22. Dezember 2015

Demokratische Aufklärungsarbeit

In ihrem Artikel Als wäre die Schule eine Maschine (ZEIT Nr. 49/15)http://schuleschweiz.blogspot.ch/2015/12/die-maschinensturmer.html unterstellt Sarah Jäggi den Autoren von Einspruch – Kritische Gedanken zu Bologna, HarmoS und Lehrplan 21, sie würden mit ihrer Schrift eine "düstere Zukunftsvision" des Schweizer Bildungswesens vorlegen. Diese Interpretation verfehlt Sinn und Gehalt unserer Publikation völlig. Uns Autoren, namhaften linken und linksliberalen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Bildungswesen, die auf allen Stufen unterrichten, geht es mit dieser Schrift darum, der Öffentlichkeit bekannt zu machen, dass nicht nur konservative Kreise die aktuelle Schweizer Bildungspolitik kritisieren, zurzeit insbesondere den Lehrplan 21.
Stoppt die Reformitis! Die Zeit, 17.12. von Beat Kissling

Wir verlangen einen Stopp der Reformitis und einen breiten öffentlichen Dialog über die Auswirkungen dieser Bildungsreform. Etwas, das in der Schweiz eigentlich selbstverständlich sein sollte, seit Jahren aber unterbunden wird.
In den vergangenen 20 Jahren erfuhr das Schweizer Bildungswesen einen Demokratieabbau. Er fand im Namen der "Professionalisierung" der Bildung statt. Dabei attestierte die OECD der Schweiz 1990 ein hohes Maß an demokratischer Nähe der Bevölkerung zu ihrer Schule; man sprach vom verbreiteten "Ethos der Schule". Dies hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die demokratisch gewählten Aufsichtsgremien in der Volksschule haben an Einfluss verloren, zugunsten von Expertengremien wie etwa Schulleitern, deren Ausbildung stärker an Managementkonzepten als an pädagogischer Kompetenz orientiert ist.

Mit der Revolutionierung der Verwaltungen durch das New Public Management wurde im Staatswesen überhaupt alles auf den Kopf gestellt: Verwaltungsbeamte mutierten zu regelrechten CEOs, die als "strategische Ebene" der "operationalen Ebene", also den Schulleitungen und Lehrpersonen, die Direktiven der Schulentwicklung aufoktroyierten – dies in enger Kooperation mit den Pädagogischen Hochschulen. Die Schule wurde einer sich als professionell apostrophierenden Expertokratie überantwortet. Ohne dass man je öffentlich darüber informierte oder diskutierte. Vielmehr begann sich die Erziehungsdirektorenkonferenz – eigentlich ein Koordinationsgremium der Kantone ohne nationale Befugnisse – an internationale Organisationen und Interessen anzulehnen. Sie unterzeichnete den Bologna-Vertrag (1999) oder machte bei den Pisa-Studien mit (von 2000 an). Diese internationale Governance erreichte sehr bald einen erstaunlichen Einfluss, nachzulesen in den Untersuchungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem Titel Staatlichkeit im Wandel. Politisch wurden diese Eingriffe in die Souveränitätsrechte jedoch kaum thematisiert.

Im Streit um den Lehrplan 21 wird stets argumentiert, dieser sei durch den 2006 angenommenen Bildungsartikel demokratisch legitimiert. Das ist ein Betrug, dem auch Sarah Jäggi aufgesessen ist. Der Bildungsartikel sah lediglich geringfügige kantonale Angleichungen vor, keine Revolution. Rudolf Künzli, früherer Lehrplanforscher und Rektor der PH Nordwestschweiz, nennt den Lehrplan 21 ein "Testbuch", ein Pisa-Derivat, welches das europäische Bildungsverständnis auf den Kopf stelle. Mit der im neuen Lehrplan festgeschriebenen Kompetenzorientierung will man eine angelsächsisch-utilitaristische Testkultur einführen. Schulentwicklung stützt sich nicht mehr auf gut ausgebildete Lehrpersonen, sondern auf umfassendes Controlling und vergleichbare Testergebnisse sowie auf ein technokratisches Qualitätsmanagement. Darauf folgt die "Betriebsökonomisierung" der Bildung, wie der Philosoph Eduard Kaeser in Einspruch schreibt: mit Schülern als "Humankapital" und Eltern als "Kunden". Hatten Lehrpläne, laut Walter Herzog, dem emeritierten Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Bern, früher die demokratische Aufgabe, "die Verständigung zwischen Öffentlichkeit und Schule zu gewährleisten", wird mit dem LP 21 die totale Bevormundung der Lehrpersonen festgeschrieben. Unterrichten bedeutet dann die Einrichtung von "beziehungslosen, anonymen Ateliers und Workshops", wie der Realschullehrer Markus Dähler schreibt, alles unter dem Motto "selbstgesteuertes Lernen". Bei strikter Durchführung führt dies zum Fiasko – außer bei den sehr vifen Schülern. Zum Glück bringen es die meisten Lehrpersonen nicht übers Herz, die resignierenden Schüler mit ihrer "Selbststeuerung" im Stich zu lassen. Doch das Perfide an dieser Lehrplan-21-Rhetorik ist: Mit Begriffen wie Autonomie oder Selbststeuerung wird ein emanzipatorisches Vokabular bemüht, das in Wirklichkeit "kompatibel mit dem neoliberalen Bild des unternehmerischen Selbst" ist, wie der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach von der Uni Zürich ausführt.

Bisher hatte unsere öffentliche Schule den Anspruch, ausgezeichnete Bildung für alle zu bieten. Unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Der Lehrplan 21 gefährdet dies. Und man fragt sich, ob es in Tat und Wahrheit nicht darum geht, die öffentliche Schule so zu schwächen, damit private Anbieter einspringen können? Wie sich das die Bertelsmann Stiftung oder die Jacobs Foundation wünschen. Auch das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Tisa) will das Monopol der Staatsschulen aufbrechen. Gegen eine solche "Maschinerie" muss man alle Hebel der demokratischen Aufklärungsarbeit in Bewegung setzen. Das haben wir Autoren von Einspruch auf die Fahne geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger.


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