In ihrem Artikel Als wäre die Schule eine Maschine (ZEIT Nr. 49/15)http://schuleschweiz.blogspot.ch/2015/12/die-maschinensturmer.html unterstellt
Sarah Jäggi den Autoren von Einspruch – Kritische Gedanken zu Bologna,
HarmoS und Lehrplan 21, sie würden mit ihrer Schrift eine
"düstere Zukunftsvision" des Schweizer Bildungswesens vorlegen. Diese
Interpretation verfehlt Sinn und Gehalt unserer Publikation völlig. Uns
Autoren, namhaften linken und linksliberalen Persönlichkeiten aus dem Schweizer
Bildungswesen, die auf allen Stufen unterrichten, geht es mit dieser Schrift
darum, der Öffentlichkeit bekannt zu machen, dass nicht nur konservative Kreise
die aktuelle Schweizer Bildungspolitik kritisieren, zurzeit insbesondere den Lehrplan 21.
Stoppt die Reformitis! Die Zeit, 17.12. von Beat Kissling
Wir verlangen einen Stopp der Reformitis und einen breiten öffentlichen
Dialog über die Auswirkungen dieser Bildungsreform. Etwas, das in der Schweiz
eigentlich selbstverständlich sein sollte, seit Jahren aber unterbunden wird.
In den vergangenen 20 Jahren erfuhr das Schweizer Bildungswesen einen
Demokratieabbau. Er fand im Namen der "Professionalisierung" der
Bildung statt. Dabei attestierte die OECD der Schweiz 1990 ein hohes Maß an
demokratischer Nähe der Bevölkerung zu ihrer Schule; man sprach vom verbreiteten
"Ethos der Schule". Dies hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die
demokratisch gewählten Aufsichtsgremien in der Volksschule haben an Einfluss
verloren, zugunsten von Expertengremien wie etwa Schulleitern, deren Ausbildung
stärker an Managementkonzepten als an pädagogischer Kompetenz orientiert ist.
Mit der Revolutionierung der Verwaltungen durch das New Public
Management wurde im Staatswesen überhaupt alles auf den Kopf gestellt:
Verwaltungsbeamte mutierten zu regelrechten CEOs, die als "strategische Ebene"
der "operationalen Ebene", also den Schulleitungen und Lehrpersonen,
die Direktiven der Schulentwicklung aufoktroyierten – dies in enger Kooperation
mit den Pädagogischen Hochschulen. Die Schule wurde einer sich als
professionell apostrophierenden Expertokratie überantwortet. Ohne dass man je
öffentlich darüber informierte oder diskutierte. Vielmehr begann sich die
Erziehungsdirektorenkonferenz – eigentlich ein Koordinationsgremium der Kantone
ohne nationale Befugnisse – an internationale Organisationen und Interessen
anzulehnen. Sie unterzeichnete den Bologna-Vertrag (1999) oder machte bei den
Pisa-Studien mit (von 2000 an). Diese internationale Governance erreichte sehr
bald einen erstaunlichen Einfluss, nachzulesen in den Untersuchungen der Deutschen
Forschungsgemeinschaft mit dem Titel Staatlichkeit im Wandel.
Politisch wurden diese Eingriffe in die Souveränitätsrechte jedoch kaum
thematisiert.
Im Streit um den Lehrplan 21 wird stets argumentiert, dieser sei durch
den 2006 angenommenen Bildungsartikel demokratisch legitimiert. Das ist ein
Betrug, dem auch Sarah Jäggi aufgesessen ist. Der Bildungsartikel sah lediglich
geringfügige kantonale Angleichungen vor, keine Revolution. Rudolf Künzli,
früherer Lehrplanforscher und Rektor der PH Nordwestschweiz, nennt den Lehrplan
21 ein "Testbuch", ein Pisa-Derivat, welches das europäische
Bildungsverständnis auf den Kopf stelle. Mit der im neuen Lehrplan
festgeschriebenen Kompetenzorientierung will man eine
angelsächsisch-utilitaristische Testkultur einführen. Schulentwicklung stützt
sich nicht mehr auf gut ausgebildete Lehrpersonen, sondern auf umfassendes
Controlling und vergleichbare Testergebnisse sowie auf ein technokratisches
Qualitätsmanagement. Darauf folgt die "Betriebsökonomisierung" der
Bildung, wie der Philosoph Eduard Kaeser in Einspruch schreibt:
mit Schülern als "Humankapital" und Eltern als "Kunden".
Hatten Lehrpläne, laut Walter Herzog, dem emeritierten Professor für
Erziehungswissenschaften an der Uni Bern, früher die demokratische Aufgabe,
"die Verständigung zwischen Öffentlichkeit und Schule zu
gewährleisten", wird mit dem LP 21 die totale Bevormundung der Lehrpersonen
festgeschrieben. Unterrichten bedeutet dann die Einrichtung von
"beziehungslosen, anonymen Ateliers und Workshops", wie der
Realschullehrer Markus Dähler schreibt, alles unter dem Motto
"selbstgesteuertes Lernen". Bei strikter Durchführung führt dies zum
Fiasko – außer bei den sehr vifen Schülern. Zum Glück bringen es die meisten
Lehrpersonen nicht übers Herz, die resignierenden Schüler mit ihrer
"Selbststeuerung" im Stich zu lassen. Doch das Perfide an dieser
Lehrplan-21-Rhetorik ist: Mit Begriffen wie Autonomie oder Selbststeuerung wird
ein emanzipatorisches Vokabular bemüht, das in Wirklichkeit "kompatibel
mit dem neoliberalen Bild des unternehmerischen Selbst" ist, wie der
Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach von der Uni Zürich ausführt.
Bisher hatte unsere öffentliche Schule den Anspruch, ausgezeichnete
Bildung für alle zu bieten. Unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Der Lehrplan
21 gefährdet dies. Und man fragt sich, ob es in Tat und Wahrheit nicht darum
geht, die öffentliche Schule so zu schwächen, damit private Anbieter
einspringen können? Wie sich das die Bertelsmann Stiftung oder die Jacobs
Foundation wünschen. Auch das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen
(Tisa) will das Monopol der Staatsschulen aufbrechen. Gegen eine solche
"Maschinerie" muss man alle Hebel der demokratischen
Aufklärungsarbeit in Bewegung setzen. Das haben wir Autoren von Einspruch auf
die Fahne geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger.
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