12. Dezember 2015

Die Maschinenstürmer

Die Propagandamaschine zum Lehrplan 21 läuft auf Hochtouren. In ihrem Artikel vergleicht die Journalistin Sarah Jäggi die Kritiker des Lehrplans 21 mit den Maschinenstürmern zu Beginn der Industrialisierung. Ein vielsagender Vergleich, der den neuen Lehrplan als unausweichlich und alternativlos erscheinen lässt. Anstatt sich den Argumenten der Kritikergruppe rund um Alain Pichard zu stellen, lässt sich die Autorin zum Satz hinreissen: "Standen die 13 Herren und die drei Damen je selber in einem Schulzimmer?" Wenn man sich weitere Arbeiten von Frau Jäggi zu Gemüte führt, stellt sich die Frage, wer der wahre Arbeitgeber dieser Journalistin sein mag. Fehlen den Befürwortern  die Argumente, dass sie sich auf diesem Niveau bewegen? (uk)











"Endlich können Familien problemlos von einem Kanton in den anderen ziehen". Bild: Jean-Christophe Verhaegen
Als wäre die Schule eine Maschine, Zeit, 3.12. von Sarah Jäggi


Die Schule der Zukunft? Eine Zentralheizung! Regulierbar bis ins kleinste Detail. So schreibt es Walter Herzog, der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Bern. Wenn die Entwicklung weitergehe wie geplant, gebe es in den Klassenzimmern bald nur noch ein Ziel: einen reibungslosen Betrieb. Der Unterricht werde standardisiert und messbar, die Vorgaben für die Lehrer rigid. Schüler, Lehrer, Bildungsbeamte wie Politiker seien nur noch am Output interessiert.
Diese düstere Zukunftsvision hat einen Namen: Lehrplan 21. Das schreiben Herzog und eine Gruppe um den Bieler Lehrer Alain Pichard in einer Kampfschrift, die diese Woche in den Druck geht. Der Lehrplan sei ein Kontrollorgan, "das bis auf die Ebene des Schülerlernens in den Unterricht eingreift und die Illusion erzeugt, das Schulsystem lasse sich wie eine Zentralheizung regulieren". Ja, das Projekt trage reaktionäre Züge. Deshalb sei es Zeit für einen "geharnischten Einspruch". Nicht wie bis anhin nur von rechter und konservativer Seite, sondern auch von links.
Doch man fragt sich: Standen die 13 Herren und die drei Damen je selber in einem Schulzimmer? In diesen Räumen, in denen vor allem anderen einer dominiert: der Lehrer.
Seine Art, seine Philosophie, seine Gestaltungskraft, sein Eigensinn prägen jedes Schulzimmer. Von der kunterbunten Chaos-Stube bis zum aseptisch ordentlichen Lernlabor, in dem kein Scherenschnitt die Konzentration trübt und kein Mucks geduldet wird. In kaum einem anderer Berufsstand ist die Persönlichkeit so wichtig. Jedes Kind kapiert noch vor dem Einmaleins: Die Schule ist so gut wie meine Lehrerin. Und jeder Schulleiter weiß, wie wenig sich die Individualisten in ihr Kerngeschäft reinpfuschen lassen: den Unterricht, die einzelne Lektion.

Daran wird auch der Lehrplan 21 nichts ändern. Das zeigen die ersten Erfahrungen aus dem Kanton Basel-Stadt, in dem seit August nach den neuen Zielen unterrichtet wird.
Doch in den Dystopien der Lehrplan-Gegner wird die Schule zur Maschine, der Lehrer zum willenlosen Rädchen im Getriebe. Die Kritiker schießen so weit übers Ziel hinaus, dass man beinahe übersieht, wo sie im Kern recht haben.
Etwa in ihrer Sorge darum, dass, wo nach denselben Zielen unterrichtet wird, Erfolg gemessen und Schulen miteinander verglichen werden können. Oder dass Lehrer, die sich schon jetzt mit ihren hohen Gymi-Übertrittsquoten brüsten, künftig ihre Schüler für den Test fit trimmen werden.
Die große Mehrheit der Lehrer wird aber auch in Zukunft mehr erreichen wollen als nur einen guten Notenschnitt am Ende des Schuljahrs. Und an der Politik liegt es, dafür zu sorgen, dass sorgsam mit Prüfungsdaten umgegangen wird, die eine solche "neue Testkultur" mit sich bringen würde. So wie in Basel, wo das Schulgesetz angepasst wurde, damit solche Daten vom Öffentlichkeitsprinzip ausgenommen sind.
Lehrplan setzt pünktlich aufs Schuljahr 2018/19 ein
Ein besonderer Dorn im Auge ist Pichard & Co. die sogenannte Kompetenzorientierung. Dass Schulkinder nicht nur mit Wissen gefüttert, sondern auch fähig werden, dieses im Alltag anzuwenden. Der einfache Wissenserwerb werde vernachlässigt, kritisieren sie – und dadurch blieben die schwachen Schüler auf der Strecke. Die Aufsplittung der 363 Kompetenzen in 2300 Kompetenzstufen schließlich beweise die wahre Absicht hinter der ganzen Übung: die große Vermessung der Schule.
Vergessen wird dabei, dass der Lehrplan 21 das Herzstück einer umfassenden Bildungsreform ist. Dank Harmos sollen erstmals alle Kinder der Deutschschweiz nach den gleichen Zielen unterrichtet werden: elf Jahre lang, vom Kindergarten bis zum Abschluss der Sekundarschule. Endlich können Familien problemlos von einem Kanton in den anderen ziehen. Ohne dass ihre Kinder verpassten Schulstoff nachbüffeln müssen. Kein Wunder, stimmten 2006 über 85 Prozent der Schweizer für den eidgenössischen Bildungsartikel, der die Grundlage dieser Reform bildet.
Davon ist im 30-seitigen Einspruch! kaum die Rede. Er soll vielmehr die Diskussion um die "ökonomistische Steuerung" der Schule in Gang bringen, sagt Initiant Pichard. Bildungsbürokraten und Reformturbos beteuern zwar: "Wissen" sei auch in Zukunft die Basis der "Kompetenz", und der Unterricht lasse sich nicht normieren. Doch die Kritiker lassen sich damit nicht besänftigen. Ebenso wenig von der Zusage, Lehrer würden frei bleiben, zu unterrichten, wie es ihnen entspricht. Und dass der Lehrplan 21 keine Bibel, sondern nur ein Kompass sei.
Lieber fantasieren die Lehrplan-Gegner, wie Kinder bald in "Lernlandschaften mit apersonalen Medien" ihre "Kompetenzraster" abarbeiten. Selbst organisiert und selbst gesteuert in einer Koje vor einem Bildschirm in einem multimedial ausgerüsteten Großraumbüro. Sie sind die Manager ihres eigenen Schulerfolgs und alleine dafür verantwortlich, ob sie vorankommen. Oder sitzen bleiben.
Wie also geht es weiter im immer unübersichtlicher werdenden "Gschtürm" um die Harmonisierung der Schule? Kippt das Megaprojekt tatsächlich, wie sich das die Autoren erhoffen?
Wohl kaum. Zwar sind in 13 Kantonen noch Initiativen hängig, die verlangen, dass das Volk oder die Kantonsregierung dem Lehrplan zustimmt. Gleichzeitig werden Nägel mit Köpfen gemacht. In Zürich etwa hat der Bildungsrat unlängst beschlossen: Wir führen den Lehrplan pünktlich aufs Schuljahr 2018/19 ein. Die bestehenden Lehrmittel in Deutsch und Mathematik seien kompatibel, andere müssen neu entwickelt werden.
Gut möglich, dass die Maschinenstürmer ihre Zukunftsangst überwinden, wenn der Lehrplan erst einmal eingeführt ist – und erstaunt feststellen: Es hat sich gar nicht so viel verändert.


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