Besorgte Mütter wehren sich zusammen mit Siebtklässlern gegen ungenügende Lehrmittel, Bild: Stefan Anderegg
Schlechte Noten für Frühfranzösisch, Berner Zeitung, 13.10. von Marius Aschwanden
Dass Mütter öffentlich
die Leistungen ihrer Kinder kritisieren, kommt selten vor. Genau dies aber macht
eine Eltern-Gruppierung aus Wilderswil. «Unsere Tochter hatte bis dato 351
Lektionen Französischunterricht. Aber sie kann kaum einen Satz bilden», sagt
Doris Graf Jud. Wie sie denken viele Eltern im Oberländer Dorf über die
Französischkenntnisse ihrer Kinder.
Faul
oder schlechte Schüler seien die Siebtklässler nicht, sagen die Mütter. Sie
gehören aber zur ersten Generation, die im Kanton Bern seit der 3. statt erst
der 5. Klasse Französisch lernen.
Mit
der Einführung des Frühfranzösisch vor vier Jahren kam auch das neue Lehrmittel «Mille Feuilles» in die Schulzimmer. Seither büffeln
die Kinder nicht mehr vorwiegend Grammatik und Rechtschreibung, sondern sie
sollen die Sprache spielerisch erkunden und sich Strategien aneignen,
schwierige Texte zu verstehen.
Kinder sind frustriert
Die
Wilderswiler Eltern machen diese neue Didaktik für die mangelhaften
Sprachkenntnisse ihrer Kinder verantwortlich. Der Unmut ist so gross, dass sich
die Mehrheit der Eltern der 16 Siebtklässler in einem Brief an die
Erziehungsdirektion des Kantons Bern gewendet hat.
Im
Schreiben monieren sie, dass ihre Kinder nach vier Jahren Französischunterricht
weniger Sprachkenntnisse hätten als ein Schüler nach einem Jahr mit dem alten
Lehrmittel «Bonne-Chance». «Unsere Kinder müssen Texte über die Raumfahrt
übersetzen. Sie können aber nicht einmal ein Verb konjugieren», sagt Jeannine
Brunner.
Das
neue Lernsystem und das Lehrmittel seien realitätsfremd und würden selbst gute
Schüler überfordern. Während die Kinder in der Mittelstufe noch gute Noten
erhielten, seien bei den ersten Proben im siebten Schuljahr viele ungenügend
gewesen. «Ich bin frustriert», sagt Brunners Sohn Levin.
Auch Lehrer üben Kritik
Dass
die Kinder Schwierigkeiten hätten, liege auch daran, dass es zwischen
Mittelstufe und Sekundarstufe einen Bruch gebe, sagt ein Oberstufenlehrer, der
anonym bleiben möchte. «Die Lehrbücher sollten übergangslos aufeinander
aufbauen. Dem ist aber nicht so.»
Von
den Schülern würden im Unterrichtsmaterial für die 7. Klasse Dinge erwartet,
die sie vorher nie gelernt hätten. «Wenn ich die Schülerinnen und Schüler nach
dem Massstab bewerte, den ich auf dieser Stufe anwenden müsste, dann bekommen
sie ungenügende Noten», sagt er.
«Das
neue Lehrmittel erfordert extrem viel Bereitschaft, sich mit der Sprache
auseinanderzusetzen. Viele Schüler sind damit überfordert und resignieren»,
sagt ein anderer Oberstufenlehrer. Auch er will seinen Namen nicht in der
Zeitung lesen. Zu gross ist die Sorge, dass die Kritik auf ihn zurückfällt.
Im
Vergleich zu gleichalterigen Kindern aus der «Bonne-Chance»-Ära könnten die
heutigen Siebtklässler tatsächlich schlechter Französisch, sagt der Bieler
Reallehrer und GLP-Stadtrat Alain Pichard. Auch der langjährige Kritiker des
Frühfranzösisch sieht den Grund in den neuen Lehrmitteln. «Ohne strukturellen
Aufbau des Wortschatzes und der Grammatik geht es nicht.»
Neues Grammatikbuch
Inzwischen
hat der Schulverlag plus, der «Mille Feuilles» entwickelt hat und der je zur
Hälfte den Kantonen Bern und Aargau gehört, ein zusätzliches «Mini-Grammaire»
veröffentlicht. Das Buch soll «Einblicke in die Grammatik der französischen
Sprache» ermöglichen.
Die
Publikation sei aber nicht als Reaktion auf die Kritik zu verstehen, sagt
Projektleiter Peter Uhr. Er tut die Kritik der Lehrer sowieso als
«Behauptungen» ab. «Das Lehrmittel wurde eingehend erprobt. Wer bereits nach
wenigen Wochen Unterricht ein Urteil fällt, handelt nicht seriös», kontert Uhr
die Kritik der Oberstufenlehrer.
Pichard
hingegen kann ob dem «Mini-Grammaire» nur den Kopf schütteln. «Im
‹Bonne-Chance› war die Grammatiksammlung im Anhang integriert. Hier jedoch wird
ein eigenes Buch nachgereicht, das wieder 32 Franken kostet. Das ist eine
Geschäftemacherei.»
Zusammen
mit den Anschaffungskosten von 32 Franken pro Schüler und Jahr für das normale
Lehrmittel reisse das Frühfranzösisch Löcher in die Gemeindekassen.
Verband warnt vor
Vergleich
Es
gibt aber auch andere Stimmen. «Die Schüler haben viel weniger Hemmungen und
sind motivierter als früher. Zudem besitzen sie bessere Fähigkeiten im
Hörverständnis», lobt Christoph Schiltknecht, Schulleiter und Lehrer in
Moosseedorf, das neue Lehrmittel. Dies sagt auch Franziska Schwab, Leiterin
Pädagogik beim bernischen Lehrerverband.
Doch
auch sie beide berichten von Problemen. So würde die Alltagssprache zu kurz
kommen, und die Texte seien vielfach sehr komplex, sagt Schwab. Trotzdem will
sie das Projekt Frühfranzösisch nicht vorzeitig abschreiben. «Eine Evaluation
kann erst am Ende des 9. Schuljahres erfolgen.» Vorhandene Schwächen müssten
lokalisiert und verbessert werden – etwa durch die Einführung des
«Mini-Grammaire».
Angesichts
der komplett neuen Didaktik warnt Schwab davor, zum heutigen Zeitpunkt
Vergleiche mit dem Sprachniveau der früheren Siebtklässler anzustellen.
Wunsch nach
Alltagswörtern
Neue
Kompetenzen habe er bei seinen Schülern kaum bemerkt, sagt hingegen Pichard.
Damit die Kinder am Ende der 9. Klasse nicht schlechter seien als vorangehende
Schüler, reichert er den Unterricht mit eigenen Beiträgen an. Auch in
Wilderswil setzt der Lehrer eigene Lehrmittel ein. In der Zeitung darüber
sprechen will er nicht. Seine Schüler sind vom Wörterbuch, das er entwickelt
hat, begeistert. «Endlich lernen wir auch Alltagswörter», sagt Levin.
Daran,
dass sich die Lehrkräfte selber helfen müssen, wird sich voraussichtlich nicht
so schnell etwas ändern. Diesen Schluss lässt zumindest die Antwort zu, welche
die Wilderswiler Eltern pünktlich zum Schulbeginn nach den Herbstferien von der
Erziehungsdirektion erhalten haben.
Darin
verteidigt Johannes Kipfer, stellvertretender Leiter des Volksschulamtes, die
neue Didaktik. Statt ihnen konkrete Lösungen anzubieten, fordert er die Eltern
dazu auf, ihren Kindern Sicherheit zu geben und dem neuen
Fremdsprachenunterricht gelassen zu begegnen. «Dann werden Sie entdecken, dass
sie nicht weniger Französisch lernen als früher; sie lernen einfach anders, und
sie lernen andere Dinge.»
Für
Doris Graf Jud und ihre Kolleginnen ist dies keine befriedigende Antwort. «Die
Verantwortung auf die Eltern zu schieben, ist unfair. Wir haben uns von der
Erziehungsdirektion mehr Unterstützung erhofft.»
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