9. November 2015

Aargauer Lehrplan-Gegner kontern Regierung

Offenbar weiss der Aargauer Regierungsrat nicht, was sich punkto Lehrplan 21 (LP21) in den anderen Kantonen abspielt. Wieso täuscht er vor, dass sich nur im Kanton Aargau Widerstand regt, wo doch in bereits in 13 Kantonen Initiativen laufen oder in Vorbereitung sind? Will er die Stimmbürger verunsichern, indem er den Teufel an die Wand malt statt sachlich zu argumentieren? 
Lehrplan 21: Aargauer Regierung malt Teufel an die Wand, Stellungnahme des Aargauer Komitees gegen den Lehrplan 21,  9.11.


Die Motion Bodmer verlangt einen Ausgabenstopp für Vorarbeiten zum umstrittenen Lehrplan, bis darüber mit der Initiative „Ja zu einer guten Bildung – Nein zum Lehrplan 21“ abgestimmt worden ist. Damit wird eine bildungspolitische Diskussion über die Einführung des LP21 keineswegs verhindert, wie die Regierung schreibt. Die längst fällige, von der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) aber verhinderte offene Diskussion hat überhaupt nichts zu tun mit der der Motion. Sie wird ohnehin im Vorfeld der Abstimmung stattfinden, unabhängig davon, ob das Bildungsdepartement (BKS) vorher Geld für den LP21 ausgibt oder nicht.

Mangels Argumenten stellt die Regierung die Gegner des LP21 in die Ecke der Ewiggestrigen. Sie bezeichnet den geführten Klassenunterricht als rückständig, obwohl ihn die renommierte Hattie-Studie empfiehlt. Auch die Ergebnisse der neuesten Fremdsprachenstudie werden nicht berücksichtigt. Schweizweit und unterstützt vom Dachverband der Lehrerorganisationen (LCH) wächst nämlich der Widerstand gegen zwei Fremdsprachen in der Primarschule. Dies bestätigt auch eine vor kurzem durchgeführte Umfrage unter den Aargauer Primarlehrkräften. In Tat und Wahrheit ist das BKS also bei der Beurteilung des LP21 nicht auf dem neuesten Stand der Bildungsdiskussion. Würde man der Argumentation des Regierungsrates folgen, müsste zum Beispiel der pädagogische Ansatz von Heinrich Pestalozzi (Bildung mit Kopf, Herz und Hand) sofort aus allen Lehrbüchern verschwinden; dessen Methoden und Gedanken zur Schulbildung stammen nämlich aus dem vorvorletzten Jahrhundert.

Hingegen muss sich gemäss Bildungsdirektor ein Lehrplan dem Zeitgeist anpassen, weil die Schule unter starkem Einfluss von gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen stehe. Dieser Satz offenbart wie kein anderer die pädagogische Verwirrung im Hause BKS, weil er den kurzfristigen Gesellschaftswandel (auch Zeitgeist genannt) über die Vermittlung einer umfassenden humanistischen Bildung sowie solider Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen stellt. Ausserdem wird damit offen zugegeben, dass die Schule mit gesellschaftspolitischen Statements – in der Regel ideologisch begründet – in die Erziehungshoheit der Eltern eingreifen soll.

Der Vorwurf, die Initiative würde wichtige Fächer streichen, muss zurückgewiesen werden. Im Gegenteil: Der LP21 schafft eigenständige Fächer wie Geschichte, Geographie, Biologie, Chemie und Physik ab! Der vorgeschlagene neue Gesetzestext ist keineswegs abschliessend. Die Regierung hat weiterhin die Möglichkeit, neue Fachbereiche im Lehrplan einzubauen, wie dies schon immer geschah.

Die vom LP21 ultimativ verfügte Kompetenzorientierung muss grundsätzlich hinterfragt werden, weil sie in Fachkreisen höchst umstritten ist. Kompetenzen machen in der Berufsausbildung durchaus Sinn, nicht aber in der Volksschule, deren gesetzliche Aufgaben in der Vermittlung einer breiten Allgemeinbildung sowie der Beherrschung der Kulturtechniken liegt. Wie kommt die Regierung zur Behauptung, allein der LP21 könne die Jugend auf die komplexe Zukunft vorbereiten, und wer mit den Methoden des letzten Jahrhunderts bloss statisches Schulwissen lerne, geriete auf dem Arbeitsmarkt ins Hintertreffen?

Der LP21 erhebt die Methoden des selbstgesteuerten, selbstentdeckenden Lernens zum Dogma. Die Individualisierung im Unterricht wird auf die Spitze getrieben, wobei viele Kinder auf der Strecke bleiben. Zusammen mit der Abschaffung von Jahreszielen (Lernziele werden nur noch alle drei bis vier Jahre definiert) entstehen Leistungsunterschiede nicht nur innerhalb von Klassen, sondern auch zwischen Gemeinden und Kantonen: ein organisiertes Chaos ohne Chancengleichheit. Die Behauptung, der LP21 erfülle die Forderung des Bildungsartikels nach Harmonisierung, ist damit ein Etikettenschwindel.

Der Aargau bräuchte bei Ablehnung des LP21 keine eigenen Lehrmittel und keine eigene Lehrerbildung. Es gibt viele bewährte Lehrmittel, auf welche Lehrpersonen heute oft zurückgreifen, weil die neuen LP21-kompatiblen unbrauchbar sind. Der Regierung ist vielleicht entgangen, dass im Kanton Baselland nächstens zwei Initiativen zur Abstimmung kommen, welche die Einführung des LP21 und die Einführung von Sammelfächern zum Thema haben. Eine weitere will die Lehrerausbildung wieder vermehrt fachspezifisch ausrichten. Auch die Pädagogische Hochschule in Zug bietet neu wieder eine Ausbildung zum Allrounder an (eine Primarlehrperson für alle Fächer).

Das Argument, durch die Initiative würden die Kosten steigen, ist ebenfalls eine Verdrehung der Tatsachen. Die Einführung des LP 21 würde uns sehr teuer zu stehen kommen. Nebst Kosten für Planung, Einführung, Weiterbildung, Lehrmittel und unzählige teure Tests fallen viele Folgekosten an. Schon heute klagen Eltern oft, dass die Kinder in der Schule sich selbst überlassen werden, weil der Unterricht nicht mehr strukturiert und anleitend ist. Als Folge kritisieren Lehrmeister, dass sie Basisstoff nachholen müssen. Diese Entwicklung würde mit der Einführung des LP21 zementiert und hätte einen weiteren Bildungsabbau zur Folge.

Diese Beispiele – es gäbe noch viel mehr – zeigen deutlich, dass unser Regierungsrat gut daran tät, den Blick vermehrt nach innen (in die Schulzimmer und ins BKS) und nach aussen (über die Kantonsgrenzen hinaus) zu werfen. Mit seinem sturen Festhalten am missratenen LP21 gefährdet er nur unser wichtigstes Gut, die Bildung. Die Heerscharen von Bildungsbürokraten gehören endlich in die Schranken gewiesen. Den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern aber wird geraten, im Lehrplan 21 etwas Online zu schnuppern, um zu erfahren, was mit dem Machwerk auf uns zu kommt.


Die Abstimmung im Grossen Rat über die Motion Bodmer wird ein erstes Zeichen setzen und hoffentlich einen sachlichen und ehrlichen Abstimmungskampf einleiten.

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