Mehr Lehrer im Klassenzimmer kosten viel Geld, Bild: Keystone
Integrative Schulung treibt Kosten hoch, Basellandschaftliche Zeitung, 4.11. von Andreas Hirsbrunner
Ein heisses Eisen fasste kürzlich der Leiter
des Schulpsychologischen Dienstes Baselland, Martin Brunner, an: In einem
Aufsatz in einer Fachzeitschrift schrieb er, dass die Kosten bei der
integrativen (Sonder-)Schulung in praktisch der ganzen Deutschschweiz stark
angestiegen seien, ohne dass parallel dazu diejenigen «in separativen Settings»
im gleichen Umfang zurückgegangen wären. Bei der Einrichtung der integrativen
Schule sei man aber davon ausgegangen, dass die separativen Klein- und
Sonderklassen äquivalent ersetzt würden. Brunner: «Eine mechanische
Gleichgewichtsvorstellung lag zugrunde: hier Aufbau, dort Abbau. Ausdruck
dieser Haltung war die Annahme, dieser Umbau könne kostenneutral erfolgen.»
Dabei sei jedoch massiv unterschätzt worden,
dass der Ersatz des unbeliebten separativen durch das akzeptierte integrative
Angebot zusätzliche Förderbedürfnisse auslöse. Zudem sei eine «neue Population
in die Förderung gespült» worden – Kinder, deren Eltern separative Angebote
abgelehnt hatten, obschon die Kinder Förderung dringend benötigt hätten.
Ebenfalls stimulierend auf die Förderbedürfnisse wirke sich aus, dass von der
Schule verlangt werde, mehr Wissen zu vermitteln. Gleichzeitig hätten Eltern
zunehmend den Anspruch, dass ihre Kinder mindestens das Sekundarschulniveau E
erreichen.
Mehr
Sonderschüler
Wie sieht nun die Situation im Baselbiet im
Detail aus? Unterscheiden muss man zuerst einmal die Sonderschulung und die
Spezielle Förderung, wobei beiden Angeboten gemeinsam ist, dass es eine
integrative (eingliedernde) und eine separative (trennende) Variante gibt. Auf
integrative Sonderschulung haben Schüler mit einer Behinderung sowie mit einer
Verhaltensauffälligkeit wie etwa Autismus Anspruch, sofern dies dem Wohl des Kindes
entspricht und mit der Schulorganisation vereinbar ist. Dabei wird in
Einzelintegration und Gruppenintegration unterschieden.
Bei der Einzelintegration erhalten die
Schüler wöchentlich sechs bis acht Stunden Einzelunterstützung, während sie den
Rest des Unterrichts in der Regel-Klasse verbringen. Bei der Gruppenintegration
werden durchschnittlich vier Kinder als Gruppe in einer Klasse integriert und
zusätzlich zur normalen Lehrkraft von einem Vollzeit-Heilpädagogen samt
Assistenz begleitet.
Die Zahlen dieser integrativen Sonderschulung
haben nun im Kanton in der Tat stark zugenommen, wie eine Zusammenstellung der
Bildungsdirektion zeigt: Vor zehn Jahren kamen 32 Schüler in deren Genuss, im
laufenden Schuljahr sind es 273. Parallel dazu sank die Zahl der Schüler in der
separativen Sonderschulung im gleichen Zeitraum von 486 auf aktuell 387.
Darunter fallen jene Kinder, die die heilpädagogischen Schulen in Liestal und
Münchenstein, die Sprachheilschule in Riehen, den Sonnenhof in Arlesheim, die
Leiern in Gelterkinden und das Therapieund Schulungszentrum in Münchenstein
besuchen. Im Verhältnis zur Gesamtschü- lerzahl in der Volksschule
(Kindergarten, Primar- und Sekundarschule I) ist damit der Anteil der
Sonderschulung seit 2006 von 1,7 auf 2,3 Prozent gestiegen.
Überraschenderweise sagt aber Marianne
Stöckli, die in der Bildungsdirektion die Abteilung Sonderpädagogik leitet,
dazu: «Was Martin Brunner zum Kostenanstieg bei der Sonderschulung schreibt,
gilt wohl für etliche Kantone, aber nicht für Baselland. Bei uns sind die
Kosten für die Sonderschulung mit jährlich 46 Millionen Franken seit langem
konstant.» Einzig im Schuljahr 2011/2012 seien sie nach oben ausgerissen. Grund
für die Konstanz trotz steigender Schülerzahlen ist laut Stöckli, dass die
Kosten bei der integrativen Form pro Kind günstiger sind als bei der
separativen. Und im «Ausreisser-Jahr» habe man umgehend reagiert und eine «neue
Säule» aufgebaut: «Der starke Anstieg der verhaltensauffälligen Kinder rief uns
auf den Plan, dass wir etwas machen müssen. Deshalb haben wir die Spezielle
Förderung ausgebaut.»
Spezielle
Förderung explodiert
Innerhalb dieser Speziellen Förderung gehören
Integrative Schulungsform ISF, Begabungsförderung und Deutsch als Zweitsprache
zur integrativen und Einführungs-, Klein- und Integrationsklasse für
Fremdsprachige, Werkjahr sowie der verordnete Privatschulbesuch zur separativen
Form. Und auch bei der Speziellen Förderung zeigt sich ein ähnliches Bild wie
bei der Sonderschulung: Die 2006 eingeführte integrative Form ist in der
Volksschule mittlerweile auf 5996 Schüler explodiert, während die separative
Form auf 1176 Schüler gesunken ist, was noch halb so viele sind wie vor zehn
Jahren.
Was heisst das nun bezüglich Kosten? Die
Bildungsdirektion kennt aufgrund der Finanzzuständigkeit nur die Aufwendungen
der Sekundarstufe. Und die sind in den letzten drei Jahren um einen Drittel auf
rund acht Millionen Franken jährlich gestiegen. Was aber die spezielle
Förderung in Kindergarten und Primarschule kostet, darüber gibt es keine Übersicht,
weil dafür die einzelnen Gemeinden zuständig sind. Zusammengetragen hat diese
Zahlen laut dem Verband Basellandschaftlicher Gemeinden bisher niemand. Doch
die Kosten dürften auf dieser Stufe um einiges höher liegen, da fast ein
Drittel aller Kindergärtler und Primarschüler Spezielle Förderung in Anspruch
nimmt, während es auf der Sekundarstufe I nur knapp zwölf Prozent der Schüler
sind.
Somit lässt sich Brunners Aussage, dass die
Entwicklung von der separativen zur integrativen Schulung in der Volksschule zu
einer Kostenexplosion geführt hat, fürs Baselbiet nur bedingt mit Zahlen
unterlegen. Dass Brunner aber recht hat, daran zweifelt niemand.
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