele Schulen einen Effort unternommen und sich darum bemüht, die Beziehung zu den Eltern zu verbessern, sagt Lätzsch.
Doch inzwischen scheint aus der Euphorie ein Kater geworden zu sein. Diesen Schluss legen die Ergebnisse einer Umfrage des Zürcher Lehrerverbands (ZLV) nahe. Der Verband hat seine Mitglieder zu ihren Erfahrungen im Umgang mit den Eltern befragt. 40 Prozent der 2859 angeschriebenen Personen haben geantwortet – damit sei die Erhebung repräsentativ, schreibt der ZLV.
Laut Umfrage finden knapp zwei Drittel der Befragten, die Eltern sollten die Lehrerinnen und Lehrer «generell mehr respektieren». Ebenso verbreitet ist die Ansicht, die «Eltern sollten der Schule mehr vertrauen und sich weniger einmischen». Gar 70 Prozent sind der Meinung, die «Eltern sollten ihre Kinder wieder besser erziehen».
Fehlendes Interesse
Lilo Lätzsch diagnostiziert «ein grosses Unbehagen» bei den Lehrern. Ist also das Bemühen gescheitert, die Eltern stärker in die Schule einzubeziehen? Problem Nummer eins ist für die ZLV-Präsidentin, dass das Interesse am Schulalltag bei vielen Eltern klein sei – allzu klein, findet sie. Die Gründe dafür seien vielfältig: Bildungsfernen Eltern mangle es am Verständnis für die Bedeutung der Schule; bei Fremdsprachigen komme hinzu, dass sie sich oft wegen ihrer Deutschdefizite genieren und deshalb zurückhalten würden. Andere Eltern seien beruflich derart eingespannt, dass ihnen schlicht die Zeit fehle.
Verbandspräsidentin Lätzsch zieht daraus einen doppelten Schluss. Erstens: «Die Schule muss ihre Erwartungen an die Elternzusammenarbeit senken.» Zweitens: «Die Schule muss an die Eltern klare Ansprüche stellen.» Zum Beispiel liege es in der Verantwortung der Eltern, dass die Kinder ausgeschlafen in die Schule kommen würden.
Zum unterengagierten Elterntyp kommt – Problem Nummer zwei – der überengagierte hinzu. Laut ZLV-Umfrage ist der Aufwand, den die beiden Typen verursachen, ziemlich identisch. Überengagierte Eltern sind in der Regel gut gebildet und gut verdienend. Sie wollen unbedingt, dass ihr Kind ins Gymnasium kommt. Und sie haben Erwartungen, welche die Schule überfordern – zum Beispiel, dass ihr Kind schon in der Primarschule lernt, fliessend Englisch zu sprechen.
Und sie wissen sich Gehör zu verschaffen: Laut ZLV-Erhebung haben über 20 Prozent der Befragten mindestens einmal die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit dem Anwalt drohten. Andere Eltern bringen ihr (Über-)Engagement zum Ausdruck, indem sie jede Prüfung ihres Kindes nachkorrigieren und sofort reklamieren, wenn sie mit einer Bewertung durch den Lehrer nicht einverstanden sind.
Auch Martin Wendelspiess, der Chef des Zürcher Volksschulamts, weiss, dass es betreuungsintensive Eltern gibt. Gleichzeitig betont er, dass die Mehrheit der Eltern keine Probleme bereitet: «Die meisten respektieren die Regeln.»
Nichtsdestotrotz empfinden die Lehrerinnen und Lehrer den Umgang mit den Eltern offenkundig als anspruchsvoll – das manifestiert sich nicht nur in der ZLV-Erhebung. Eine Befragung von Zürcher Junglehrern ergab, dass diese ihre Kompetenzen im Bereich der Eltern­arbeit als gering wahrnehmen. Und die Beratungseinrichtung der Luzerner Dienststelle für Volksschulbildung vermeldete unlängst, dass sich 2014 277 Lehrerinnen und Lehrer und damit 50 mehr als im Vorjahr gemeldet hätten – der Umgang mit den Eltern gehörte zu den Hauptthemen, welche die Rat­suchenden beschäftigten.
Unangenehme Gespräche
Das Verhältnis zwischen Schule und ­Eltern sei in den letzten Jahren schwieriger und angespannter geworden, sagen Lehrer und Experten einhellig. Weniger eindeutig ist die Einschätzung, wenn es um die Ursachen geht: Ist es tatsächlich so, dass die Lehrer die Opfer und die Eltern das Problem sind? Oder sind auch andere Faktoren Teil des Problems? Zum Beispiel die Schulen selbst?
Maya Mulle ist Organisationsberaterin für Schulen und Leiterin der Fachstelle Elternmitwirkung in Zürich. Sie verweist auf die wirtschaftliche Lage: «Noch selten waren die Aussichten so unsicher, gerade für Gutgebildete aus dem Mittelstand. Darauf reagieren die Eltern, indem sie alles tun, um ihre Kinder möglichst gut zu positionieren.» Gleichzeitig sei die Situation von Menschen mit wenig Bildungwirtschaftlich höchst prekär und oft kombiniert mit negativen Behördenerfahrungen, welche sich dann in der Wahrnehmung der Schule spiegeln würden. «Dass es in einer solchen Konstellation für die Schule schwierig wird, liegt auf der Hand.»
Hinzu komme, so Mulle, dass sich viele Schulen zwar stark darum bemühen würden, die Beziehung zu den Eltern zu pflegen. Neben dem individuellen Elternkontakt würden runde Tische und andere Formen des Elternein­bezugs geschaffen. Doch ein Obligatorium, wie es mit dem neuen Volksschulgesetz entstanden sei, wecke auch Widerstand, sagt Maya Mulle: «Es gibt immer solche, die dagegen sind. Das ist bei der Elternmitwirkung nicht anders: Manche Schulen stecken als Erstes die Grenzen ab.»
Das sieht auch Gabriela Kohler-Steinhauser so, die Präsidentin der KEO, der kantonalen Elternmitwirkungsorganisation in Zürich: «Viele Schulen haben sich nicht so geöffnet, wie es nötig wäre. Darauf reagieren manche Eltern scharf.» Was den Schluss nahelegt: Im Verhältnis zwischen Lehrern und Eltern herrscht nicht nur auf Lehrerseite Irritation, sondern auch auf der Gegenseite.
Exemplarisch erwähnen Eltern und Fachleute den Fall, wo ein für das Kind weitreichender Entscheid ansteht – etwa eine sonderpädagogische oder eine disziplinarische Massnahme. In solchen Fällen verlangt das Volksschulgesetz, dass die Eltern am Entscheid beteiligt werden. In der Realität ist es aber oft so, dass das Elternpaar – oder, bei Alleinerziehenden, ein Elternteil allein – einem ganzen Team von pädagogischen Fachleuten gegenübersitzt, die sich erstens kennen, zweitens duzen, drittens alles schon vorbesprochen haben und viertens die Eltern vor vollendete Tatsachen stellen. «Eltern werden bei solchen Gesprächen oft als Befehlsempfänger behandelt», sagt KEO-Präsidentin Kohler-Steinhauser. «Es ist klar, dass eine solche Situation von viele Eltern als sehr unangenehm empfunden wird.»
«Das geht nicht»
Die KEO bietet den Eltern an, sie auf solche Gespräche vorzubereiten. Auch Maya Mulle sieht in der Verbesserung solcher Gespräche «viel Potenzial»: «Ein runder Tisch mit lauter Fachleuten und einer eingeschüchterten Mutter, die sich kaum zu reden traut: Das geht nicht.» Mulles Forderung: «Es braucht erstens eine Traktandenliste, damit sich auch die Eltern vorbereiten können. Zweitens müssen gerade Alleinerziehende die Möglichkeit haben, jemanden mitzunehmen. Drittens ist es wichtig, dass eine Massnahme gemeinsam formuliert wird – die Chance für eine erfolgreiche Umsetzung ist dann viel grösser.»
Auch Volksschulamtschef Wendelspiess sieht in der Anlage solcher Gespräche ein Problem: «Ein gleichwertiges Gespräch, und ein solches streben wir an, ist da nicht möglich.» Sein Amt habe daher die Schulen aufgefordert, sensibel zu sein bei der Zusammensetzung der Gesprächsrunden: «Es sollte vermieden werden, dass eine Mutter einer Fünfergruppe gegenübersitzt.»


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