4. September 2015

Der ideale Lehrer

Schüler sollen von ihren Lehrern was lernen, heißt die einfache Botschaft. Der Pädagoge Dirk Stötzer über Führungskräfte, Sonnyboys, Wracks – und den besten Beruf der Welt.



Der entscheidende erste Augenblick: Robin Williams in "Dead Poets Society", Bild: Allstar/Touchstone

"Die Lehrerpersönlichkeit kann man nicht lernen", FAZ, 30.8. von Julia Schaaf

Herr Stötzer, gibt es das: den Superlehrer, wie er im Titel Ihres Buches erscheint?
Der Superlehrer ist sicherlich eine Fiktion. Der Begriff stammt aus dem Video, das ich im vergangenen Frühjahr zu meinem Abschied nach vierzig Jahren Schuldienst gedreht habe und das sich an dieser „Supergeil“-Werbung von Edeka orientiert. Aber in der Praxis strebt jeder danach, ein Superlehrer zu sein – oder jedenfalls ein sehr guter Lehrer.
Wie vielen gelingt das?
Der überwiegenden Mehrheit. Ich habe zum Schluss in der Berliner Bildungsverwaltung im Beschwerdemanagement gearbeitet. Lehrer, die dort immer wieder negativ auffallen, stellen keine drei Prozent.
Das sind nur die Totalausfälle. Angeblich erinnern sich Schüler gerade mal an fünf Prozent ihrer Lehrer.
Das stimmt. Viele, die sich im Durchschnitt bewegen, sind relativ schnell vergessen, während man sich an den Superlehrer später erinnert. Das muss aber nicht für alle Schüler derselbe Lehrer sein, jeder hat unterschiedliche Stärken.
Gibt es Lehrer, denen Sie empfehlen würden, den Beruf zu wechseln?
Mit Sicherheit.

Den „faulen Säcken“, über die Gerhard Schröder einst gemeckert hat? Sie zitieren eine Studie: Manche Gymnasiallehrer arbeiten 3500 Stunden im Jahr, andere kommen mit 930 Stunden aus.
Es gibt durchaus Superlehrer, die sich nicht totarbeiten. So Sonnyboys zum Beispiel. Ich erinnere mich an einen Sportlehrer, der kam in seinem Oldtimer in der Turnhose vorgefahren, sprang raus, machte auf dem Sportplatz seine Stunde und verschwand wieder. Gleichwohl war der bei den Schülern unheimlich beliebt.
Was ist mit den Dauerkranken, Schlechtgelaunten, Totalgestressten? Ihr Buch legt nahe, dass solche Lehrer nicht Opfer widriger Rahmenbedingungen sind, sondern die falsche Persönlichkeit mitbringen.
Das ist aus meiner Sicht ein Hauptproblem. Die Lehrerpersönlichkeit ist entscheidend. Wir reden in der Ausbildung viel zu viel über Methodenvielfalt. Dabei kommt es letztlich darauf an, wie jemand vorne vor der Klasse steht. Ein Lehrer muss den Schülern vermitteln: Ich weiß mehr als ihr; ihr könnt von mir was lernen. Und wenn er die Schüler dazu bringt, dass sie das auch wollen, ist der große Schritt getan. Ich habe vielen Referendaren beim Staatsexamen gesagt: Überlegen Sie sich das noch mal. Halten Sie das wirklich 40 Jahre durch? Oder sind Sie vielleicht nach sechs, sieben Jahren ausgebrannt und werfen hin?
Warum?
Wenn Lehrer diese gewisse Ebene mit den Schülern nicht finden, müssen sie in jeder Stunde 150 Prozent geben, um überhaupt vernünftigen Unterricht machen zu können. Die versuchen dann mit Strenge und Strafen durchzusetzen, was ihnen an Führungspersönlichkeit fehlt. Das ist unheimlich anstrengend. Und ich habe viele Kollegen gesehen, die deshalb irgendwann zusammengebrochen sind. Wer in dem Job nicht glücklich ist und leidet, endet als Wrack.
Der renommierte Bildungsforscher John Hattie sagt: Das Wichtigste für den Lernerfolg der Kinder ist ein guter Lehrer.
Das habe ich lange vor Hattie gesagt. Das Problem ist nur: Persönlichkeit kann man nicht lernen. Die Persönlichkeitsentwicklung ist abgeschlossen, wenn Lehrer ins Referendariat kommen. Deshalb müsste man sich vorher fragen: Bin ich der richtige für den Lehrerberuf?
Was braucht es denn, wenn es nicht die gute Ausbildung ist: Charisma? Begabung?
Der erste Auftritt ist entscheidend. In meiner eigenen Schulzeit haben wir in der siebten Klasse in Latein zwei Lehrerinnen verschlissen. Die haben wir nicht ernst genommen, nach kurzer Zeit gaben sie auf. Dann kam ein neuer Kollege, und schon als er die Tür aufmachte und den Klassenraum betrat, war für uns klar: Von dem geht eine Aura aus, den schaffen wir nicht.
Wie war Ihr erster Auftritt?
Fatal. Musikunterricht in der 9b, und als ich den Klassenraum betrat, nahm niemand Notiz von mir. Keiner meinte, sich an seinen Platz begeben zu müssen; alle waren am Reden. Dann haben die Schüler versucht zu provozieren. Ich war damals 25 und wurde gefragt, ob ich eine Freundin habe. Als der Begriff „Libretto“ fiel, ging es plötzlich darum, ob das eine Form des Vibrators sei.
Sie haben cool reagiert.
Ich habe versucht, nicht auf das Thema einzusteigen. Wir kamen dann ins Gespräch, und langfristig hat sich ein gutes menschliches Verhältnis entwickelt. Aber Unterricht, und das ist das Entscheidende, war schlicht nicht möglich.
Nach vier Jahrzehnten Schuldienst sagen Sie: Lehrer ist der beste Beruf der Welt.
Das meine ich ernst. Mit jungen Leuten zu arbeiten ist toll. Und da Lehrer heutzutage gern in ein schlechtes Licht gerückt werden, will ich Interessenten Mut machen. Wer für diesen Beruf geeignet ist und sich engagiert, findet eine sehr erfüllende Tätigkeit, die über viele Jahre hinweg abwechslungsreich bleibt. Wenn ich heute im Fernsehen einen ehemaligen Schüler sehe als Schauspieler, als Oberkirchenrat, als Sportmoderator, freue ich mich und denke: An dieser Entwicklung bin ich, wenn auch nur zentimeterweise, beteiligt gewesen.
Lehrer jammern gern: Die Klassen seien zu groß, die Schulen marode, und außerdem würden die Schüler immer schwieriger. Übertrieben?
An manchen Stellen schon. Ich sage immer im Scherz, man sollte das Jammern in die Lehrerausbildung übernehmen. Offenbar gehört es dazu. Dabei werden damit oft eigene Schwächen übertüncht. Wenn ein Lehrer klagt, er könnte nicht unterrichten, weil die Decke in seinem Klassenzimmer nicht schön gestrichen sei, hängt das nicht miteinander zusammen. Das ist der Versuch, eine Minderleistung abzuwälzen.
Aber wenn man Ihr Buch liest, wird man fast erschlagen von dem, was ein Lehrer alles leisten soll als Konfliktmanager, als Sozialarbeiter, als Kummerkasten. Und dabei immer supertoll auf jeden einzelnen Schüler abgestimmt unterrichten.
Deshalb sage ich: Der Lehrerberuf ist nicht nur der schönste, es ist auch ein sehr schwerer Beruf. Man hat sehr viel Verantwortung, muss fachlich im Thema stehen und dieses ganze menschliche Feld abdecken. Die Anforderungen sind sehr hoch. Aber ich habe das immer als Herausforderung empfunden.
Verdienen Lehrer zu wenig?
Nein. Die Lehrerbesoldung ist auskömmlich. Wenn eine Krankenschwester klagt, die mit Schichtdienst und allem 1200 Euro nach Hause bringt, kann ich das verstehen. Nicht bei einem Oberschullehrer, der 4700 Euro brutto verdient.
Bei Ihnen liest es sich ein bisschen so, als müssten angehende Lehrer eher zum Stimmtraining oder zur Stylingberatung als in ein Didaktikseminar...
Weil ich die Priorität auf die Lehrerpersönlichkeit lege. Ich habe an meiner Schule einen super Chemiker gehabt, der so in seinem Fachwissen gefangen war, dass er kein vernünftiges Verhältnis zu seinen Schülern aufbauen konnte. Dem nutzte sein Fachwissen gar nichts. Und ich kann mich an den Unterricht einer Kollegin erinnern, die mit ihrer hohen Stimme im Stimmengewirr der Kinder einfach unterging. Oder an eine, die einen so weinerlichen Ton am Leib hatte, dass mir die Kinder leidtaten. In solchen Fällen empfehle ich tatsächlich Stimmbildung. Auch die Kleidung sollte angemessen sein. Über die supergestylte Kollegin machen sich die Schüler lustig. Der Lehrer, der in Hawaiihemd und Dreiviertelhose zur Abiprüfung kommt, signalisiert nicht den nötigen Ernst.
Viele der Schüler, die Sie für Ihr Buch befragt haben, wünschen sich durchaus strenge Lehrer, die ihre Klasse im Griff haben.
Das hat mich auch überrascht. Aber Kinder brauchen Orientierung. Sie brauchen ein abgestecktes Terrain, auf dem sie sich frei bewegen können, dafür müssen bestimmte Regeln sein. Schüler wollen wissen, wie weit sie gehen können.
Der Lehrer muss führen?
Jeder Lehrer ist Führungskraft. Das ist ja auch das Schwierige, dass wir ohne Erfahrung in diese Position gesteckt werden. Wenn Sie Ingenieur werden, sitzen Sie im Büro, kröseln vor sich hin und steigen vielleicht irgendwann auf. In der Schule werden sie unvorbereitet in so eine Position geworfen.
Sie schreiben: Lehrer haben in einer Unterrichtsstunde bis zu 200 Entscheidungen zu treffen und durchschnittlich 15 erzieherische Konfliktsituationen zu meistern.
Ich war schon ein Jahr aus meiner Schule als Oberschulrat in Lichtenberg raus, da kam ich zu Besuch, ging den Gang entlang, es raunte „Stötzer kommt“ – und alles verschwand in den Klassen. Als ich den Raum betrat, saßen die Schüler brav auf ihren Stühlen.
Sie sehen jetzt sehr zufrieden aus.
So eine Position erarbeitet man sich im Lauf der Zeit. Wenn Sie an meine erste Stunde denken: Da war ich keine Führungspersönlichkeit.
Was, wenn einer dafür überhaupt nicht gemacht ist?
Es müsste eine Möglichkeit geben, mit der Lehrerausbildung auch etwas anderes zu machen. Derzeit gibt es kein Zurück. Schon wer durchs Staatsexamen fällt, was selten passiert, stürzt ins Bodenlose. Sie haben dann ein Studium absolviert, aber es gibt keine Möglichkeit, etwas anderes damit zu machen. Man müsste sich eine Zeitlang ausprobieren und prüfen können: Macht mir das tatsächlich Spaß? Trägt das vierzig Jahre? Die Haltung des Lehrers überträgt sich auf die Kinder. Wenn ein Lehrer schon mit hängenden Mundwinkeln in die Klasse geht, kommt dabei nichts raus.
Heute hat man oft den Eindruck, überehrgeizige oder überbesorgte Eltern seien die eigentliche Herausforderung im Lehrerjob.
Wir haben zunehmend Eltern, die meinen, sie wissen, wie der Lehrer mit ihrem Kind umzugehen hat. Elternhaus und Schule arbeiten nicht mehr so eng zusammen. Wenn man aber die Autorität des Lehrers am Esstisch untergräbt, indem man vor den Kindern schlecht über die Schule redet, kommen die Kinder schon mit der Haltung in den Unterricht: Du kannst mir gar nichts, mein Vater wird das klären.
Ihre Checkliste „Verhaltensregeln für Eltern“ umfasst 24 Punkte. Welcher ist Ihnen der wichtigste?
Ein Vertrauensvorschuss für die Schule. Akzeptieren, dass der Lehrer seinen Beruf studiert hat und sich bemüht, alles so gut wie möglich zu machen.
Sie haben auch eine Checkliste, um die eigene Persönlichkeit für den Lehrerberuf zu testen. Worauf kommt es besonders an?
Dass man Kinder mag. Überraschungen vertragen kann. Nicht zu lärmempfindlich ist. Und Humor. Eine Unterrichtsstunde, in der nicht mindestens einmal gelacht wird, ist eine schlechte Stunde.

1 Kommentar:

  1. Interessant ist der Widerspruch in der Argumentation: Während Stötzer freimütig zugibt, zu Beginn über keine Führungsqualitäten verfügt zu haben, masst er sich dennoch zu, Junglehrern vom Beruf abzuraten, weil sie eben nicht führen können oder den Kontakt zu den Jugendlichen nicht schaffen.

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