21. November 2015

Ist Eymann noch tragbar?

"Verzell du das em Fährimaa!" Das sagt man in Basel, wenn man das Gefühl hat, man werde auf den Arm genommen. Wenn Lehrplankritiker das Interview von Christoph Eymann - Präsident der EDK und Basler Erziehungsdirektor - in der "Zeit" lesen, dann müssen sehr viele "Fährimaane" zuhören, dermassen unverblümt sind die Manipulationsversuche des Magistraten. Dabei hat Eymann mit seinem Leistungsausweis (Basels Schüler gehören zu den schwächsten der Deutschschweiz) keinen Grund dafür: Er ist verantwortlich für das desaströse Sprachenkonzept, das entgegen den Versprechungen die Barrieren zwischen den Kantonen zusätzlich verstärkt. Er verteidigt - gegen alle Vernunft und wissenschaftliche Evidenz - das frühe Lernen von zwei Fremdsprachen. Das sich immer stärker abzeichnende Debakel im Fremdsprachenlernen lässt ihn kalt. Trotz massiven Investitionen in Weiterbildung und Lehrmitteln, trotz Lektionsausbau an der Primarschule bleiben die Erfolge aus. 

Doch das reicht offenbar nicht. In einem Interview mit der deutschen "Zeit" äussert sich Eymann zum Widerstand gegen den Lehrplan 21 in der Schweiz. Er schwärmt: "Wir waren aber immer an einem offenen Dialog interessiert. Und an Kritik. Das hat sich ausbezahlt." Eymann findet, der Lehrplan 21 richte sich nicht an Eltern - der gehe diese eigentlich gar nichts an. Und die vielen Kritiker reiben sich bei folgender Aussage ungläubig die Augen: "Die Basis (des Widerstands, U.K.) bildete das Halbwissen von bildungspolitisch tätigen Milizparlamentariern, die sich mit ihrer Empörung an die gefolgsbereiten Sektionen in den Kantonen gewandt haben". Eymann dürfte der frühe Widerstand von Lehrern, Eltern und Bildungswissenschaftern wohl entgangen sein. 

Der Lehrplan 21 mit seinen weitreichenden Auswirkungen auf die Methoden und Ziele des Unterrichts, auf die Art der Leistungsmessung und die Rolle der Lehrkräfte kann nicht mit früheren Lehrplänen mit ihren Stoffsammlungen gleichgesetzt werden. Diese markante Weichenstellung muss demokratisch legitimiert sein. Der breite Widerstand, der sich politisch nun in Initiativform ausdrückt, soll - koste es, was es wolle - mit juristisch fragwürdigen Ungültigkeitserklärungen gebrochen werden. Das Volk soll in der Schweiz in Sachen Volksschule nichts mehr zu sagen haben. Es stellt sich daher die Frage, ob Herr Eymann in seinem hohen und wichtigen Amt noch tragbar ist.(uk)













Problematische Aussagen zum Lehrplan 21: Christoph Eymann, Präsident EDK
"Das geht die Eltern nichts an", Zeit, 11.11. von Sarah Jäggi


DIE ZEIT: Herr Eymann, in der halben Schweiz streitet man über den Lehrplan 21. Sie haben ihn im Kanton Basel-Stadt ruckzuck eingeführt. Wie haben Sie das geschafft?
Christoph Eymann: Wir hatten eine komfortable Ausgangslage. In Basel gab es ein komplett anderes Schulsystem als in der übrigen Schweiz. Das wollten alle ändern. Eltern, Lehrer, die Politik. Auf das neue Schuljahr hin wurde das nun gemacht. Da lag es auf der Hand, den Lehrplan 21 einzuführen. Wir haben eine forsche Gangart eingeschlagen und den Lehrern viel zugemutet. Wir waren aber immer an einem offenen Dialog interessiert. Und an Kritik. Das hat sich ausgezahlt.
ZEIT: Nun, Sie mussten den Lehrplan 21 auch nicht durch einen Volksentscheid absegnen lassen.
Eymann: Zum Glück nicht, muss ich ehrlicherweise sagen. Die Mitsprache des Volkes muss in Detailfragen Grenzen haben. Im geschätzten Partnerkanton Baselland gab es einen Vorstoß im Parlament, dass der Landrat über die Lehrmittel befinden soll. Wenn es um Lehrpläne, Lehrmittel und Stundentafeln geht, braucht es Fachleute und nicht ein Parlament. Und schon gar nicht das Volk. Das Fachwissen liegt hier bei den demokratisch legitimierten Bildungsräten.
ZEIT: Viele, die selber Kinder haben, fühlen sich kompetent in Bildungsfragen.
Eymann: Ich bin seit fünfzehn Jahren Bildungsdirektor. In all den Jahren hatten wir nur einmal eine Diskussion über den Lehrplan: als wir im Kindergarten den Berner Lehrplan übernommen haben. Das bewegte die Kindergärtnerinnen. Aber in der Bevölkerung? Nie.
ZEIT: Die Eltern interessieren sich also gar nicht für den Lehrplan?
Eymann: Die interessieren andere Dinge: Kommt mein Kind sicher ins Schulhaus? Wie ist die Klasse zusammengesetzt? Von wem wird es unterrichtet? Der neue Lehrplan wurde zum Objekt der Politik gemacht. Das ist schlecht.
ZEIT: Warum?
Eymann: Weil die Schule damit beschädigt wird. Man darf diesen Lehrplan kritisieren, selbstverständlich. Aber wir haben den Auftrag des Volkes, die Schulsysteme zu vereinheitlichen.
ZEIT: Der eidgenössische Bildungsartikel, über den 2006 abgestimmt wurde ...
Eymann: ... und der mit 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde.
ZEIT: Was erstaunt: Sie haben den Lehrplan 21 eingeführt, obwohl es noch gar keine Lehrmittel dafür gibt.
Eymann: Das ist der Kompromiss. Wir wollten keinen abrupten Übergang, bei dem wir sofort alle Lehrmittel austauschen. Darum haben wir eine sechsjährige Übergangsfrist.
ZEIT: Ich habe im Hinblick auf dieses Gespräch mit verschiedenen Lehrern in Basel gesprochen. Sie sagen: Wir hatten nicht einmal Zeit, um Widerstand zu organisieren!
Eymann: Wir haben sie mit dem Tempo sicherlich etwas strapaziert.
ZEIT: Nun, wo sie einige Wochen mit dem neuen Lehrplan gearbeitet haben, sagen die Lehrer: Im Schulzimmer hat sich eigentlich gar nicht viel verändert. Warum braucht es denn diesen Lehrplan überhaupt?
Eymann: Die große Errungenschaft ist, dass künftig alle Kinder der Deutschschweiz mit denselben Zielen unterrichtet werden. Eine weitere ist, dass es nicht mehr gesonderte Lehrpläne für jede Schulstufe gibt und die Übergänge mitgedacht sind. Eine Lehrerin weiß künftig, wo sie am Ende des Jahres mit ihrer Klasse stehen muss – und wie es im nächsten Jahr weitergeht. Ich habe den Lehrern im Vorfeld gesagt: gut möglich, dass sich an eurer Französischstunde nichts ändert. Und bitte, schaut den Lehrplan nicht als Bibel an, sondern als Kompass! Es gibt bei uns keine Kontrollinstanz, die prüft, ob sich jeder sklavisch daran hält.
"Die Situation ist tatsächlich sehr schwierig"
ZEIT: Die Lehrer sagen auch: Der Knackpunkt seien die Sammelfächer.Dass Geografie und Geschichte nicht mehr einzeln unterrichtet werden, sondern im Fach "Räume, Zeit, Gesellschaft" ineinanderfließen.
Eymann: Das höre ich auch. Wir haben den Schulleitungen freigestellt, ob sie diese Fächer im Moment noch separat unterrichten, wenn sie das für sinnvoll halten. Auch hier: keine harte Deadline. Wir sind nicht dogmatisch.
ZEIT: Aber in sechs Jahren, wenn die Übergangsfrist abläuft, muss es funktionieren?
Eymann: Wir gehen davon aus, dass wir bis dahin viele Lehrer haben, die ihre Ausbildung nach dem neuen Lehrplan gemacht haben – oder sich weitergebildet haben.
ZEIT: Es gibt aber grundsätzliche Bedenken gegen die Sammelfächer, etwa von Geschichtsdidaktikern, die davor warnen, dass das historische Denken zu kurz komme.
Eymann: Es gibt gute Gründe für die Sammelfächer, wohl auch berechtigte Kritik. Es würde mich nicht wundern, wenn in der einen oder anderen Frage, die wir heute diskutieren, das Pendel wieder zurückschlägt. Das kann bei den Sammelfächern passieren oder auch bei der integrativen Schule. Ich will all das nicht mit Zähnen und Klauen, als biederer Jurist, der ich bin, verteidigen. Aber ich stehe loyal dahinter.
ZEIT: Mit dem Lehrplan 21 wird es erstmals möglich, die Schulleistungen in der ganzen Schweiz zu messen und zu vergleichen. Was erhofft man sich davon?
Eymann: Da bin ich zwiegespalten. Auf der einen Seite darf ein Schulvergleich nicht dazu führen, den Ehrgeiz der Lehrer derart anzustacheln, dass sie möglichst steil rauskommen. Teaching to the test,das wäre eine Katastrophe. Wenn aber eine Verwaltung dank solcher Daten sieht, ob man in Schulhaus A oder B die Ressourcen verstärken muss, ist das sinnvoll.
ZEIT: Wer soll solche Daten einsehen dürfen?
Eymann: Die Missbrauchsgefahr ist groß. Darum haben wir in Basel-Stadt im Schulgesetz geregelt, dass für solche Daten das Öffentlichkeitsprinzip nicht gilt.
ZEIT: Ein Kanton kann sich aber auch anders entscheiden, voll auf die Karte Transparenz setzen und etwa einen Leistungslohn für Lehrer einführen.
Eymann: Das wäre totaler Nonsens! Eine Schulklasse ist eine durch Zufall entstandene Schicksalsgemeinschaft. Jeder hat Schwächen, jeder Stärken. Es wäre heftig ungerecht, jene Lehrer zu belohnen, die viele Schüler ans Gymnasium bringen.
ZEIT: Sie sind ja nicht nur Basler Regierungsrat, sondern auch Präsident der Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK). Wieso wurde die Einführung des Lehrplans 21 zu einem derartigen Kommunikationsdesaster?
Eymann: Desaster würde ich nicht sagen. Aber die Situation ist tatsächlich sehr schwierig.
ZEIT: Es wird zum Beispiel darüber gesprochen, dass die Kinder 4.000 Kompetenzen erwerben müssen. Nicht aber, dass sie dafür elf Jahre Zeit haben: vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarschule.
Eymann: Man kann mit dem Lehrplan 21 sehr leicht Stimmung machen, er enthält viele verschwurbelte Passagen, über die man den Kopf schütteln kann. Aber es ist nun mal so: Der Lehrplan ist als Arbeitsanweisung für Menschen gedacht, die einen Beruf an einer pädagogischen Hochschule à fonds gelernt haben. Diese Philosophie wollten wir nicht aufgeben.
ZEIT: Sie hätten sich das Leben einfacher gemacht, wenn Sie die ärgsten Schwurbelpassagen rausgekippt hätten.
Eymann: Wenn ich von meinem Hausarzt ein Rezept für eine Physiotherapie erhalte, verstehe ich auch nicht alles. Die Physiotherapie kann trotzdem gut sein.
ZEIT: Eltern müssen den Lehrplan also gar nicht verstehen?
Eymann: Sie sind nicht das Zielpublikum. Es ist heikel zu sagen: Das geht die Eltern nichts an.
ZEIT: Aber so meinen Sie es?
Eymann: Ein bisschen.
ZEIT: Aber nochmals: Warum ist die Diskussion über den Lehrplan dermaßen aus dem Ruder gelaufen?
Eymann: Es sind Kräfte am Werk, die diesen Lehrplan partout nicht wollen.
ZEIT: Sie meinen die SVP?
Eymann: Die SVP, die eine große, gut geplante Breitseite auf den Lehrplan gefeuert hat. Die Basis bildete das Halbwissen von bildungspolitisch tätigen Milizparlamentariern, die sich mit ihrer Empörung an die gefolgsbereiten Sektionen in den Kantonen gewandt haben. Mit Erfolg! Auch dank der Verbündeten, die sie überall finden: Hier eine besorgte Standesorganisation, dort eine Gewerkschaft, da ein Gewerbeverein. Bis hin zu den religiös motivierten Gender-Kritikern. Jeder, der sucht, wird im Lehrplan 21 etwas finden, was ihm nicht passt.
ZEIT: Mit welchen Folgen?
Eymann: All das führte zu einem Ungleichgewicht in der Kommunikation. In einer Art und Weise, wie ich es in den 30 Jahren, da ich politisch tätig bin, nie erlebt habe. Die Erziehungsdirektoren und ihre Konferenzen haben kein Sprachrohr, mit dem sie sich jederzeit in jedem Kanton äußern können, um Vorwürfe zu entkräften, so ungerechtfertigt sie auch sein mögen.
ZEIT: Haben Sie das unterschätzt?
Eymann: Den Umfang der Kritik und die Heftigkeit, mit der sie vorgetragen wird? Ja.
ZEIT: Kürzlich mussten Sie sich in der Arena von Altrocker Chris von Rohr die Leviten lesen lassen. Wie viel Spaß macht Ihnen Ihr Amt noch?
Eymann: Oh, die Freude ist da! Auch weil ich gelernt habe: Wenn du dieses Amt gut machen willst, musst du bereit sein, jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Jemand wie Chris von Rohr nährt perfekt das Bild der bunten Welt, wie ich sie mir wünsche. Auch wenn die Legitimation von Herrn von Rohr in bildungspolitischen Fragen nicht selbsterklärend ist.
ZEIT: Ging die Diskussion noch weiter, als die Sendung vorbei war?
Eymann: Er kam zu mir und sagte in seinem Solothurner Dialekt: "Du bisch e geile Siech, chumm mir rocke mou Basu!"
ZEIT: Und?
Eymann: Er hat sich noch nicht gemeldet.


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