Lehrplan 21: Anpassung wichtiger als Mündigkeit, Schulblog Südostschweiz, 18.11. von Fritz Tschudi
Gelernt wird im Unterricht
ausnahmslos an Lerninhalten am Lerngegenstand in unterschiedlichem Kontext. Das
Ergebnis ist stets ein Mehr an Wissen, Können und Handlungsfähigkeit, was
nichts anderes heisst, als dass jede Lernaktivität, Kompetenzen heranbildet.
Während bisherige Lehrpläne aber inhaltliche Lernziele vorgaben, setzen die
neumodischen, wie etwa der Lehrplan 21 (LP 21), auf Kompetenzraster und
Kompetenzziele («Schülerinnen und Schüler können ...»). Für das Lernen selbst
ist die konzeptionelle Ausrichtung der Lehrpläne aber völlig gleichgültig, denn
gelernt wird. wie oben erwähnt, ausnahmslos an stofflichen Inhalten in
konkreten Situationen.
Den Gegnern des Lehrplans 21 wird in
Verkennung ihrer Argumente vorgeworfen, sie würden die Notwendigkeit des
kompetenzorientierten Unterrichts partout nicht erkennen (wollen) und darum den
neuen Volksschullehrplan ablehnen. Die Frage lautet dann üblicherweise: «Was
habt ihr eigentlich gegen Kompetenzen?» – «Natürlich nichts, ganz im
Gegenteil», heisst die ebenso übliche Standardantwort. Damit ist der Dialog
leider auch schon beendet.
Die Befürworter haben unter den
aktuellen Gegebenheiten nämlich nicht den geringsten Anlass, die Debatte um den
LP 21 freiwillig in die breite Öffentlichkeit zu tragen.
Darum die auffallend wortkarge
Haltung der lehrplanverantwortlichen Erziehungsdirektoren, der Pädagogischen
Hochschulen, der Lehrplanautoren und – beschämend – das unterwürfig
konformistische und unprofessionelle Verhalten vieler Lehrerverbände in ihrer Rolle
als fachliche Anwälte der Kinder, Eltern und Lehrpersonen. Diese «Anwälte»
scheinen zu übersehen, dass kein Betroffener sich dem gültigen Lehrplan
verweigern kann.
Als Gegner des LP 21 wende ich mich
nicht gegen die Nennung von Kompetenzen. Die Intervention richtet sich
dezidiert gegen die Verabsolutierung der Kompetenzorientierung zulasten der
Eigenwerte von Lerninhalten, aber auch gegen die Ausrichtung des LP 21 nach
demokratisch nicht legitimierten (ideologischen) OECD-Diktaten.
Wer Wissen, Können und
Handlungsfähigkeit heranbilden will, gründet seine Unterrichtsaktivitäten auf
die Faszination der Lerngegenstände, der Inhalte, nicht auf allgemeine
Kompetenzformulierungen. «Die Schülerinnen und Schüler können über Macht,
Machtbegrenzung und Machtmissbrauch nachdenken, reflektieren», «… können nennen
und unterscheiden, verstehen, austauschen, erkennen» usw. Die Einbindung
derartiger Anweisungen in den Unterricht ist seit jeher eine
Selbstverständlichkeit, die keiner tausendfachen Erwähnung im Lehrplan bedarf.
Die Gegnerschaft beruft sich auf gut
zu begründende Einwände, wie etwa die Ausrichtung des Unterrichts auf
Messbarkeit der Ergebnisse, auf Controlling und die Einschränkung der
Methodenfreiheit durch die Vorgabe bestimmter Unterrichtsprinzipien, zum Beispiel
der Binnendifferenzierung als intensiv propagierte Methode zur
Individualisierung des Unterrichts in heterogenen Klassen.
Aber aufgepasst: «Individualisierung»
bedeutet hier nicht die von gut meinenden Eltern erhoffte individuelle
Lernhilfe in einem von der Lehrperson geführten und strukturierten
Klassenunterricht, nein, das Credo heisst «Selbstorganisiertes Lernen» (SOL),
schlimmstenfalls im Grossraumbüro! – SOL ist unbestritten ein wichtiges
Bildungsziel, aber kein chancengerechtes Unterrichtsprinzip für die
Volksschule. Die Ergebnisse fallen besonders bei schwächeren Schülern
verheerend aus. Der Abbau des beruflichen Freiraums für Lehrpersonen bis hin
zum «randständigen» Lerncoach ist schon heute in manchen Schulen skurile
Realität. Die Propagandisten werden aber nicht müde, die Einwände zu
bestreiten.
Der Lehrplan 21 selbst verlangt zwar
keine bestimmten Unterrichtsmethoden, doch rücken die einführenden Kapitel das
Unterrichtsprinzip des selbständigen Lernens (SOL) in Lerngelegenheiten in den
Vordergrund. Mit dem LP 21 wird dieses Unterrichtsprinzip zur Pflicht, was die
berufliche Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Lehrpersonen mit
Sicherheit massiv einschränken wird.
Die Ausrichtung des LP21 im
Sammelfach «Natur, Mensch, Gesellschaft» strotzt von ideologienahen Themen,
welche unter Vernachlässigung handfester Fachkenntnisse (wegen der Abschaffung
von Physik, Chemie und Biologie als eigenständige Fächer) halt irgendwie
durchgewurstelt werden müssen. Eine Zumutung für die Kinder, Eltern und Lehrer.
Das Bestreben «weg von der Fachlichkeit, hin zum ideologieschwangeren
Selbstbedienungsladen» schafft ein Bad der Beliebigkeit und
«Lebensweltlichkeit», wo die Grenzen zwischen anregendem Unterricht und
Indoktrination rasch verschwinden können. Absolut unverständlich ist darum der
Verzicht auf die strikte Forderung nach Anwendung desBeutelsbacher Konsens im Lehrplan. Über die
Jahre könnte andernfalls unsere Demokratie substanziell gefährdet werden. Ist
es Fahrlässigkeit, Naivität oder Absicht der Lehrplanentwickler, einen Lehrplan
zu propagieren, welcher unserer Kultur und die gewachsenen Traditionen nach dem
Willen der OECD dem Globalisierungsgötzen opfern will?
Doch die Lehrplanverantwortlichen
bauen auf die Gewissheit, nicht auf die Zustimmung des Volkes angewiesen zu
sein. Die Macht der Argumente liegt offensichtlich bei den Gegnern. Den
Verfechtern aber gehört die Macht der Politik. Beide Aussagen erklären die
konsequente Verweigerung des Dialogs als einfachste und wirksamste Strategie
zur Rettung des LP 21.
Entscheiden Sie, geschätzte Leserin,
geschätzter Leser, ob Sie Ihren Kindern oder Enkelkindern einen
kompetenzorientierten Lehrplan 21 mit dem folgenden «Qualitätsausweis»
freiwillig zumuten würden:
- Das Kompetenzkonzept ist
wissenschaftlich ungeklärt.
- Es dient vorab dazu, «Bildung»
messbar zu machen.
- Kompetenzorientierung missachtet
den Eigenwert von Lerninhalten und senkt das Bildungsniveau.
- Lerninhalte werden durch den
kompetenzorientierten Unterricht prinzipiell beliebig und damit leicht
zweitrangig.
- Kompetenzorientierung ist Grundlage
des sogenannten «selbstgesteuerten Lernens» (SOL). Diese Unterrichtsprinzip ist
sehr umstritten.
- Der kompetenzorientierte LP 21
zielt auf Anpassung (Faktoren: Wirtschaft, Globalisierung, Gesellschaft,
Politik).
- Die OECD verfolgt eine Strategie
kultureller Entwurzelung.
- Gesellschaftliche Folgen:
Untergraben von Demokratie, Kultur und Wirtschaft.
- Die Grundforderung nach
Harmonisierung wird nur unzureichend und durch freimütige Interpretation auf
dem Papier erreicht.
- Die neue Bildungsdoktrin macht
Bildung zur Ware, zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor durch Privatisierung.
- Die Durchsetzung des
Kompetenzkonzepts zeigt Merkmale von Propaganda.
- Die Zwischenbilanz nach zehn Jahren
Kompetenzorientierung in Deutschland fällt in manchen Bundesländern vernichtend
aus. Folgen: Dramatisches Schwinden von Wissen und Können (immer weniger
Absolventen sind berufsfähig), Leistungsnivellierung nach unten und staatliches
Notendumping bestimmen den Teufelskreis. Über 90 Prozent der Abiturienten
gelten in universitären (harten) Fachrichtungen (Mathe, Naturwissenschaften,
Ingenieurwissenschaften) als nicht studierfähig und müssen in millionenteuren
Vorbereitungskursen geistig aufgepäppelt werden. Auch in den USA verabschiedet
man sich von den bislang als unverzichtbar gewerteten Kompetenzkonstrukten. Die
«Päpstin» der Kompetenzorientierung, Diane Ravitch, gesteht den Irrtum in ihrem
neuesten Buch öffentlich ein.
Vielleicht finden sich doch noch
volksnahe Verfechter des Lehrplans 21, welche sich mutig aus dem Busch wagen
und ihre Argumente ohne Not offenlegen.
Den Verfassern verspreche ich einen
Ehrenplatz auf meiner Pinnwand.
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