In meinem ersten Bildungsblog habe ich eine Lanze für die
Liberalisierung der Schulwahl gebrochen und argumentiert, dass die
Einkommenssegregation nicht verstärkt wird. Vielmehr trägt gerade die strikte
Bindung zwischen Wohnort und Schule zur räumlichen Aufspaltung der Gesellschaft
bei. Aber wozu braucht es mehr Wahlfreiheit? Um es vorwegzunehmen: Mit
der Verbesserung des schulischen Leistungsniveaus sollte nicht argumentiert
werden. Zwar gibt es viele Studien, die auf Basis von Pisa-Daten die
Effekte von Liberalisierungen der Schulwahl analysieren. Da die
unterschiedlichen Bildungserfolge in den Ländern durch unzählige Faktoren
bestimmt werden, gelingt es aber kaum, schlüssige Evidenz für (oder gegen)
diese These herauszufiltern.
Die Volksschule gerät unter Stress, Politblog des Tages Anzeigers, 4.8. von Patrik Schellenbauer (Avenir Suisse)
Der zentrale Punkt ist ein anderer: Die Funktion
der Volksschule als «Klammer der Gesellschaft» ist unter Stress geraten. In den
50er- und 60er-Jahren gab es eine breite Mitte mit verwandten Werthaltungen und
Lebensentwürfen. Der Mittelstand von damals war beseelt vom Glauben an den
materiellen Aufstieg im gemeinsamen Lift nach oben. Seither hat sich die
Gesellschaft in Milieus ausdifferenziert, die oft kaum mehr eine gemeinsame
Sprache finden. Während sich urbane Avantgarden bereits in der
Postwachstumsgesellschaft wähnen, bleibt das Haus im Grünen der Sehnsuchtsort
ländlich-traditioneller Kreise. Hinzu kommt eine wachsende Schicht von «Expats»
mit einem anderen bildungskulturellen Hintergrund.
Unter der Fragmentierung leidet der gesellschaftliche Kitt und mit ihm
die Volksschule. Sie wird heute mit sehr unterschiedlichen Erwartungen
konfrontiert, die sie unmöglich alle erfüllen kann. Für die einen liegt die
Zukunft in selbstbestimmtem freiem Lernen, andere sehen in integrativen
Schulformen die Ursache allen Übels, Dritte wünschen sich gar die autoritäre
Schule alten Zuschnitts zurück. Die erhoffte Klammer wird so immer mehr
zum Klumpfuss. Die vom Lehrkörper beklagte «Reformitis» ist nicht
zuletzt eine Folge zunehmend unvereinbarer Ansprüche. Wie so oft begegnet man
einer unliebsamen Entwicklung zuerst mit «Mehr vom Gleichen», das heisst mit
Symptombekämpfung. Die Bildungsverantwortlichen versuchen, die lose Klammer mit
Vereinheitlichung und zentraler Lenkung wieder zu befestigen. Und man setzt
darauf, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bildungsforschung in eine
Art Best-Practice-Schule für alle münden und die Skeptiker am Ende überzeugt
werden.
Hier liegt der grundlegende Irrtum. Wissenschaftlichkeit kommt gegen
Werte letztlich nicht an. So streiten wir emotional über den
Mundart-Kindergarten und die Frage, ob unseren Primarschülern zwei Frühsprachen
zuzumuten seien oder nicht. Die Volksschule ist heute mehr denn je ein
Politikum und keine Expertenveranstaltung. Genau dies könnte dem Lehrplan 21
zum Verhängnis werden. Wir brauchen mehr Wahlfreiheit an den
Volksschulen, zusammen mit einer grösseren Vielfalt an Schulformen und
pädagogischen Konzepten. Wie viele Unterschiede wir zulassen wollen, ohne das
Verbindende der Schule aufzugeben, muss in einer Grundsatzdebatte geklärt
werden. Wer sich dieser Diskussion verweigert, riskiert auf Dauer tatsächlich
die Schwächung der Volksschule.
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