12. August 2015

Bildungspolitik bleibt an der Oberfläche hängen

Kaum eine andere Errungenschaft ist für die Menschheit so wichtig wie die Schule. Doch wie soll unterrichtet werden, und was müssen Schüler wissen? Nehmen wir ein paar oft verbreitete (falsche) Aussagen unter die Lupe.



Was macht guten Unterricht aus? Bild: Keystone

Das wohl grösste und wichtigste Unternehmen der Menschheit, Aargauer Zeitung, 8.8. von Armin P. Barth


Jeder muss und darf hierzulande die Schule besuchen. Vielleicht hält sich gerade deswegen jeder für einen Experten in Sachen Schule, und darum hört und liest man die unterschiedlichsten Statements zum Thema Schule, viele auch, die einer genauen Untersuchung nicht standhalten.
Darum sollen hier einmal einige oft verbreitete Aussagen unter die Lupe genommen werden. Schule ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit; sie verdient eine sachliche und wohlwollende Würdigung.
Kein einziger Mensch lebt heute noch, der die Französische Revolution erlebt hat, und in wenigen Jahrzehnten wird kein Mensch mehr unter uns sein, der Elvis live gesehen hat oder bei Wittgenstein in der Vorlesung sass. Alle Eindrücke und Kenntnisse, die ein Mensch im Laufe seines Lebens anhäuft, sind nach hundert Jahren verschwunden.
Und darum hat die Menschheit das wohl grösste und wichtigste Unternehmen ihrer Geschichte gestartet: Schule. Der Zweck dieses Unternehmens besteht darin, das ständig anwachsende Wissen zu bewahren und an die nächste Generation weiterzureichen. Es würde die Einstellung zur Schule sicher positiv verändern, wenn wir uns dieser Tatsache mehr bewusst wären.
Nun hört man oft, der Mensch lernt auch ohne Schule sehr viel, und zweifellos trifft das zu. Aber der genetische Bauplan des menschlichen Hirns ist mindestens 40 000 Jahre alt, und in dieser Zeit hat sich die Welt stark verändert. Schreiben und Rechnen können wir erst seit wenigen tausend Jahren, die formale Sprache der Chemie ist einige hundert Jahre alt, Programmiersprachen gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten.
All diese Dinge lernt man nicht von allein, so wie wir etwa gehen lernen, weil sie im Hirn nicht automatisch angelegt sind. Dafür braucht es Lernumgebungen, die so gut sind, dass Lernende in kurzer Zeit Erkenntnisse nachvollziehen können, zu deren Entwicklung Genies und Jahrtausende nötig waren. Daran erkennt man, wie ambitioniert das Unternehmen Schule ist.

Wissen oder Bildung?

Man hört oft, das in Schulen angehäufte Wissen sei veraltet; ausserdem könne man Wissen bei Bedarf aus dem Internet herunterladen. Vielleicht deswegen geriet der Begriff «Wissen» in Verruf, und es wird immer wieder gefordert, Kinder müssten stattdessen ganz allgemein die Denkfähigkeit trainieren, das Lernen an sich lernen, und man müsse ihnen allgemeine Bildung angedeihen lassen.
Doch das ist nicht sinnvoll. Die Lehr- und Lernforschung hat in den letzten Jahrzehnten gut zeigen können, dass man Menschen nicht unspezifisch darin trainieren kann, besser zu denken. Das erfolgreiche Lernen ist immer an konkrete Inhalte geknüpft. Es ist eine zentrale Erkenntnis der neueren Forschung, dass das menschliche Wissen viel bereichsspezifischer ist, als man das lange angenommen hat.
Der Philosoph und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841) hatte recht, als er sagte: «Der Verstand der Grammatik bleibt in der Grammatik (…); der Verstand jedes andern Faches muss sich in diesem Fache auf eigne Weise bilden.» Darum ist es auch so, dass der Transfer von Gelerntem auf ein anderes, eventuell sogar nahes Inhaltsgebiet nicht von alleine und nur unter ganz speziellen Voraussetzungen abläuft.
Tatsächlich findet man oft, dass Menschen, die in einem Gebiet herausragend sind, selbst in verwandten Gebieten nur durchschnittlich sind.
Die Lebensdaten von Johann Herbart kann man tatsächlich aus dem Internet saugen, aber intelligentes, kreatives Wissen umfasst natürlich auch ein tiefes Verständnis von Prozeduren und Konzepten, und dies wird nur in mühsamen Lernprozessen erreicht. Immer wenn wir lernen, beziehen wir uns auf Vorwissen.
Wenn jemand viel kann, so liegt das fast immer daran, dass er viel weiss. Darum betont die Lehr- und Lernforscherin Elsbeth Stern, Wissen, nicht Intelligenz, sei der Schlüssel zum Können. Dies sollte man in Schulen bedenken; Lehrer sorgen dafür, dass Kinder ihr Vorwissen nutzen und ständig in sinnstiftenden Schritten erweitern können.
Welches Wissen bereitet Jugendliche auf die noch unbekannten Herausforderungen des späteren Lebens vor? Grundlage der unterschiedlichsten Inhaltsgebiete sind sicherlich Sprache, Schrift, Mathematik, grafische Veranschaulichung, Symbolsysteme aller Art.
Darum sollten Schulen weiterhin Eloquenz in Sprache, einen professionellen Umgang mit Schrift, formalen Sprachen und Repräsentationswerkzeugen fördern. Eher Abstand nehmen sollten sie von Versuchen, Denkstrategie und Methodentraining losgelöst von konkreten Inhalten vermitteln zu wollen.

Was ist guter Unterricht?

Hierzu hat jeder eine Meinung, weil jeder Unterricht erlebt hat. Gewisse Unterrichtsmethoden sind schon verteufelt, andere als die einzig heilbringenden gepriesen worden. Tatsache ist, dass es nicht von der Methode abhängt, ob im Unterricht viel gelernt wird oder nicht; es hängt vor allem davon ab, ob es gelingt, dass die Lernenden sich intensiv mit einem Gegenstand auseinandersetzen.
Unterricht gelingt, wenn Lehrpersonen am Werk sind, die Unterricht nicht als Fotokopieren verstehen, bei dem das Wissen des Lehrers in die Köpfe der Kinder kopiert werden soll, sondern die anregende, herausfordernde und gut auf das Vorwissen abgestimmte Lernumgebungen schaffen, in denen Fehler und Irrtümer als willkommene Herausforderungen gesehen werden.
Es reicht nicht, nett zu sein im Unterricht, denn Lernen ist teilweise sehr anstrengend, und da führt kein Weg vorbei. Unterricht gelingt, wenn die Kinder gefordert und gefördert werden, wenn sie die Möglichkeit erhalten, Erfahrungen zu sammeln, zu entdecken und zu rekonstruieren und selber Erklärungen zu erzeugen. Die Stundenpläne, die Schulform, die Ausstattung einer Schule und so weiter spielen alle kaum eine Rolle.
Darum wird Bildungspolitik auch nichts verändern, solange sie nur über Oberflächenmerkmale einer Schule nachdenkt und nicht den konkreten Unterricht in den Fokus rückt. Sie schickt höchstens Lehrpersonen in unsinnige Beschäftigungsprogramme und hält sie dadurch von der Unterrichtsvorbereitung ab. Auch ein Grossaufgebot an Technik verbessert das Lernen nicht grundsätzlich.
John Hattie, ein neuseeländischer Pädagoge, ist berühmt geworden durch eine Monsterstudie, in der er über 800 Metastudien zum Thema Unterricht ausgewertet hat. Er stellte Indikatoren für guten Unterricht zusammen, und traf damit weltweit auf grosse Zustimmung. Er stellte fest, dass es in erster Linie auf die Lehrperson ankommt.
Sie ist der Regisseur des Lernens, sie sollte strukturiert, disziplinbewusst und fachbezogen arbeiten, dabei aber immer die Sicht der Lernenden einnehmen, denn sie muss genau wissen, wo diese gerade stehen.
Darum sind Schulversuche, in denen die Schüler allein gelassen werden, ebenso wenig förderlich, wie Versuche, in denen die Schüler ihre Lernprozesse selber gestalten sollen; damit sind sie ganz einfach überfordert. Schon der deutsche Psychologe Franz Weinert betonte, guter Unterricht sei schülerzentriert, aber lehrergesteuert.

Was Schüler wissen müssen

Ist allein der IQ verantwortlich für Leistungsunterschiede, wie man oft hört? Intelligenz ist ein polygenes Merkmal, gesteuert durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von (heute noch unbekannten) Genen. Aber Intelligenz ist vor allem ein Potenzial. Genauso, wie eine Pflanze, die im Schatten und ohne Wasser lebt, ihr Potenzial nicht entfalten kann, kann ein Mensch sein Intelligenz-Potenzial nicht entwickeln, wenn er nicht stimuliert und gefördert wird.
Tatsächlich ist es so, dass sich die Intelligenz proportional zur Qualität und Quantität der Stimulation entwickelt. Darum kann man bei idealer Umwelt und Förderung (und dazu gehört guter Unterricht) Leistungsunterschiede in Schulen tatsächlich mit dem IQ erklären.
Umgekehrt sind aber in einer Lerngruppe, die bezüglich Intelligenz und Wissen recht homogen ist, andere Faktoren verantwortlich für Leistungsunterschiede, nämlich die Tagesform, die Motivation, und vor allem die Selbstdisziplin.
Darum muss man Eltern raten, Kinder nicht einfach sich selbst zu überlassen, sondern dafür zu sorgen, dass sie mit vielen Wörtern, Konzepten und Anregungen konfrontiert werden und dass sie lernen, diszipliniert zu arbeiten und Misserfolge auszuhalten oder gar positiv zu nützen. Dann werden sie es an Schulen leichter haben.

Was bringt Vereinheitlichung?

Immer wieder ertönt der Ruf nach Vereinheitlichung, und immer muss Fairness als Argument herhalten. Das greift zu kurz. Wenn beispielsweise Abschlussprüfungen einheitlich sind, dann läuft man Gefahr, dass im Unterricht nur noch «teaching to the test» betrieben wird. Die Ungerechtigkeit, die einige ja verhindern wollen, steckt dann einfach in der unterschiedlichen Art und Weise, wie Lehrpersonen ihre Schüler für den Test trainieren.
Vor allem aber möchten wir doch Jugendliche mit intelligentem Wissen haben und nicht solche, die auf Kommando Methoden abrufen können, sobald sie den Typ der Aufgabe erkennen. Die Kinder sollten keine Memorysticks sein, wie Informatikprofessor Alexander Repenning jüngst forderte. Zu intelligentem Wissen verhelfen können den Jugendlichen aber viel eher die Lehrpersonen, die sie gut kennen und gezielt und individuell fördern können.
Es sei fraglich, ob eine Matur überall gleich viel wert sein, meinte kürzlich ein Bildungsforscher. Natürlich ist eine Matur nicht überall gleich viel wert. Aber das liegt nicht an der fehlenden Einheitlichkeit der Prüfung, sondern daran, dass die Schüler in den Jahren zuvor ganz unterschiedlichen Unterricht genossen haben. Und dieser «Mangel» liesse sich nur beheben, wenn man Lehrer künftig durch Roboter ersetzen würde.

Lehrertage

Viele Länder kennen Lehrertage. In Thailand etwa ist der 16. Januar ein nationaler Feiertag, an dem man den Lehrpersonen dankt. Diese sind dort sehr geachtet und nach den Eltern oftmals die wichtigste Bezugsperson. Menschen denken meist ihr ganzes Leben lang mit Respekt an ihren «Khun Kru» zurück.
Ich plädiere nicht dafür, in unserem Land einen Lehrerkult einzuführen. Aber es wäre schön, wenn all die Menschen, die Schule betreiben, etwas mehr Wertschätzung erfahren würden, denn sie bringen ein einzigartiges Unternehmen der Menschheit voran, Jahrhundert für Jahrhundert.
* Armin P. Barth ist Mathematiklehrer an der Kantonsschule Baden und arbeitet am Institut für Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich. 


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