"Endlich können Familien problemlos von einem Kanton in den anderen ziehen". Bild: Jean-Christophe Verhaegen
Als wäre die Schule eine Maschine, Zeit, 3.12. von Sarah Jäggi
Die Schule der Zukunft? Eine
Zentralheizung! Regulierbar bis ins kleinste Detail. So schreibt es Walter
Herzog, der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Bern.
Wenn die Entwicklung weitergehe wie geplant, gebe es in den Klassenzimmern bald
nur noch ein Ziel: einen reibungslosen Betrieb. Der Unterricht werde
standardisiert und messbar, die Vorgaben für die Lehrer rigid. Schüler, Lehrer,
Bildungsbeamte wie Politiker seien nur noch am Output interessiert.
Diese düstere Zukunftsvision hat
einen Namen: Lehrplan 21. Das schreiben Herzog und eine Gruppe um den Bieler
Lehrer Alain Pichard in einer Kampfschrift, die diese Woche in den Druck geht.
Der Lehrplan sei ein Kontrollorgan, "das bis auf die Ebene des
Schülerlernens in den Unterricht eingreift und die Illusion erzeugt, das
Schulsystem lasse sich wie eine Zentralheizung regulieren". Ja, das
Projekt trage reaktionäre Züge. Deshalb sei es Zeit für einen "geharnischten
Einspruch". Nicht wie bis anhin nur von rechter und konservativer Seite,
sondern auch von links.
Doch man fragt sich: Standen die
13 Herren und die drei Damen je selber in einem Schulzimmer? In diesen Räumen,
in denen vor allem anderen einer dominiert: der Lehrer.
Seine Art, seine Philosophie,
seine Gestaltungskraft, sein Eigensinn prägen jedes Schulzimmer. Von der
kunterbunten Chaos-Stube bis zum aseptisch ordentlichen Lernlabor, in dem kein
Scherenschnitt die Konzentration trübt und kein Mucks geduldet wird. In kaum
einem anderer Berufsstand ist die Persönlichkeit so wichtig. Jedes Kind kapiert
noch vor dem Einmaleins: Die Schule ist so gut wie meine Lehrerin. Und jeder
Schulleiter weiß, wie wenig sich die Individualisten in ihr Kerngeschäft reinpfuschen
lassen: den Unterricht, die einzelne Lektion.
Daran wird auch der Lehrplan 21
nichts ändern. Das zeigen die ersten Erfahrungen aus dem Kanton Basel-Stadt, in
dem seit August nach den neuen Zielen unterrichtet wird.
Doch in den Dystopien der
Lehrplan-Gegner wird die Schule zur Maschine, der Lehrer zum willenlosen
Rädchen im Getriebe. Die Kritiker schießen so weit übers Ziel hinaus, dass man
beinahe übersieht, wo sie im Kern recht haben.
Etwa in ihrer Sorge darum, dass,
wo nach denselben Zielen unterrichtet wird, Erfolg gemessen und Schulen
miteinander verglichen werden können. Oder dass Lehrer, die sich schon jetzt
mit ihren hohen Gymi-Übertrittsquoten brüsten, künftig ihre Schüler für den
Test fit trimmen werden.
Die große Mehrheit der Lehrer
wird aber auch in Zukunft mehr erreichen wollen als nur einen guten
Notenschnitt am Ende des Schuljahrs. Und an der Politik liegt es, dafür zu
sorgen, dass sorgsam mit Prüfungsdaten umgegangen wird, die eine solche
"neue Testkultur" mit sich bringen würde. So wie in Basel, wo das
Schulgesetz angepasst wurde, damit solche Daten vom Öffentlichkeitsprinzip
ausgenommen sind.
Lehrplan setzt pünktlich aufs
Schuljahr 2018/19 ein
Ein besonderer Dorn im Auge ist
Pichard & Co. die sogenannte Kompetenzorientierung. Dass Schulkinder nicht
nur mit Wissen gefüttert, sondern auch fähig werden, dieses im Alltag
anzuwenden. Der einfache Wissenserwerb werde vernachlässigt, kritisieren sie –
und dadurch blieben die schwachen Schüler auf der Strecke. Die Aufsplittung der
363 Kompetenzen in 2300 Kompetenzstufen schließlich beweise die wahre Absicht
hinter der ganzen Übung: die große Vermessung der Schule.
Vergessen wird dabei, dass der
Lehrplan 21 das Herzstück einer umfassenden Bildungsreform ist. Dank Harmos
sollen erstmals alle Kinder der Deutschschweiz nach den gleichen Zielen
unterrichtet werden: elf Jahre lang, vom Kindergarten bis zum Abschluss der
Sekundarschule. Endlich können Familien problemlos von einem Kanton in den
anderen ziehen. Ohne dass ihre Kinder verpassten Schulstoff nachbüffeln müssen.
Kein Wunder, stimmten 2006 über 85 Prozent der Schweizer für den
eidgenössischen Bildungsartikel, der die Grundlage dieser Reform bildet.
Davon ist im 30-seitigen Einspruch! kaum
die Rede. Er soll vielmehr die Diskussion um die "ökonomistische
Steuerung" der Schule in Gang bringen, sagt Initiant Pichard.
Bildungsbürokraten und Reformturbos beteuern zwar: "Wissen" sei auch
in Zukunft die Basis der "Kompetenz", und der Unterricht lasse sich
nicht normieren. Doch die Kritiker lassen sich damit nicht besänftigen. Ebenso
wenig von der Zusage, Lehrer würden frei bleiben, zu unterrichten, wie es ihnen
entspricht. Und dass der Lehrplan 21 keine Bibel, sondern nur ein Kompass sei.
Lieber fantasieren die
Lehrplan-Gegner, wie Kinder bald in "Lernlandschaften mit apersonalen
Medien" ihre "Kompetenzraster" abarbeiten. Selbst organisiert
und selbst gesteuert in einer Koje vor einem Bildschirm in einem multimedial ausgerüsteten
Großraumbüro. Sie sind die Manager ihres eigenen Schulerfolgs und alleine dafür
verantwortlich, ob sie vorankommen. Oder sitzen bleiben.
Wie also geht es weiter im immer
unübersichtlicher werdenden "Gschtürm" um die Harmonisierung der
Schule? Kippt das Megaprojekt tatsächlich, wie sich das die Autoren erhoffen?
Wohl kaum. Zwar sind in 13
Kantonen noch Initiativen hängig, die verlangen, dass das Volk oder die
Kantonsregierung dem Lehrplan zustimmt. Gleichzeitig werden Nägel mit Köpfen
gemacht. In Zürich etwa hat der Bildungsrat unlängst beschlossen: Wir führen
den Lehrplan pünktlich aufs Schuljahr 2018/19 ein. Die bestehenden Lehrmittel
in Deutsch und Mathematik seien kompatibel, andere müssen neu entwickelt
werden.
Gut möglich, dass die
Maschinenstürmer ihre Zukunftsangst überwinden, wenn der Lehrplan erst einmal
eingeführt ist – und erstaunt feststellen: Es hat sich gar nicht so viel
verändert.
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