Doch das reicht offenbar nicht. In einem Interview mit der deutschen "Zeit" äussert sich Eymann zum Widerstand gegen den Lehrplan 21 in der Schweiz. Er schwärmt: "Wir waren aber immer an einem offenen Dialog interessiert. Und an Kritik. Das hat sich ausbezahlt." Eymann findet, der Lehrplan 21 richte sich nicht an Eltern - der gehe diese eigentlich gar nichts an. Und die vielen Kritiker reiben sich bei folgender Aussage ungläubig die Augen: "Die Basis (des Widerstands, U.K.) bildete das Halbwissen von bildungspolitisch tätigen Milizparlamentariern, die sich mit ihrer Empörung an die gefolgsbereiten Sektionen in den Kantonen gewandt haben". Eymann dürfte der frühe Widerstand von Lehrern, Eltern und Bildungswissenschaftern wohl entgangen sein.
Der Lehrplan 21 mit seinen weitreichenden Auswirkungen auf die Methoden und Ziele des Unterrichts, auf die Art der Leistungsmessung und die Rolle der Lehrkräfte kann nicht mit früheren Lehrplänen mit ihren Stoffsammlungen gleichgesetzt werden. Diese markante Weichenstellung muss demokratisch legitimiert sein. Der breite Widerstand, der sich politisch nun in Initiativform ausdrückt, soll - koste es, was es wolle - mit juristisch fragwürdigen Ungültigkeitserklärungen gebrochen werden. Das Volk soll in der Schweiz in Sachen Volksschule nichts mehr zu sagen haben. Es stellt sich daher die Frage, ob Herr Eymann in seinem hohen und wichtigen Amt noch tragbar ist.(uk)
Problematische Aussagen zum Lehrplan 21: Christoph Eymann, Präsident EDK
"Das geht die Eltern nichts an", Zeit, 11.11. von Sarah Jäggi
DIE ZEIT: Herr Eymann, in der halben
Schweiz streitet man über den Lehrplan 21. Sie haben ihn im Kanton
Basel-Stadt ruckzuck eingeführt. Wie haben Sie das geschafft?
Christoph Eymann: Wir hatten eine komfortable
Ausgangslage. In Basel gab es ein komplett anderes Schulsystem als in der
übrigen Schweiz. Das wollten alle ändern. Eltern, Lehrer, die Politik. Auf das
neue Schuljahr hin wurde das nun gemacht. Da lag es auf der Hand, den Lehrplan
21 einzuführen. Wir haben eine forsche Gangart eingeschlagen und den Lehrern
viel zugemutet. Wir waren aber immer an einem offenen Dialog interessiert. Und
an Kritik. Das hat sich ausgezahlt.
ZEIT: Nun, Sie mussten den
Lehrplan 21 auch nicht durch einen Volksentscheid absegnen lassen.
Eymann: Zum Glück nicht, muss ich
ehrlicherweise sagen. Die Mitsprache des Volkes muss in Detailfragen Grenzen
haben. Im geschätzten Partnerkanton Baselland gab es einen Vorstoß im
Parlament, dass der Landrat über die Lehrmittel befinden soll. Wenn es um
Lehrpläne, Lehrmittel und Stundentafeln geht, braucht es Fachleute und nicht
ein Parlament. Und schon gar nicht das Volk. Das Fachwissen liegt hier bei den
demokratisch legitimierten Bildungsräten.
ZEIT: Viele, die selber Kinder
haben, fühlen sich kompetent in Bildungsfragen.
Eymann: Ich bin seit fünfzehn
Jahren Bildungsdirektor. In all den Jahren hatten wir nur einmal eine
Diskussion über den Lehrplan: als wir im Kindergarten den Berner Lehrplan
übernommen haben. Das bewegte die Kindergärtnerinnen. Aber in der Bevölkerung?
Nie.
ZEIT: Die Eltern interessieren
sich also gar nicht für den Lehrplan?
Eymann: Die interessieren andere
Dinge: Kommt mein Kind sicher ins Schulhaus? Wie ist die Klasse
zusammengesetzt? Von wem wird es unterrichtet? Der neue Lehrplan wurde zum
Objekt der Politik gemacht. Das ist schlecht.
ZEIT: Warum?
Eymann: Weil die Schule damit
beschädigt wird. Man darf diesen Lehrplan kritisieren, selbstverständlich. Aber
wir haben den Auftrag des Volkes, die Schulsysteme zu vereinheitlichen.
ZEIT: Der eidgenössische
Bildungsartikel, über den 2006 abgestimmt wurde ...
Eymann: ... und der mit 85 Prozent
Ja-Stimmen angenommen wurde.
ZEIT: Was erstaunt: Sie haben den
Lehrplan 21 eingeführt, obwohl es noch gar keine Lehrmittel dafür gibt.
Eymann: Das ist der Kompromiss. Wir
wollten keinen abrupten Übergang, bei dem wir sofort alle Lehrmittel
austauschen. Darum haben wir eine sechsjährige Übergangsfrist.
ZEIT: Ich habe im Hinblick auf
dieses Gespräch mit verschiedenen Lehrern in Basel gesprochen. Sie sagen: Wir
hatten nicht einmal Zeit, um Widerstand zu organisieren!
Eymann: Wir haben sie mit dem Tempo
sicherlich etwas strapaziert.
ZEIT: Nun, wo sie einige Wochen
mit dem neuen Lehrplan gearbeitet haben, sagen die Lehrer: Im Schulzimmer hat
sich eigentlich gar nicht viel verändert. Warum braucht es denn diesen Lehrplan
überhaupt?
Eymann: Die große Errungenschaft
ist, dass künftig alle Kinder der Deutschschweiz mit denselben Zielen unterrichtet
werden. Eine weitere ist, dass es nicht mehr gesonderte Lehrpläne für jede
Schulstufe gibt und die Übergänge mitgedacht sind. Eine Lehrerin weiß künftig,
wo sie am Ende des Jahres mit ihrer Klasse stehen muss – und wie es im nächsten
Jahr weitergeht. Ich habe den Lehrern im Vorfeld gesagt: gut möglich, dass sich
an eurer Französischstunde nichts ändert. Und bitte, schaut den Lehrplan nicht
als Bibel an, sondern als Kompass! Es gibt bei uns keine Kontrollinstanz, die
prüft, ob sich jeder sklavisch daran hält.
"Die Situation ist
tatsächlich sehr schwierig"
ZEIT: Die Lehrer sagen auch: Der
Knackpunkt seien die Sammelfächer.Dass Geografie und Geschichte nicht
mehr einzeln unterrichtet werden, sondern im Fach "Räume, Zeit,
Gesellschaft" ineinanderfließen.
Eymann: Das höre ich auch. Wir
haben den Schulleitungen freigestellt, ob sie diese Fächer im Moment noch
separat unterrichten, wenn sie das für sinnvoll halten. Auch hier: keine harte
Deadline. Wir sind nicht dogmatisch.
ZEIT: Aber in sechs Jahren, wenn
die Übergangsfrist abläuft, muss es funktionieren?
Eymann: Wir gehen davon aus, dass
wir bis dahin viele Lehrer haben, die ihre Ausbildung nach dem neuen Lehrplan
gemacht haben – oder sich weitergebildet haben.
ZEIT: Es gibt aber grundsätzliche
Bedenken gegen die Sammelfächer, etwa von Geschichtsdidaktikern, die davor
warnen, dass das historische Denken zu kurz komme.
Eymann: Es gibt gute Gründe für die
Sammelfächer, wohl auch berechtigte Kritik. Es würde mich nicht wundern, wenn
in der einen oder anderen Frage, die wir heute diskutieren, das Pendel wieder
zurückschlägt. Das kann bei den Sammelfächern passieren oder auch bei der
integrativen Schule. Ich will all das nicht mit Zähnen und Klauen, als biederer
Jurist, der ich bin, verteidigen. Aber ich stehe loyal dahinter.
ZEIT: Mit dem Lehrplan 21 wird es
erstmals möglich, die Schulleistungen in der ganzen Schweiz zu messen und zu
vergleichen. Was erhofft man sich davon?
Eymann: Da bin ich zwiegespalten.
Auf der einen Seite darf ein Schulvergleich nicht dazu führen, den Ehrgeiz der
Lehrer derart anzustacheln, dass sie möglichst steil rauskommen. Teaching
to the test,das wäre eine Katastrophe. Wenn aber eine Verwaltung dank
solcher Daten sieht, ob man in Schulhaus A oder B die Ressourcen verstärken
muss, ist das sinnvoll.
ZEIT: Wer soll solche Daten
einsehen dürfen?
Eymann: Die Missbrauchsgefahr ist
groß. Darum haben wir in Basel-Stadt im Schulgesetz geregelt, dass für solche
Daten das Öffentlichkeitsprinzip nicht gilt.
ZEIT: Ein Kanton kann sich aber
auch anders entscheiden, voll auf die Karte Transparenz setzen und etwa einen
Leistungslohn für Lehrer einführen.
Eymann: Das wäre totaler Nonsens!
Eine Schulklasse ist eine durch Zufall entstandene Schicksalsgemeinschaft.
Jeder hat Schwächen, jeder Stärken. Es wäre heftig ungerecht, jene Lehrer zu
belohnen, die viele Schüler ans Gymnasium bringen.
ZEIT: Sie sind ja nicht nur
Basler Regierungsrat, sondern auch Präsident der Erziehungsdirektoren-Konferenz
(EDK). Wieso wurde die Einführung des Lehrplans 21 zu einem derartigen
Kommunikationsdesaster?
Eymann: Desaster würde ich nicht
sagen. Aber die Situation ist tatsächlich sehr schwierig.
ZEIT: Es wird zum Beispiel
darüber gesprochen, dass die Kinder 4.000 Kompetenzen erwerben müssen. Nicht
aber, dass sie dafür elf Jahre Zeit haben: vom Kindergarten bis zum Ende der
Sekundarschule.
Eymann: Man kann mit dem Lehrplan
21 sehr leicht Stimmung machen, er enthält viele verschwurbelte Passagen, über
die man den Kopf schütteln kann. Aber es ist nun mal so: Der Lehrplan ist als
Arbeitsanweisung für Menschen gedacht, die einen Beruf an einer pädagogischen
Hochschule à fonds gelernt haben. Diese Philosophie wollten wir nicht aufgeben.
ZEIT: Sie hätten sich das Leben
einfacher gemacht, wenn Sie die ärgsten Schwurbelpassagen rausgekippt hätten.
Eymann: Wenn ich von meinem
Hausarzt ein Rezept für eine Physiotherapie erhalte, verstehe ich auch nicht
alles. Die Physiotherapie kann trotzdem gut sein.
ZEIT: Eltern müssen den Lehrplan
also gar nicht verstehen?
Eymann: Sie sind nicht das
Zielpublikum. Es ist heikel zu sagen: Das geht die Eltern nichts an.
ZEIT: Aber so meinen Sie es?
Eymann: Ein bisschen.
ZEIT: Aber nochmals: Warum ist
die Diskussion über den Lehrplan dermaßen aus dem Ruder gelaufen?
Eymann: Es sind Kräfte am Werk, die
diesen Lehrplan partout nicht wollen.
ZEIT: Sie meinen die SVP?
Eymann: Die SVP, die eine große,
gut geplante Breitseite auf den Lehrplan gefeuert hat. Die Basis bildete das
Halbwissen von bildungspolitisch tätigen Milizparlamentariern, die sich mit
ihrer Empörung an die gefolgsbereiten Sektionen in den Kantonen gewandt haben.
Mit Erfolg! Auch dank der Verbündeten, die sie überall finden: Hier eine
besorgte Standesorganisation, dort eine Gewerkschaft, da ein Gewerbeverein. Bis
hin zu den religiös motivierten Gender-Kritikern. Jeder, der sucht, wird im
Lehrplan 21 etwas finden, was ihm nicht passt.
ZEIT: Mit welchen Folgen?
Eymann: All das führte zu einem
Ungleichgewicht in der Kommunikation. In einer Art und Weise, wie ich es in den
30 Jahren, da ich politisch tätig bin, nie erlebt habe. Die
Erziehungsdirektoren und ihre Konferenzen haben kein Sprachrohr, mit dem sie
sich jederzeit in jedem Kanton äußern können, um Vorwürfe zu entkräften, so
ungerechtfertigt sie auch sein mögen.
ZEIT: Haben Sie das unterschätzt?
Eymann: Den Umfang der Kritik und
die Heftigkeit, mit der sie vorgetragen wird? Ja.
ZEIT: Kürzlich mussten Sie sich
in der Arena von Altrocker Chris von Rohr die Leviten lesen
lassen. Wie viel Spaß macht Ihnen Ihr Amt noch?
Eymann: Oh, die Freude ist da! Auch
weil ich gelernt habe: Wenn du dieses Amt gut machen willst, musst du bereit
sein, jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Jemand wie Chris von Rohr nährt
perfekt das Bild der bunten Welt, wie ich sie mir wünsche. Auch wenn die
Legitimation von Herrn von Rohr in bildungspolitischen Fragen nicht
selbsterklärend ist.
ZEIT: Ging die Diskussion noch
weiter, als die Sendung vorbei war?
Eymann: Er kam zu mir und sagte in
seinem Solothurner Dialekt: "Du bisch e geile Siech, chumm mir rocke mou
Basu!"
ZEIT: Und?
Eymann: Er hat sich noch nicht
gemeldet.
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