18. November 2015

Unterwürfig konformistische Lehrerverbände

Jede Aktivität im Leben, jedes Lernen inner- und ausserhalb des Unterrichts, ist kompetenzbildend. Man könnte sagen, im menschlichen Leben sind Kompetenzbildungen gar nicht zu verhindern.
Lehrplan 21: Anpassung wichtiger als Mündigkeit, Schulblog Südostschweiz, 18.11. von Fritz Tschudi


Gelernt wird im Unterricht ausnahmslos an Lerninhalten am Lerngegenstand in unterschiedlichem Kontext. Das Ergebnis ist stets ein Mehr an Wissen, Können und Handlungsfähigkeit, was nichts anderes heisst, als dass jede Lernaktivität, Kompetenzen heranbildet. Während bisherige Lehrpläne aber inhaltliche Lernziele vorgaben, setzen die neumodischen, wie etwa der Lehrplan 21 (LP 21), auf Kompetenzraster und Kompetenzziele («Schülerinnen und Schüler können ...»). Für das Lernen selbst ist die konzeptionelle Ausrichtung der Lehrpläne aber völlig gleichgültig, denn gelernt wird. wie oben erwähnt, ausnahmslos an stofflichen Inhalten in konkreten Situationen.
Den Gegnern des Lehrplans 21 wird in Verkennung ihrer Argumente vorgeworfen, sie würden die Notwendigkeit des kompetenzorientierten Unterrichts partout nicht erkennen (wollen) und darum den neuen Volksschullehrplan ablehnen. Die Frage lautet dann üblicherweise: «Was habt ihr eigentlich gegen Kompetenzen?» – «Natürlich nichts, ganz im Gegenteil», heisst die ebenso übliche Standardantwort. Damit ist der Dialog leider auch schon beendet.

Die Befürworter haben unter den aktuellen Gegebenheiten nämlich nicht den geringsten Anlass, die Debatte um den LP 21 freiwillig in die breite Öffentlichkeit zu tragen.
Darum die auffallend wortkarge Haltung der lehrplanverantwortlichen Erziehungsdirektoren, der Pädagogischen Hochschulen, der Lehrplanautoren und – beschämend – das unterwürfig konformistische und unprofessionelle Verhalten vieler Lehrerverbände in ihrer Rolle als fachliche Anwälte der Kinder, Eltern und Lehrpersonen. Diese «Anwälte» scheinen zu übersehen, dass kein Betroffener sich dem gültigen Lehrplan verweigern kann.
Als Gegner des LP 21 wende ich mich nicht gegen die Nennung von Kompetenzen. Die Intervention richtet sich dezidiert gegen die Verabsolutierung der Kompetenzorientierung zulasten der Eigenwerte von Lerninhalten, aber auch gegen die Ausrichtung des LP 21 nach demokratisch nicht legitimierten (ideologischen) OECD-Diktaten.

Wer Wissen, Können und Handlungsfähigkeit heranbilden will, gründet seine Unterrichtsaktivitäten auf die Faszination der Lerngegenstände, der Inhalte, nicht auf allgemeine Kompetenzformulierungen. «Die Schülerinnen und Schüler können über Macht, Machtbegrenzung und Machtmissbrauch nachdenken, reflektieren», «… können nennen und unterscheiden, verstehen, austauschen, erkennen» usw. Die Einbindung derartiger Anweisungen in den Unterricht ist seit jeher eine Selbstverständlichkeit, die keiner tausendfachen Erwähnung im Lehrplan bedarf.

Die Gegnerschaft beruft sich auf gut zu begründende Einwände, wie etwa die Ausrichtung des Unterrichts auf Messbarkeit der Ergebnisse, auf Controlling und die Einschränkung der Methodenfreiheit durch die Vorgabe bestimmter Unterrichtsprinzipien, zum Beispiel der Binnendifferenzierung als intensiv propagierte Methode zur Individualisierung des Unterrichts in heterogenen Klassen.

Aber aufgepasst: «Individualisierung» bedeutet hier nicht die von gut meinenden Eltern erhoffte individuelle Lernhilfe in einem von der Lehrperson geführten und strukturierten Klassenunterricht, nein, das Credo heisst «Selbstorganisiertes Lernen» (SOL), schlimmstenfalls im Grossraumbüro! –  SOL ist unbestritten ein wichtiges Bildungsziel, aber kein chancengerechtes Unterrichtsprinzip für die Volksschule. Die Ergebnisse fallen besonders bei schwächeren Schülern verheerend aus. Der Abbau des beruflichen Freiraums für Lehrpersonen bis hin zum «randständigen» Lerncoach ist schon heute in manchen Schulen skurile Realität. Die Propagandisten werden aber nicht müde, die Einwände zu bestreiten.

Der Lehrplan 21 selbst verlangt zwar keine bestimmten Unterrichtsmethoden, doch rücken die einführenden Kapitel das Unterrichtsprinzip des selbständigen Lernens (SOL) in Lerngelegenheiten in den Vordergrund. Mit dem LP 21 wird dieses Unterrichtsprinzip zur Pflicht, was die berufliche Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Lehrpersonen mit Sicherheit massiv einschränken wird.

Die Ausrichtung des LP21 im Sammelfach «Natur, Mensch, Gesellschaft» strotzt von ideologienahen Themen, welche unter Vernachlässigung handfester Fachkenntnisse (wegen der Abschaffung von Physik, Chemie und Biologie als eigenständige Fächer) halt irgendwie durchgewurstelt werden müssen. Eine Zumutung für die Kinder, Eltern und Lehrer. Das Bestreben «weg von der Fachlichkeit, hin zum ideologieschwangeren Selbstbedienungsladen» schafft ein Bad der Beliebigkeit und «Lebensweltlichkeit», wo die Grenzen zwischen anregendem Unterricht und Indoktrination rasch verschwinden können. Absolut unverständlich ist darum der Verzicht auf die strikte Forderung nach Anwendung desBeutelsbacher Konsens im Lehrplan. Über die Jahre könnte andernfalls unsere Demokratie substanziell gefährdet werden. Ist es Fahrlässigkeit, Naivität oder Absicht der Lehrplanentwickler, einen Lehrplan zu propagieren, welcher unserer Kultur und die gewachsenen Traditionen nach dem Willen der OECD dem Globalisierungsgötzen opfern will?

Doch die Lehrplanverantwortlichen bauen auf die Gewissheit, nicht auf die Zustimmung des Volkes angewiesen zu sein. Die Macht der Argumente liegt offensichtlich bei den Gegnern. Den Verfechtern aber gehört die Macht der Politik. Beide Aussagen erklären die konsequente Verweigerung des Dialogs als einfachste und wirksamste Strategie zur Rettung des LP 21.

Entscheiden Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, ob Sie Ihren Kindern oder Enkelkindern einen kompetenzorientierten Lehrplan 21 mit dem folgenden «Qualitätsausweis» freiwillig zumuten würden:

- Das Kompetenzkonzept ist wissenschaftlich ungeklärt.  
- Es dient vorab dazu, «Bildung» messbar zu machen.  
- Kompetenzorientierung missachtet den Eigenwert von Lerninhalten und senkt das Bildungsniveau.  
- Lerninhalte werden durch den kompetenzorientierten Unterricht prinzipiell beliebig und damit leicht zweitrangig.  
- Kompetenzorientierung ist Grundlage des sogenannten «selbstgesteuerten Lernens» (SOL). Diese Unterrichtsprinzip ist sehr umstritten.  
- Der kompetenzorientierte LP 21 zielt auf Anpassung (Faktoren: Wirtschaft, Globalisierung, Gesellschaft, Politik).  
- Die OECD verfolgt eine Strategie kultureller Entwurzelung.  
- Gesellschaftliche Folgen: Untergraben von Demokratie, Kultur und Wirtschaft.  
- Die Grundforderung nach Harmonisierung wird nur unzureichend und durch freimütige Interpretation auf dem Papier erreicht.  
- Die neue Bildungsdoktrin macht Bildung zur Ware, zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor durch Privatisierung.  
- Die Durchsetzung des Kompetenzkonzepts zeigt Merkmale von Propaganda.  
- Die Zwischenbilanz nach zehn Jahren Kompetenzorientierung in Deutschland fällt in manchen Bundesländern vernichtend aus. Folgen: Dramatisches Schwinden von Wissen und Können (immer weniger Absolventen sind berufsfähig), Leistungsnivellierung nach unten und staatliches Notendumping bestimmen den Teufelskreis. Über 90 Prozent der Abiturienten gelten in universitären (harten) Fachrichtungen (Mathe, Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften) als nicht studierfähig und müssen in millionenteuren Vorbereitungskursen geistig aufgepäppelt werden. Auch in den USA verabschiedet man sich von den bislang als unverzichtbar gewerteten Kompetenzkonstrukten. Die «Päpstin» der Kompetenzorientierung, Diane Ravitch, gesteht den Irrtum in ihrem neuesten Buch öffentlich ein.

Vielleicht finden sich doch noch volksnahe Verfechter des Lehrplans 21, welche sich mutig aus dem Busch wagen und ihre Argumente ohne Not offenlegen.

Den Verfassern verspreche ich einen Ehrenplatz auf meiner Pinnwand.

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