Imkompetenzerkennungskompetenz, NZZ, 8.8. von Eduard Kaeser
Heute, da fast nur noch von Kompetenzen geredet
wird, gewinnt plötzlich ein altes menschliches Phänomen eine neue Bedeutung und
Brisanz: der sprichwörtliche blinde Fleck, den man selbst nicht sieht; der
Ignorant, der nicht weiss, dass er ignorant ist; der Unbeholfene, der sich
seiner Unbeholfenheit nicht bewusst ist. Es geht, kurz, um
Inkompetenzerkennungsinkompetenz.
Das Phänomen ist in der Neurologie bekannt unter
der Bezeichnung der Anosognosie. Ein Beispiel: Nach einem Schlaganfall in der
rechten Gehirnhälfte leidet ein Anosognosie-Patient an einer Lähmung des linken
Armes, die ihm aber nicht bewusst ist. Anosognosie verursacht nicht nur die
Lähmung, sondern gleichzeitig die Unfähigkeit, die eigene Gelähmtheit zu erkennen.
Legt man dem Patienten einen Bleistift auf den Tisch und fordert ihn auf,
danach zu greifen, wird er es körperlich bedingt nicht tun. Er wird aber sagen,
er sei zu müde oder benötige keinen Bleistift. Sein Unvermögen alarmiert ihn
also nicht. Das Gehirn hat einen neuronalen Monitor, der, wenn beschädigt, zu
einem partiellen Ausfall der Wahrnehmung führen kann: ein «hemisphärischer
Neglect» («hemispatial neglect»). Betroffene Patienten können einen Teil ihrer
Umgebung buchstäblich nicht mehr wahrnehmen. Männer rasieren zum Beispiel nur
die eine Gesichtshälfte; oder einer isst nur die eine Hälfte des servierten
Essens und beklagt sich, zu wenig bekommen zu haben.
Aufgeblähte Selbsteinschätzung
Das Phänomen gibt es auch im Bereich des
Kognitiven. Es wurde 1999 vom Sozialpsychologen David Dunning und seinem
Schüler Justin Kruger untersucht und hat unter der Bezeichnung
«Dunning-Kruger-Effekt» Eingang in die psychologische Fachliteratur gefunden.
Der Titel der Studie sagt eigentlich schon alles: «Unqualifiziert und
uneinsichtig: wie Schwierigkeiten, die eigene Inkompetenz zu erkennen, zu einer
aufgeblähten Selbsteinschätzung führen».
Was Dunning und Kruger irritierte, war der Umstand,
dass viele Leute von ihrer Inkompetenz nicht irritiert sind; nicht verlegen,
bescheiden oder vorsichtig werden - im Gegenteil: Oft ist die Inkompetenz
begleitet von einer aufgepumpten, fallweise auch lachhaften Selbstgewissheit.
So war die Initialzündung zu ihrer Studie ein Bankraub in Pittsburgh im Jahre
1995, der an Filmklamauk à la Laurel and Hardy erinnert. Ein Mann namens
McArthur Wheeler überfiel kurz nacheinander zwei Banken am helllichten Tage.
Ganz ohne jede Vorsichtsmassnahme, wie es schien, denn er hatte sich nicht
darum gekümmert, in der kameraüberwachten Schalterhalle sein Gesicht zu tarnen.
Er wurde noch am gleichen Abend dank den Kameraaufnahmen verhaftet. Für
Heiterkeit sorgte Wheelers unbeirrte Meinung, sein Gesicht sei durch Einreiben
mit Zitronensaft für die Kameras unsichtbar. Er habe seine Methode zu Hause selber
überprüft. Der Banküberfall falsifizierte diese freilich schnell und brutal.
Eine trübe Tasse von Räuber, wird man sagen. Dunning und Kruger sahen darin
mehr, nämlich einen Typus von kognitiver Verzerrung: Wheeler war der Meinung,
etwas Sinnhaftes zu tun, und er zeigte sich offenbar unfähig, die Falschheit
dieser Meinung einzusehen.
Die digitalen Medien verschaffen heute auf
beispiellose Weise leichten und schnellen Zugang zu Datenbanken. Googeln und
Wikipedia-Anklicken gehören schon zu den neuen Kulturtechniken. Die scheinbar
grenzenlose Verfügbarkeit von Information kann allerdings dazu verleiten,
Zugang zum Wissen mit Wissen selber zu verwechseln. Anders gesagt, lauert auch
hier der Dunning-Kruger-Effekt der falschen Einschätzung. Das Problem ist ein metakognitives:
Die Möglichkeit, sich Wissen über das Internet zu beschaffen, erhöht auch das
Risiko von Halbbildung, also der Konsumation von halbgaren Theorien und
ungeprüften oder schlecht geprüften Hypothesen wie jene vom Zitronensaft.
Tests, die Dunning und Kruger mit Studenten durchführten, zeigten eine
deutliche Proportionalität: Je schlechter die Aufgabenbewältigung, desto
schlechter die Einschätzung der eigenen Inkompetenz. Nun waren diese Tests
nicht direkt auf die digitalen Medien ausgerichtet. Aber man darf vermuten,
dass die Dienste des Internets manch einen User dazu verleiten, seine
Selbsteinschätzung falsch zu kalibrieren, das heisst, sich in der Meinung zu
wiegen, er sei kompetent nur schon deswegen, weil er mit dem Zugang zur
Information über diese Kompetenz ausgerüstet ist.
Nehmen wir etwa den Orientierungssinn. Er wird
heute immer mehr durch Navigations-Apps ergänzt und tendenziell ersetzt. Genau
diese Tendenz manifestiert die Ambivalenz der Technologie. Dank ihr können wir
uns viel schneller und zielführender im Gelände orientieren. Aber wir sollten
dies nicht als verbesserte Orientierungskompetenz missverstehen.
Oder vielmehr: Das Missverständnis entsteht dann,
wenn wir nicht gleichzeitig in uns selber die Geländekenntnis vertiefen, also eine
entsprechende Kompetenz ausbilden. Das könnte durchaus als Chance angesehen
werden: nämlich sich einzugestehen, dass man im Grunde etwas noch nicht weiss,
wenn man es in Wikipedia nachgefragt hat; oder etwas noch nicht kann, wenn man
über eine entsprechende App verfügt. Der Philosoph Odo Marquard hat einmal -
halb im Ernst - von der Philosophie als einer Inkompetenzkompensationskompetenz
gesprochen. Eine solche Fähigkeit des Eingeständnisses stünde uns gar nicht so
schlecht an in einer Zeit, die von uns bis in die hintersten Lebensnischen
Kompetenzen abfordert. Warum also nicht eine Inkompetenzerkennungskompetenz?
Sie würde zuallererst bedeuten, dass wir neben dem Abfragen in den digitalen
Medien auch wieder das Fragen lernen, also das, was uns menschlich macht.
Folgeschäden
Sie ist noch aus einem weiteren Grund wichtig. Denn
unter Inkompetenz leiden in der Regel die anderen, nicht der Inkompetente.
Sitzt er im sozialen, politischen, wirtschaftlichen Netzwerk in einem
Entscheidungsknoten, kann sein Handeln ärgerliche bis schädliche Folgen haben.
Und Ursache ist nicht einfach sein Fehlentscheid, vielmehr die Fehleinschätzung
seines Fehlentscheids. Es wäre aufschlussreich und wahrscheinlich ziemlich
ernüchternd, unter dem Aspekt des Dunning-Kruger-Effekts einmal eine genauere
Analyse des ganzen Rattenschwanzes von Krisen und Kalamitäten aus unserer
rezenten Geschichte durchzuführen. Also die Frage zu stellen: Ist die
Selbsteinschätzung all der selbsternannten Fiasko-Spezialisten, die sich ihrer
Kompetenzen auch noch rühmen, nachdem sie uns den Schlamassel eingebrockt
haben, nicht falsch kalibriert?
Meine Hypothese: Viele sind vom Schlag des
Bankräubers McArthur Wheeler. Und der Ruf wäre daher angebracht: Schaut doch
nur, all die trüben Tassen in Politik in Wirtschaft haben ihre Gesichter mit
«Zitronensaft» eingerieben, aber sie sind trotzdem kenntlich!
Der Berner Eduard Kaeser ist
Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und
Jazzmusiker tätig.
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