Sowohl unterengagierte wie auch überengagierte Eltern verursachen Zusatzaufwand, Bild: Schaad
Lehrer benoten Eltern schlecht, Tages Anzeiger, 3.12. von Hannes Nussbaumer
«Ich
stelle eine Ernüchterung fest», sagt Lilo Lätzsch, die Präsidentin des Zürcher
Lehrerinnen- und Lehrerverbands: eine Ernüchterung der Lehrer über die Eltern
und deren schulisches Engagement.
Die
Beteiligung der Eltern am Schulbetrieb ist im Kanton Zürich gesetzlich
festgezurrt: Das 2005 angenommene Volksschulgesetz verlangt, dass Schule, Eltern und Lehrer zusammenarbeiten und
dass die Eltern mitwirken, wenn es um Entscheide geht, die für ihr Kind wichtig
sind. In der Folge hätten viele Schulen einen Effort unternommen und sich darum
bemüht, die Beziehung zu den Eltern zu verbessern, sagt Lätzsch.
Doch inzwischen scheint
aus der Euphorie ein Kater geworden zu sein. Diesen Schluss legen die
Ergebnisse einer Umfrage des Zürcher Lehrerverbands (ZLV) nahe. Der Verband hat
seine Mitglieder zu ihren Erfahrungen im Umgang mit den Eltern befragt. 40
Prozent der 2859 angeschriebenen Personen haben geantwortet – damit sei die
Erhebung repräsentativ, schreibt der ZLV.
Laut Umfrage finden
knapp zwei Drittel der Befragten, die Eltern sollten die Lehrerinnen und Lehrer
«generell mehr respektieren». Ebenso verbreitet ist die Ansicht, die «Eltern
sollten der Schule mehr vertrauen und sich weniger einmischen». Gar 70 Prozent
sind der Meinung, die «Eltern sollten ihre Kinder wieder besser erziehen».
Fehlendes
Interesse
Lilo Lätzsch
diagnostiziert «ein grosses Unbehagen» bei den Lehrern. Ist also das Bemühen
gescheitert, die Eltern stärker in die Schule einzubeziehen? Problem Nummer
eins ist für die ZLV-Präsidentin, dass das Interesse am Schulalltag bei vielen
Eltern klein sei – allzu klein, findet sie. Die Gründe dafür seien vielfältig:
Bildungsfernen Eltern mangle es am Verständnis für die Bedeutung der Schule;
bei Fremdsprachigen komme hinzu, dass sie sich oft wegen ihrer Deutschdefizite
genieren und deshalb zurückhalten würden. Andere Eltern seien beruflich derart
eingespannt, dass ihnen schlicht die Zeit fehle.
Verbandspräsidentin
Lätzsch zieht daraus einen doppelten Schluss. Erstens: «Die Schule muss ihre
Erwartungen an die Elternzusammenarbeit senken.» Zweitens: «Die Schule muss an
die Eltern klare Ansprüche stellen.» Zum Beispiel liege es in der Verantwortung
der Eltern, dass die Kinder ausgeschlafen in die Schule kommen würden.
Zum unterengagierten
Elterntyp kommt – Problem Nummer zwei – der überengagierte hinzu. Laut
ZLV-Umfrage ist der Aufwand, den die beiden Typen verursachen, ziemlich
identisch. Überengagierte Eltern sind in der Regel gut gebildet und gut
verdienend. Sie wollen unbedingt, dass ihr Kind ins Gymnasium kommt. Und sie
haben Erwartungen, welche die Schule überfordern – zum Beispiel, dass ihr Kind
schon in der Primarschule lernt, fliessend Englisch zu sprechen.
Und sie wissen sich
Gehör zu verschaffen: Laut ZLV-Erhebung haben über 20 Prozent der Befragten
mindestens einmal die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit dem Anwalt drohten.
Andere Eltern bringen ihr (Über-)Engagement zum Ausdruck, indem sie jede
Prüfung ihres Kindes nachkorrigieren und sofort reklamieren, wenn sie mit einer
Bewertung durch den Lehrer nicht einverstanden sind.
Auch Martin
Wendelspiess, der Chef des Zürcher Volksschulamts, weiss, dass es
betreuungsintensive Eltern gibt. Gleichzeitig betont er, dass die Mehrheit der
Eltern keine Probleme bereitet: «Die meisten respektieren die Regeln.»
Nichtsdestotrotz
empfinden die Lehrerinnen und Lehrer den Umgang mit den Eltern offenkundig als
anspruchsvoll – das manifestiert sich nicht nur in der ZLV-Erhebung. Eine
Befragung von Zürcher Junglehrern ergab, dass diese ihre Kompetenzen im Bereich
der Elternarbeit als gering wahrnehmen. Und die Beratungseinrichtung der
Luzerner Dienststelle für Volksschulbildung vermeldete unlängst, dass sich 2014
277 Lehrerinnen und Lehrer und damit 50 mehr als im Vorjahr gemeldet hätten –
der Umgang mit den Eltern gehörte zu den Hauptthemen, welche die Ratsuchenden
beschäftigten.
Unangenehme
Gespräche
Das Verhältnis zwischen
Schule und Eltern sei in den letzten Jahren schwieriger und angespannter
geworden, sagen Lehrer und Experten einhellig. Weniger eindeutig ist die
Einschätzung, wenn es um die Ursachen geht: Ist es tatsächlich so, dass die
Lehrer die Opfer und die Eltern das Problem sind? Oder sind auch andere
Faktoren Teil des Problems? Zum Beispiel die Schulen selbst?
Maya
Mulle ist Organisationsberaterin für Schulen und Leiterin der Fachstelle
Elternmitwirkung in Zürich. Sie verweist auf die wirtschaftliche Lage: «Noch
selten waren die Aussichten so unsicher, gerade für Gutgebildete aus dem
Mittelstand. Darauf reagieren die Eltern, indem sie alles tun, um ihre Kinder
möglichst gut zu positionieren.» Gleichzeitig sei die Situation von Menschen
mit wenig Bildungwirtschaftlich
höchst prekär und oft kombiniert mit negativen Behördenerfahrungen, welche sich
dann in der Wahrnehmung der Schule spiegeln würden. «Dass es in einer solchen
Konstellation für die Schule schwierig wird, liegt auf der Hand.»
Hinzu komme, so Mulle,
dass sich viele Schulen zwar stark darum bemühen würden, die Beziehung zu den
Eltern zu pflegen. Neben dem individuellen Elternkontakt würden runde Tische
und andere Formen des Elterneinbezugs geschaffen. Doch ein Obligatorium, wie es
mit dem neuen Volksschulgesetz entstanden sei, wecke auch Widerstand, sagt Maya
Mulle: «Es gibt immer solche, die dagegen sind. Das ist bei der
Elternmitwirkung nicht anders: Manche Schulen stecken als Erstes die Grenzen
ab.»
Das sieht auch Gabriela
Kohler-Steinhauser so, die Präsidentin der KEO, der kantonalen
Elternmitwirkungsorganisation in Zürich: «Viele Schulen haben sich nicht so
geöffnet, wie es nötig wäre. Darauf reagieren manche Eltern scharf.» Was den
Schluss nahelegt: Im Verhältnis zwischen Lehrern und Eltern herrscht nicht nur
auf Lehrerseite Irritation, sondern auch auf der Gegenseite.
Exemplarisch erwähnen
Eltern und Fachleute den Fall, wo ein für das Kind weitreichender Entscheid
ansteht – etwa eine sonderpädagogische oder eine disziplinarische Massnahme. In
solchen Fällen verlangt das Volksschulgesetz, dass die Eltern am Entscheid
beteiligt werden. In der Realität ist es aber oft so, dass das Elternpaar –
oder, bei Alleinerziehenden, ein Elternteil allein – einem ganzen Team von
pädagogischen Fachleuten gegenübersitzt, die sich erstens kennen, zweitens
duzen, drittens alles schon vorbesprochen haben und viertens die Eltern vor
vollendete Tatsachen stellen. «Eltern werden bei solchen Gesprächen oft als
Befehlsempfänger behandelt», sagt KEO-Präsidentin Kohler-Steinhauser. «Es ist
klar, dass eine solche Situation von viele Eltern als sehr unangenehm empfunden
wird.»
«Das
geht nicht»
Die KEO bietet den
Eltern an, sie auf solche Gespräche vorzubereiten. Auch Maya Mulle sieht in der
Verbesserung solcher Gespräche «viel Potenzial»: «Ein runder Tisch mit lauter
Fachleuten und einer eingeschüchterten Mutter, die sich kaum zu reden traut:
Das geht nicht.» Mulles Forderung: «Es braucht erstens eine Traktandenliste,
damit sich auch die Eltern vorbereiten können. Zweitens müssen gerade
Alleinerziehende die Möglichkeit haben, jemanden mitzunehmen. Drittens ist es
wichtig, dass eine Massnahme gemeinsam formuliert wird – die Chance für eine
erfolgreiche Umsetzung ist dann viel grösser.»
Auch Volksschulamtschef
Wendelspiess sieht in der Anlage solcher Gespräche ein Problem: «Ein
gleichwertiges Gespräch, und ein solches streben wir an, ist da nicht möglich.»
Sein Amt habe daher die Schulen aufgefordert, sensibel zu sein bei der
Zusammensetzung der Gesprächsrunden: «Es sollte vermieden werden, dass eine
Mutter einer Fünfergruppe gegenübersitzt.»
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