13. Oktober 2015

Geschäftemacherei der Lehrmittelverlage

Im Streit um das Französischlehrmittel "Mille feuilles" hat der Schulverlag plus ein "Mini Grammaire" herausgegeben. Dies sei aber keineswegs aufgrund der massiven Kritik erfolgt, wie der Projektleiter erklärt. Alain Pichard findet diese Art von Lehrmittelpolitik (das Mini-Grammaire kostet 32 Franken) schlicht eine "Geschäftemacherei".












Besorgte Mütter wehren sich zusammen mit Siebtklässlern gegen ungenügende Lehrmittel, Bild: Stefan Anderegg
Schlechte Noten für Frühfranzösisch, Berner Zeitung, 13.10. von Marius Aschwanden


Dass Mütter öffentlich die Leistungen ihrer Kinder kritisieren, kommt selten vor. Genau dies aber macht eine Eltern-Gruppierung aus Wilderswil. «Unsere Tochter hatte bis dato 351 Lektionen Französischunterricht. Aber sie kann kaum einen Satz bilden», sagt Doris Graf Jud. Wie sie denken viele Eltern im Oberländer Dorf über die Französischkenntnisse ihrer Kinder.
Faul oder schlechte Schüler seien die Siebtklässler nicht, sagen die Mütter. Sie gehören aber zur ersten Generation, die im Kanton Bern seit der 3. statt erst der 5. Klasse Französisch lernen.
Mit der Einführung des Frühfranzösisch vor vier Jahren kam auch das neue Lehrmittel «Mille Feuilles» in die Schulzimmer. Seither büffeln die Kinder nicht mehr vorwiegend Grammatik und Rechtschreibung, sondern sie sollen die Sprache spielerisch erkunden und sich Strategien aneignen, schwierige Texte zu verstehen.

Kinder sind frustriert
Die Wilderswiler Eltern machen diese neue Didaktik für die mangelhaften Sprachkenntnisse ihrer Kinder verantwortlich. Der Unmut ist so gross, dass sich die Mehrheit der Eltern der 16 Siebtklässler in einem Brief an die Erziehungsdirektion des Kantons Bern gewendet hat.
Im Schreiben monieren sie, dass ihre Kinder nach vier Jahren Französischunterricht weniger Sprachkenntnisse hätten als ein Schüler nach einem Jahr mit dem alten Lehrmittel «Bonne-Chance». «Unsere Kinder müssen Texte über die Raumfahrt übersetzen. Sie können aber nicht einmal ein Verb konjugieren», sagt Jeannine Brunner.
Das neue Lernsystem und das Lehrmittel seien realitätsfremd und würden selbst gute Schüler überfordern. Während die Kinder in der Mittelstufe noch gute Noten erhielten, seien bei den ersten Proben im siebten Schuljahr viele ungenügend gewesen. «Ich bin frustriert», sagt Brunners Sohn Levin.

Auch Lehrer üben Kritik
Dass die Kinder Schwierigkeiten hätten, liege auch daran, dass es zwischen Mittelstufe und Sekundarstufe einen Bruch gebe, sagt ein Oberstufenlehrer, der anonym bleiben möchte. «Die Lehrbücher sollten übergangslos aufeinander aufbauen. Dem ist aber nicht so.»
Von den Schülern würden im Unterrichtsmaterial für die 7. Klasse Dinge erwartet, die sie vorher nie gelernt hätten. «Wenn ich die Schülerinnen und Schüler nach dem Massstab bewerte, den ich auf dieser Stufe anwenden müsste, dann bekommen sie ungenügende Noten», sagt er.
«Das neue Lehrmittel erfordert extrem viel Bereitschaft, sich mit der Sprache auseinanderzusetzen. Viele Schüler sind damit überfordert und resignieren», sagt ein anderer Oberstufenlehrer. Auch er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Zu gross ist die Sorge, dass die Kritik auf ihn zurückfällt.
Im Vergleich zu gleichalterigen Kindern aus der «Bonne-Chance»-Ära könnten die heutigen Siebtklässler tatsächlich schlechter Französisch, sagt der Bieler Reallehrer und GLP-Stadtrat Alain Pichard. Auch der langjährige Kritiker des Frühfranzösisch sieht den Grund in den neuen Lehrmitteln. «Ohne strukturellen Aufbau des Wortschatzes und der Grammatik geht es nicht.»

Neues Grammatikbuch
Inzwischen hat der Schulverlag plus, der «Mille Feuilles» entwickelt hat und der je zur Hälfte den Kantonen Bern und Aargau gehört, ein zusätzliches «Mini-Grammaire» veröffentlicht. Das Buch soll «Einblicke in die Grammatik der französischen Sprache» ermöglichen.
Die Publikation sei aber nicht als Reaktion auf die Kritik zu verstehen, sagt Projektleiter Peter Uhr. Er tut die Kritik der Lehrer sowieso als «Behauptungen» ab. «Das Lehrmittel wurde eingehend erprobt. Wer bereits nach wenigen Wochen Unterricht ein Urteil fällt, handelt nicht seriös», kontert Uhr die Kritik der Oberstufenlehrer.
Pichard hingegen kann ob dem «Mini-Grammaire» nur den Kopf schütteln. «Im ‹Bonne-Chance› war die Grammatiksammlung im Anhang integriert. Hier jedoch wird ein eigenes Buch nachgereicht, das wieder 32 Franken kostet. Das ist eine Geschäftemacherei.»
Zusammen mit den Anschaffungskosten von 32 Franken pro Schüler und Jahr für das normale Lehrmittel reisse das Frühfranzösisch Löcher in die Gemeindekassen.

Verband warnt vor Vergleich
Es gibt aber auch andere Stimmen. «Die Schüler haben viel weniger Hemmungen und sind motivierter als früher. Zudem besitzen sie bessere Fähigkeiten im Hörverständnis», lobt Christoph Schiltknecht, Schulleiter und Lehrer in Moosseedorf, das neue Lehrmittel. Dies sagt auch Franziska Schwab, Leiterin Pädagogik beim bernischen Lehrerverband.
Doch auch sie beide berichten von Problemen. So würde die Alltagssprache zu kurz kommen, und die Texte seien vielfach sehr komplex, sagt Schwab. Trotzdem will sie das Projekt Frühfranzösisch nicht vorzeitig abschreiben. «Eine Evaluation kann erst am Ende des 9. Schuljahres erfolgen.» Vorhandene Schwächen müssten lokalisiert und verbessert werden – etwa durch die Einführung des «Mini-Grammaire».
Angesichts der komplett neuen Didaktik warnt Schwab davor, zum heutigen Zeitpunkt Vergleiche mit dem Sprachniveau der früheren Siebtklässler anzustellen.

Wunsch nach Alltagswörtern
Neue Kompetenzen habe er bei seinen Schülern kaum bemerkt, sagt hingegen Pichard. Damit die Kinder am Ende der 9. Klasse nicht schlechter seien als vorangehende Schüler, reichert er den Unterricht mit eigenen Beiträgen an. Auch in Wilderswil setzt der Lehrer eigene Lehrmittel ein. In der Zeitung darüber sprechen will er nicht. Seine Schüler sind vom Wörterbuch, das er entwickelt hat, begeistert. «Endlich lernen wir auch Alltagswörter», sagt Levin.
Daran, dass sich die Lehrkräfte selber helfen müssen, wird sich voraussichtlich nicht so schnell etwas ändern. Diesen Schluss lässt zumindest die Antwort zu, welche die Wilderswiler Eltern pünktlich zum Schulbeginn nach den Herbstferien von der Erziehungsdirektion erhalten haben.
Darin verteidigt Johannes Kipfer, stellvertretender Leiter des Volksschulamtes, die neue Didaktik. Statt ihnen konkrete Lösungen anzubieten, fordert er die Eltern dazu auf, ihren Kindern Sicherheit zu geben und dem neuen Fremdsprachenunterricht gelassen zu begegnen. «Dann werden Sie entdecken, dass sie nicht weniger Französisch lernen als früher; sie lernen einfach anders, und sie lernen andere Dinge.»
Für Doris Graf Jud und ihre Kolleginnen ist dies keine befriedigende Antwort. «Die Verantwortung auf die Eltern zu schieben, ist unfair. Wir haben uns von der Erziehungsdirektion mehr Unterstützung erhofft.» 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen