Was macht guten Unterricht aus? Bild: Keystone
Das wohl grösste und wichtigste Unternehmen der Menschheit, Aargauer Zeitung, 8.8. von Armin P. Barth
Jeder
muss und darf hierzulande die Schule besuchen. Vielleicht hält sich gerade
deswegen jeder für einen Experten in Sachen Schule, und darum hört und liest
man die unterschiedlichsten Statements zum Thema Schule, viele auch, die einer
genauen Untersuchung nicht standhalten.
Darum
sollen hier einmal einige oft verbreitete Aussagen unter die Lupe genommen
werden. Schule ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit; sie
verdient eine sachliche und wohlwollende Würdigung.
Kein
einziger Mensch lebt heute noch, der die Französische Revolution erlebt hat,
und in wenigen Jahrzehnten wird kein Mensch mehr unter uns sein, der Elvis live
gesehen hat oder bei Wittgenstein in der Vorlesung sass. Alle Eindrücke und
Kenntnisse, die ein Mensch im Laufe seines Lebens anhäuft, sind nach hundert
Jahren verschwunden.
Und
darum hat die Menschheit das wohl grösste und wichtigste Unternehmen ihrer
Geschichte gestartet: Schule. Der Zweck dieses Unternehmens besteht darin, das
ständig anwachsende Wissen zu bewahren und an die nächste Generation
weiterzureichen. Es würde die Einstellung zur Schule sicher positiv verändern,
wenn wir uns dieser Tatsache mehr bewusst wären.
Nun
hört man oft, der Mensch lernt auch ohne Schule sehr viel, und zweifellos
trifft das zu. Aber der genetische Bauplan des menschlichen Hirns ist
mindestens 40 000 Jahre alt, und in dieser Zeit hat sich die Welt
stark verändert. Schreiben und Rechnen können wir erst seit wenigen tausend
Jahren, die formale Sprache der Chemie ist einige hundert Jahre alt,
Programmiersprachen gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten.
All
diese Dinge lernt man nicht von allein, so wie wir etwa gehen lernen, weil sie
im Hirn nicht automatisch angelegt sind. Dafür braucht es Lernumgebungen, die
so gut sind, dass Lernende in kurzer Zeit Erkenntnisse nachvollziehen können,
zu deren Entwicklung Genies und Jahrtausende nötig waren. Daran erkennt man,
wie ambitioniert das Unternehmen Schule ist.
Wissen oder Bildung?
Man
hört oft, das in Schulen angehäufte Wissen sei veraltet; ausserdem könne man
Wissen bei Bedarf aus dem Internet herunterladen. Vielleicht deswegen geriet
der Begriff «Wissen» in Verruf, und es wird immer wieder gefordert, Kinder
müssten stattdessen ganz allgemein die Denkfähigkeit trainieren, das Lernen an
sich lernen, und man müsse ihnen allgemeine Bildung angedeihen lassen.
Doch
das ist nicht sinnvoll. Die Lehr- und Lernforschung hat in den letzten
Jahrzehnten gut zeigen können, dass man Menschen nicht unspezifisch darin
trainieren kann, besser zu denken. Das erfolgreiche Lernen ist immer an
konkrete Inhalte geknüpft. Es ist eine zentrale Erkenntnis der neueren
Forschung, dass das menschliche Wissen viel bereichsspezifischer ist, als man
das lange angenommen hat.
Der
Philosoph und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841) hatte recht, als er
sagte: «Der Verstand der Grammatik bleibt in der Grammatik (…); der Verstand
jedes andern Faches muss sich in diesem Fache auf eigne Weise bilden.» Darum
ist es auch so, dass der Transfer von Gelerntem auf ein anderes, eventuell
sogar nahes Inhaltsgebiet nicht von alleine und nur unter ganz speziellen
Voraussetzungen abläuft.
Tatsächlich
findet man oft, dass Menschen, die in einem Gebiet herausragend sind, selbst in
verwandten Gebieten nur durchschnittlich sind.
Die
Lebensdaten von Johann Herbart kann man tatsächlich aus dem Internet saugen,
aber intelligentes, kreatives Wissen umfasst natürlich auch ein tiefes
Verständnis von Prozeduren und Konzepten, und dies wird nur in mühsamen
Lernprozessen erreicht. Immer wenn wir lernen, beziehen wir uns auf Vorwissen.
Wenn
jemand viel kann, so liegt das fast immer daran, dass er viel weiss. Darum
betont die Lehr- und Lernforscherin Elsbeth Stern, Wissen, nicht Intelligenz, sei
der Schlüssel zum Können. Dies sollte man in Schulen bedenken; Lehrer sorgen
dafür, dass Kinder ihr Vorwissen nutzen und ständig in sinnstiftenden Schritten
erweitern können.
Welches
Wissen bereitet Jugendliche auf die noch unbekannten Herausforderungen des
späteren Lebens vor? Grundlage der unterschiedlichsten Inhaltsgebiete sind
sicherlich Sprache, Schrift, Mathematik, grafische Veranschaulichung,
Symbolsysteme aller Art.
Darum
sollten Schulen weiterhin Eloquenz in Sprache, einen professionellen Umgang mit
Schrift, formalen Sprachen und Repräsentationswerkzeugen fördern. Eher Abstand
nehmen sollten sie von Versuchen, Denkstrategie und Methodentraining losgelöst
von konkreten Inhalten vermitteln zu wollen.
Was ist guter Unterricht?
Hierzu
hat jeder eine Meinung, weil jeder Unterricht erlebt hat. Gewisse
Unterrichtsmethoden sind schon verteufelt, andere als die einzig heilbringenden
gepriesen worden. Tatsache ist, dass es nicht von der Methode abhängt, ob im
Unterricht viel gelernt wird oder nicht; es hängt vor allem davon ab, ob es
gelingt, dass die Lernenden sich intensiv mit einem Gegenstand
auseinandersetzen.
Unterricht
gelingt, wenn Lehrpersonen am Werk sind, die Unterricht nicht als Fotokopieren
verstehen, bei dem das Wissen des Lehrers in die Köpfe der Kinder kopiert
werden soll, sondern die anregende, herausfordernde und gut auf das Vorwissen
abgestimmte Lernumgebungen schaffen, in denen Fehler und Irrtümer als
willkommene Herausforderungen gesehen werden.
Es
reicht nicht, nett zu sein im Unterricht, denn Lernen ist teilweise sehr
anstrengend, und da führt kein Weg vorbei. Unterricht gelingt, wenn die Kinder
gefordert und gefördert werden, wenn sie die Möglichkeit erhalten, Erfahrungen
zu sammeln, zu entdecken und zu rekonstruieren und selber Erklärungen zu
erzeugen. Die Stundenpläne, die Schulform, die Ausstattung einer Schule und so
weiter spielen alle kaum eine Rolle.
Darum
wird Bildungspolitik auch nichts verändern, solange sie nur über
Oberflächenmerkmale einer Schule nachdenkt und nicht den konkreten Unterricht
in den Fokus rückt. Sie schickt höchstens Lehrpersonen in unsinnige
Beschäftigungsprogramme und hält sie dadurch von der Unterrichtsvorbereitung
ab. Auch ein Grossaufgebot an Technik verbessert das Lernen nicht
grundsätzlich.
John
Hattie, ein neuseeländischer Pädagoge, ist berühmt geworden durch eine
Monsterstudie, in der er über 800 Metastudien zum Thema Unterricht
ausgewertet hat. Er stellte Indikatoren für guten Unterricht zusammen, und traf
damit weltweit auf grosse Zustimmung. Er stellte fest, dass es in erster Linie
auf die Lehrperson ankommt.
Sie
ist der Regisseur des Lernens, sie sollte strukturiert, disziplinbewusst und
fachbezogen arbeiten, dabei aber immer die Sicht der Lernenden einnehmen, denn
sie muss genau wissen, wo diese gerade stehen.
Darum
sind Schulversuche, in denen die Schüler allein gelassen werden, ebenso wenig
förderlich, wie Versuche, in denen die Schüler ihre Lernprozesse selber
gestalten sollen; damit sind sie ganz einfach überfordert. Schon der deutsche
Psychologe Franz Weinert betonte, guter Unterricht sei schülerzentriert, aber
lehrergesteuert.
Was Schüler wissen müssen
Ist
allein der IQ verantwortlich für Leistungsunterschiede, wie man oft hört?
Intelligenz ist ein polygenes Merkmal, gesteuert durch das Zusammenwirken einer
Vielzahl von (heute noch unbekannten) Genen. Aber Intelligenz ist vor allem ein
Potenzial. Genauso, wie eine Pflanze, die im Schatten und ohne Wasser lebt, ihr
Potenzial nicht entfalten kann, kann ein Mensch sein Intelligenz-Potenzial
nicht entwickeln, wenn er nicht stimuliert und gefördert wird.
Tatsächlich
ist es so, dass sich die Intelligenz proportional zur Qualität und Quantität
der Stimulation entwickelt. Darum kann man bei idealer Umwelt und Förderung
(und dazu gehört guter Unterricht) Leistungsunterschiede in Schulen tatsächlich
mit dem IQ erklären.
Umgekehrt
sind aber in einer Lerngruppe, die bezüglich Intelligenz und Wissen recht
homogen ist, andere Faktoren verantwortlich für Leistungsunterschiede, nämlich
die Tagesform, die Motivation, und vor allem die Selbstdisziplin.
Darum
muss man Eltern raten, Kinder nicht einfach sich selbst zu überlassen, sondern
dafür zu sorgen, dass sie mit vielen Wörtern, Konzepten und Anregungen
konfrontiert werden und dass sie lernen, diszipliniert zu arbeiten und Misserfolge
auszuhalten oder gar positiv zu nützen. Dann werden sie es an Schulen leichter
haben.
Was bringt Vereinheitlichung?
Immer
wieder ertönt der Ruf nach Vereinheitlichung, und immer muss Fairness als
Argument herhalten. Das greift zu kurz. Wenn beispielsweise Abschlussprüfungen
einheitlich sind, dann läuft man Gefahr, dass im Unterricht nur noch «teaching
to the test» betrieben wird. Die Ungerechtigkeit, die einige ja verhindern
wollen, steckt dann einfach in der unterschiedlichen Art und Weise, wie Lehrpersonen
ihre Schüler für den Test trainieren.
Vor
allem aber möchten wir doch Jugendliche mit intelligentem Wissen haben und
nicht solche, die auf Kommando Methoden abrufen können, sobald sie den Typ der
Aufgabe erkennen. Die Kinder sollten keine Memorysticks sein, wie
Informatikprofessor Alexander Repenning jüngst forderte. Zu intelligentem
Wissen verhelfen können den Jugendlichen aber viel eher die Lehrpersonen, die
sie gut kennen und gezielt und individuell fördern können.
Es
sei fraglich, ob eine Matur überall gleich viel wert sein, meinte kürzlich ein
Bildungsforscher. Natürlich ist eine Matur nicht überall gleich viel wert. Aber
das liegt nicht an der fehlenden Einheitlichkeit der Prüfung, sondern daran,
dass die Schüler in den Jahren zuvor ganz unterschiedlichen Unterricht genossen
haben. Und dieser «Mangel» liesse sich nur beheben, wenn man Lehrer künftig
durch Roboter ersetzen würde.
Lehrertage
Viele
Länder kennen Lehrertage. In Thailand etwa ist der 16. Januar ein nationaler
Feiertag, an dem man den Lehrpersonen dankt. Diese sind dort sehr geachtet und
nach den Eltern oftmals die wichtigste Bezugsperson. Menschen denken meist ihr
ganzes Leben lang mit Respekt an ihren «Khun Kru» zurück.
Ich
plädiere nicht dafür, in unserem Land einen Lehrerkult einzuführen. Aber es
wäre schön, wenn all die Menschen, die Schule betreiben, etwas mehr
Wertschätzung erfahren würden, denn sie bringen ein einzigartiges Unternehmen
der Menschheit voran, Jahrhundert für Jahrhundert.
* Armin P. Barth ist Mathematiklehrer an der Kantonsschule Baden und arbeitet am
Institut für Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich.
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