10. August 2015

Inkompetenzerkennungskompetenz

Gerne machen wir uns vor, dass die im World Wide Web geballte Information Wissen darstelle. Dabei kann echtes Wissen nur durch vertieftes Nachdenken und gelebte Erfahrung entstehen.
Imkompetenzerkennungskompetenz, NZZ, 8.8. von Eduard Kaeser


Heute, da fast nur noch von Kompetenzen geredet wird, gewinnt plötzlich ein altes menschliches Phänomen eine neue Bedeutung und Brisanz: der sprichwörtliche blinde Fleck, den man selbst nicht sieht; der Ignorant, der nicht weiss, dass er ignorant ist; der Unbeholfene, der sich seiner Unbeholfenheit nicht bewusst ist. Es geht, kurz, um Inkompetenzerkennungsinkompetenz.
Das Phänomen ist in der Neurologie bekannt unter der Bezeichnung der Anosognosie. Ein Beispiel: Nach einem Schlaganfall in der rechten Gehirnhälfte leidet ein Anosognosie-Patient an einer Lähmung des linken Armes, die ihm aber nicht bewusst ist. Anosognosie verursacht nicht nur die Lähmung, sondern gleichzeitig die Unfähigkeit, die eigene Gelähmtheit zu erkennen. Legt man dem Patienten einen Bleistift auf den Tisch und fordert ihn auf, danach zu greifen, wird er es körperlich bedingt nicht tun. Er wird aber sagen, er sei zu müde oder benötige keinen Bleistift. Sein Unvermögen alarmiert ihn also nicht. Das Gehirn hat einen neuronalen Monitor, der, wenn beschädigt, zu einem partiellen Ausfall der Wahrnehmung führen kann: ein «hemisphärischer Neglect» («hemispatial neglect»). Betroffene Patienten können einen Teil ihrer Umgebung buchstäblich nicht mehr wahrnehmen. Männer rasieren zum Beispiel nur die eine Gesichtshälfte; oder einer isst nur die eine Hälfte des servierten Essens und beklagt sich, zu wenig bekommen zu haben.

Aufgeblähte Selbsteinschätzung
Das Phänomen gibt es auch im Bereich des Kognitiven. Es wurde 1999 vom Sozialpsychologen David Dunning und seinem Schüler Justin Kruger untersucht und hat unter der Bezeichnung «Dunning-Kruger-Effekt» Eingang in die psychologische Fachliteratur gefunden. Der Titel der Studie sagt eigentlich schon alles: «Unqualifiziert und uneinsichtig: wie Schwierigkeiten, die eigene Inkompetenz zu erkennen, zu einer aufgeblähten Selbsteinschätzung führen».
Was Dunning und Kruger irritierte, war der Umstand, dass viele Leute von ihrer Inkompetenz nicht irritiert sind; nicht verlegen, bescheiden oder vorsichtig werden - im Gegenteil: Oft ist die Inkompetenz begleitet von einer aufgepumpten, fallweise auch lachhaften Selbstgewissheit. So war die Initialzündung zu ihrer Studie ein Bankraub in Pittsburgh im Jahre 1995, der an Filmklamauk à la Laurel and Hardy erinnert. Ein Mann namens McArthur Wheeler überfiel kurz nacheinander zwei Banken am helllichten Tage. Ganz ohne jede Vorsichtsmassnahme, wie es schien, denn er hatte sich nicht darum gekümmert, in der kameraüberwachten Schalterhalle sein Gesicht zu tarnen. Er wurde noch am gleichen Abend dank den Kameraaufnahmen verhaftet. Für Heiterkeit sorgte Wheelers unbeirrte Meinung, sein Gesicht sei durch Einreiben mit Zitronensaft für die Kameras unsichtbar. Er habe seine Methode zu Hause selber überprüft. Der Banküberfall falsifizierte diese freilich schnell und brutal. Eine trübe Tasse von Räuber, wird man sagen. Dunning und Kruger sahen darin mehr, nämlich einen Typus von kognitiver Verzerrung: Wheeler war der Meinung, etwas Sinnhaftes zu tun, und er zeigte sich offenbar unfähig, die Falschheit dieser Meinung einzusehen.
Die digitalen Medien verschaffen heute auf beispiellose Weise leichten und schnellen Zugang zu Datenbanken. Googeln und Wikipedia-Anklicken gehören schon zu den neuen Kulturtechniken. Die scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit von Information kann allerdings dazu verleiten, Zugang zum Wissen mit Wissen selber zu verwechseln. Anders gesagt, lauert auch hier der Dunning-Kruger-Effekt der falschen Einschätzung. Das Problem ist ein metakognitives: Die Möglichkeit, sich Wissen über das Internet zu beschaffen, erhöht auch das Risiko von Halbbildung, also der Konsumation von halbgaren Theorien und ungeprüften oder schlecht geprüften Hypothesen wie jene vom Zitronensaft. Tests, die Dunning und Kruger mit Studenten durchführten, zeigten eine deutliche Proportionalität: Je schlechter die Aufgabenbewältigung, desto schlechter die Einschätzung der eigenen Inkompetenz. Nun waren diese Tests nicht direkt auf die digitalen Medien ausgerichtet. Aber man darf vermuten, dass die Dienste des Internets manch einen User dazu verleiten, seine Selbsteinschätzung falsch zu kalibrieren, das heisst, sich in der Meinung zu wiegen, er sei kompetent nur schon deswegen, weil er mit dem Zugang zur Information über diese Kompetenz ausgerüstet ist.
Nehmen wir etwa den Orientierungssinn. Er wird heute immer mehr durch Navigations-Apps ergänzt und tendenziell ersetzt. Genau diese Tendenz manifestiert die Ambivalenz der Technologie. Dank ihr können wir uns viel schneller und zielführender im Gelände orientieren. Aber wir sollten dies nicht als verbesserte Orientierungskompetenz missverstehen.
Oder vielmehr: Das Missverständnis entsteht dann, wenn wir nicht gleichzeitig in uns selber die Geländekenntnis vertiefen, also eine entsprechende Kompetenz ausbilden. Das könnte durchaus als Chance angesehen werden: nämlich sich einzugestehen, dass man im Grunde etwas noch nicht weiss, wenn man es in Wikipedia nachgefragt hat; oder etwas noch nicht kann, wenn man über eine entsprechende App verfügt. Der Philosoph Odo Marquard hat einmal - halb im Ernst - von der Philosophie als einer Inkompetenzkompensationskompetenz gesprochen. Eine solche Fähigkeit des Eingeständnisses stünde uns gar nicht so schlecht an in einer Zeit, die von uns bis in die hintersten Lebensnischen Kompetenzen abfordert. Warum also nicht eine Inkompetenzerkennungskompetenz? Sie würde zuallererst bedeuten, dass wir neben dem Abfragen in den digitalen Medien auch wieder das Fragen lernen, also das, was uns menschlich macht.
Folgeschäden
Sie ist noch aus einem weiteren Grund wichtig. Denn unter Inkompetenz leiden in der Regel die anderen, nicht der Inkompetente. Sitzt er im sozialen, politischen, wirtschaftlichen Netzwerk in einem Entscheidungsknoten, kann sein Handeln ärgerliche bis schädliche Folgen haben. Und Ursache ist nicht einfach sein Fehlentscheid, vielmehr die Fehleinschätzung seines Fehlentscheids. Es wäre aufschlussreich und wahrscheinlich ziemlich ernüchternd, unter dem Aspekt des Dunning-Kruger-Effekts einmal eine genauere Analyse des ganzen Rattenschwanzes von Krisen und Kalamitäten aus unserer rezenten Geschichte durchzuführen. Also die Frage zu stellen: Ist die Selbsteinschätzung all der selbsternannten Fiasko-Spezialisten, die sich ihrer Kompetenzen auch noch rühmen, nachdem sie uns den Schlamassel eingebrockt haben, nicht falsch kalibriert?
Meine Hypothese: Viele sind vom Schlag des Bankräubers McArthur Wheeler. Und der Ruf wäre daher angebracht: Schaut doch nur, all die trüben Tassen in Politik in Wirtschaft haben ihre Gesichter mit «Zitronensaft» eingerieben, aber sie sind trotzdem kenntlich!

Der Berner Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen