29. Oktober 2015

Verzögerungen bei Sonderschulstrategie

Die Sonderschulstrategie im Kanton Bern verzögert sich um ein weiteres halbes Jahr. Laut Erziehungsdirektor Bernhard Pulver sind vor allem finanzielle Fragen derart knifflig, dass die Arbeiten mehr Zeit benötigen.













Lehrer in Sonderschulen könnten künftig anders als heute entlöhnt werden, Bild: Fotolia
Wer soll die Berner Sonderschulen künftig bezahlen? Berner Zeitung, 29.10. von Sandra Rutschi


Mit der Sonderschulstrategie geht es weiterhin nur schleppend voran. 2016 wollte Erziehungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) die Strategie eigentlich in die Vernehmlassung schicken. Nun korrigiert er diesen Termin auf Frühjahr 2017 nach hinten.
Dies, obwohl der Grosse Rat bereits 2007 eine Motion überwies, wonach die gesamte Bildung – auch die Sonderschulen für behinderte Kinder – in der Erziehungsdirektion zusammenzufassen sei. Bis heute sind die Sonderschulen der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) angegliedert.
2010 verkündeten Pulver und Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud (SP), die Strategie nun anzupacken. Bis 2012 hätten sie die Schnittstellen zwischen Kindergarten, Volksschule und Sonderschule optimieren, den Beitritt zum Sonderpädagogikkonkordat prüfen und eine neue rechtliche Grundlage erarbeiten wollen.
Anfangs hatte Gesundheitsdirektor Perrenoud das Lead über das Projekt. In dieser Zeit geschah wenig Konkretes. Letztes Jahr dann übernahm Pulver die Federführung. Mit konkreten Vorschlägen führte er mit den Heimen drei Treffen durch und versprach, nun vorwärtszumachen.

Lehrplan auch für Behinderte
Trotzdem dauert es also nochmals länger. Doch im Unterschied zu früher ist aus Heimkreisen zu hören, dass es nun endlich vorwärtsgehe und die heissen Eisen angepackt würden. Dass knifflige Fragen nun vertieft abgeklärt werden, wird begrüsst – auch wenn es dafür etwas länger dauert.
Gewisse Richtungsentscheide wurden gefällt – etwa, dass der Lehrplan künftig auch für die Sonderschulen gelten soll. Es seien konkrete, besonders knifflige Fragestellungen, deren Lösung mehr Zeit benötigten, erklärt der Erziehungsdirektor.
Eine davon hängt mit dem Lehrplan zusammen. Er werde zwar in dem Sinne übernommen, dass den Kindern im Grundsatz die gleichen Themengebiete unterrichtet würden wie in den Regelklassen. Bisher ist das nicht überall der Fall.
Das Niveau müsse aber entsprechend angepasst werden, sodass zum Beispiel auch geistig behinderte Kinder einen Nutzen aus dem Unterricht ziehen könnten, so Pulver. Das geschehe weitgehend schon heute in den Sonderschulen so. «Doch im Konkreten dürften sich noch einige Fragen stellen.»
Gilt der Lehrplan auch für Sonderschüler, ist der Kanton künftig in der Pflicht, für sie einen geeigneten Schulplatz zu finden. Heute sind dafür primär die Eltern zuständig, was zu Schwierigkeiten führen kann (siehe weiter unten).
Eine weitere Frage ist, ob die Lehrer vom Kanton nach Lehreranstellungsgesetz angestellt werden. Heute sind sie von den Institutionen angestellt. «Hier geht es vor allem darum, auszurechnen, was das kosten würde», sagt Pulver.

Ganz andere Finanzierung
Ganz allgemein um die Finanzierung dreht sich die kniffligste Frage: Wie werden die Sonderschulen künftig finanziert? Heute schliessen sie jährlich einen Leistungsvertrag mit der GEF. Ihre Leistung wird pauschaliert vergütet.
Regelschulen jedoch erhalten von der Erziehungsdirektion 70 Prozent ihrer Lohnkosten erstattet, den Rest bezahlt die Standortgemeinde. Dies könnte künftig auch für die Sonderschulen gelten. Aber: «Wer ist denn bei den Sonderschulen der Partner, der diese 30 Prozent der Kosten übernehmen soll?», fragt sich Pulver.
Wenn die Wohngemeinde eines Schülers dafür aufkommen müsse, bestehe die Gefahr, dass die Gemeinde das Kind weiterhin in die Regelklasse schicke, auch wenn es in einer Sonderschule besser aufgehoben wäre – weil dies die Gemeinde günstiger kommt. «Das wäre ein falscher Anreiz zur Integration», sagt Pulver.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Gemeinden in ihrer Gesamtheit solidarisch die restlichen 30 Prozent tragen würden. Die GEF würde wahrscheinlich wiederum die Verwaltungs- und Infrastrukturkosten übernehmen, weil diese weiterhin für den Heimteil der Sonderschulen zuständig wäre. «Vielleicht belassen wir die Finanzierung aber auch ganz einfach so wie heute. Wir stehen in dieser Diskussion noch ganz am Anfang», sagt Pulver. Den grösseren Institutionen käme dies entgegen.

Grosse für Pauschale
Denn sie arbeiten bereits heute unternehmerisch, wie das Beispiel der Salome-Brunner-Stiftung mit ihren Sprachheilschulen in Wabern, Langenthal und Biel zeigt. Sie setzen die von der GEF erhaltenen Pauschalen flexibel ein und können Rücklagen bilden, um damit finanzielle Engpässe oder befristet notwendige Mehrleistungen unkompliziert aufzufangen.
«Für uns ist es wichtig, dass die Leistungen weiterhin mit Pauschalen abgegolten werden», sagt Direktor Jürg Jakob, der auch den Verband Socialbern präsidiert. Für andere Institutionen, die rein aus einer Schule bestünden, sei die andere Finanzierungsart sicher praktikabel.

Eltern engagieren sich für ihre autistischen Kinder
Für Kinder mit einer Autismus-Spektrums-Störung ist es oft schwierig, einen geeigneten Schulplatz zu finden. Meistens sind heute die Eltern gefordert, sich um einen Platz in einer geeigneten Schule zu bemühen. Mit der neuen Sonderschulstrategie soll sich das ändern.
Inzwischen ergreifen betroffene Eltern jedoch selber die Initiative: Heute Donnerstag gründen sie in Bern den Verein Autismus Bern.

Probleme bei Einschulung
Laut der designierten Präsidentin des Vereins Manuela Kocher geht die Gründung auf einen Aufruf der deutschsprachigen Sektion des Vereins «Autismus deutsche Schweiz» zurück. Dieser suchte betroffene Eltern, die Einschulungsprobleme hatten, damit der Austausch untereinander gefördert werden kann. Die Gruppe von rund 20 Eltern traf sich regelmässig und beschloss nun, dass es mehr benötigt als die Treffen.
Wie Einschulungsprobleme aussehen können, hat Manuela Kocher bei ihrer heute 14-jährigen Tochter erfahren: Sie erhielt die Diagnose als 9-Jährige. Sie vor der Diagnose in einer Regelklasse einzuschulen, war nicht möglich, da keine Betreuungsstunden gesprochen waren. Für eine heilpädagogische Schule galt sie jedoch kognitiv als zu stark.
Heute besucht sie eine Regelklasse, doch «mit jedem Lehrerwechsel müssen wir wieder von vorne anfangen und erklären, was ein Kind mit dieser Behinderung für Rahmenbedingungen benötigt», erklärt Kocher. Sie weiss von betroffenen Eltern mit jüngeren Kindern, dass es auch heute noch schwierig ist, einen Platz für autistische Kinder zu finden. Die geplante Sonderschulstrategie würde die Eltern diesbezüglich entlasten, ist sie überzeugt.
Der Verein will sich für die Anliegen autistischer Kinder und Erwachsener einsetzen. Die Einschulung ist davon nur ein Bereich. Es seien auch mehr Abklärungsstellen nötig, zum Teil warte man Monate, bis man einen Termin erhalte.
Dafür sei vor allem die Ausbildung von geeigneten Ärzten und begleitendem Fachpersonal nötig. «Dies alles ist kantonal geregelt, weshalb wir beschlossen, einen kantonalen Verein zu gründen.»

Starke Zunahme
In den letzten zehn Jahren nahm die Anzahl der Diagnose von Autismus frappant zu, wie Zahlen der Erziehungsdirektion zeigen. 2005 wurden im Kanton Bern lediglich 3 Autisten verzeichnet.
2011 waren es bereits 285, aktuell sind es 541, wobei hier stark Verhaltensauffällige mit einberechnet sind. Gerade die schwache Form des Asperger-Syndroms wird häufig, heute aber nicht mehr separat diagnostiziert. Auch in Fachkreisen spricht man deshalb immer wieder von einer Modediagnose.
«Es gibt heute sicher bessere Abklärungsmöglichkeiten, und weil man sensibilisiert ist, schaut man früher hin», sagt Manuela Kocher. Und das sei auch gut so: «Je früher man diese Behinderung erkennt, umso besser kann man darauf reagieren und den Betroffenen helfen, sich im Alltag zurechtzufinden.» 


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