Frontalunterricht und autoritäre Lehrpersonen sorgten für die guten Testresultate, Bild: Werner Bischof
Darum lesen finnische Schüler plötzlich schlechter, Tages Anzeiger, 9.7. von Thomas Vitzthum
Alle waren
sie da. Gleich nachdem das Wunder geschehen war, kamen sie: die
Bildungsexperten, Bildungspolitiker, Bildungserklärer und Bildungsverklärer.
Sie alle sind in den letzten 15 Jahren mindestens einmal nach Finnland gereist.
Das gehörte sich so, seitdem das Land in der ersten OECD-Bildungsstudie Pisa
des Jahres 2000 den Spitzenplatz eingenommen und sich viele Nationen angesichts
der miserablen Leistungen ihrer eigenen Schüler die Augen rieben. Auch in der
Schweiz war man schockiert.
Man analysierte also die
von staatlichen Vorgaben weitgehend unabhängigen finnischen Schulen, die so
Wundersames vollbracht hatten. In denen es angeblich so gerecht, heimelig und
egalitär zugeht. Wo Lehrer nicht vorn referieren und die Schüler
protokollieren. Sondern wo Pädagogen sich als Organisatoren von Gruppenarbeit
verstehen, die Schüler anregen, von anderen Schülern, zu lernen und wenig
Hausaufgaben vergeben.
Der
Absturz
Die schöne neue
Schulwelt wurde bewundert und kopiert, weil sie dem Zeitgeist entsprach und
erfolgreich schien. Doch sie ist offenbar ein Trugbild. Das finnische Wunder
ist nicht von Dauer. Vieles deutet darauf hin, dass die Ursachen, die zu dem
Wunder führten, ganz andere waren, als die, von denen seit über einem Jahrzehnt
die Rede ist.
«Vergleicht man die
Pisa-Ergebnisse Finnlands der Jahre 2003 und 2012, sieht man, dass das Land 25
Punkte eingebüsst hat. Das entspricht dem Lernerfolg eines ganzen Schuljahrs»,
sagt Christine Sälzer, nationale Pisa-Koordinatorin von der TU München. In
Mathematik liegt Finnland zwar noch immer über dem OECD-Durchschnitt, die
Fallhöhe ist jedoch bemerkenswert. Gabriel Heller Sahlgren von der London
School of Economics hat den Niedergang des finnischen Bildungswunders
untersucht. Im April veröffentlichte er seine Erkenntnisse beim Centre for
Policy Studies.
Sahlgren zeigt, dass das
finnische Schulsystem zum Zeitpunkt seines grossen Pisa-Erfolgs von Früchten
zehrte, die lange zuvor unter ganz anderen Bedingungen gesät worden waren. Die
Wahrheit ist, dass das System des «Lehrkoordinators» erst in den 90er-Jahren
eingeführt wurde. Bis dahin war der Frontalunterricht mit einer starken
autoritären Stellung des Lehrers das massgebliche Prinzip. «Historisch waren
finnische Schulen vergleichsweise hierarchisch aufgebaute Institutionen, die
eine Kultur des Gehorsams und der Autorität reflektierten, die in der
finnischen Gesellschaft viel länger massgeblich war als in anderen
nordeuropäischen Ländern», schreibt Sahlgren.
Hohe
Anerkennung
Finnlands Lehrer
geniessen in Umfragen noch heute enorme Anerkennung in der Bevölkerung. Das
liegt auch daran, dass nur die Besten eines Jahrgangs Lehrer werden dürfen.
Gleichzeitig zeigen Studien vergangener Jahrzehnte, dass diese Anerkennung
nichts mit Sympathie für die Pädagogen zu tun hat. Viele Schüler beschreiben
ihre Lehrer bis weit in die 90er-Jahre hinein als unnahbar und wenig
empathisch. Anfang 2007 – mitten in Finnlands Pisa-Hochphase – berichtete ein
Unicef-Report, dass in keinem anderen Land Kinder weniger gern zur Schule
gehen. Damals hatte man dafür keine Erklärung. Denn es konterkarierte das
vorherrschende Bild.
Finnlands Beispiel
zeigt: Die Leistungsschule und die Schule der Glücklichen – das scheint sich
auszuschliessen.
Kalkuliert man jedoch
ein, dass dieses System und seine aktuellen Lehrformen nicht unbedingt etwas
mit dem Schulklima, das über Jahrzehnte entsteht, und der entscheidenden Rolle
des Lehrers zu tun haben, wird das Ergebnis plausibel. Die Schüler nahmen
Schule und Lehrer offenbar noch immer als autoritär und dominierend wahr. Erst
seit der Jahrtausendwende änderte sich dies, das beweisen Studien. Gleichzeitig
ging die Leistung der Schüler zurück.
Bereits 1991, als das
alte zentralisierte, staatlich organisierte Schulsystem gerade mehr oder minder
abgeschafft war, übertrafen finnische 14-Jährige ihre Klassenkameraden in allen
anderen Ländern laut einer Untersuchung bei der Lesekompetenz. Genau dieses
Ergebnis wiederholten sie neun Jahre später bei Pisa 2000 in der gleichen
Disziplin. Dagegen fielen sie bei Pisa 2012 beim Lesen weit zurück. Offenbar
griffen im jüngsten Pisa-Jahrgang die Reformen, die in den 90ern angestossen
worden waren, und sie waren nicht zum Vorteil der Leistungsfähigkeit.
Nachwirken
des alten Systems
In der Bildungsforschung
spricht man davon, dass es mindestens 10 bis 15 Jahre dauert, bis Veränderungen
sichtbar werden. Die Erfolge waren demnach dem Nachwirken des alten Systems
geschuldet. Dennoch taten alle so, als hätte es in Finnland nie ein anderes als
das sichtbare Schulsystem gegeben. Die Forscher reagierten vielmehr mit Unverständnis,
als Finnland plötzlich sein scheinbar so hervorragendes System reformierte:
Gerade das längere gemeinsame Lernen wurde wieder aufgebrochen. Für
Förderschüler wurden Spezialklassen eingerichtet.
Da hatten andere das
finnische System bereits kopiert, Schweden etwa. «An den schwedischen
Erfahrungen sieht man, wie gefährlich es ist, kausale und dann auch noch
monokausale Schlussfolgerungen aus dem Pisa-Erfolg eines anderen Landes zu
ziehen», sagt Sälzer. Schweden hielt die Autonomie der Schulen für den entscheidenden
Indikator für erfolgreiche Bildungssysteme. Seither müssen schwedische Schulen
um Schüler aktiv werben. Die Folge war, dass ein Run auf gute Schulen einsetzte
und schlechte noch schlechter dastanden. Zudem fand eine starke soziale
Segregation statt. Die Leistung der Schweden wurde gleichzeitig mitnichten
besser, weil viele Schulen damit für sich warben, besonders viele gute Noten
und Abschlüsse zu vergeben. Dies drückte zwangsläufig das Niveau.
Top
durch Drill und Druck
Der finnische Erfolg im ersten
Pisa-Jahrzehnt ist gleichwohl keine Chimäre. Er ist real. Ebenso real wie der
Erfolg der asiatischen Staaten. Doch die waren aufgrund ihres auf Drill und
Druck fussenden Systems zur Nachahmung schlicht ungeeignet. Auch deshalb wurde
Finnland das Sehnsuchtsland europäischer Bildungsfans. Dabei haben oder besser
hatten die Finnen und die Asiaten doch mehr gemein, als man glauben könnte.
Autorität, Druck und Frontalunterricht – die Rezepte Chinas, Japans, Singapurs
– waren den Finnen, deren Lehrer ja nicht plötzlich pensioniert wurden, bis in
die 2000er-Jahre vertraut.
Oberflächlich
präsentierten sich die Schulen ganz anders – frei, antiautoritär und an
Gruppenarbeit orientiert. Man hatte sich ein Schulsystem zeigen lassen, dessen
Effekte auf die Leistungsfähigkeit die Finnen selbst noch nicht absehen konnten
und vor denen sie heute erschrecken. Was heisst das nun? Zurück zur autoritären
Schule? Zum strafenden Lehrer? Schluss mit Gruppenarbeit und
Gemeinschaftsschule?
Finnland hatte die
Reformen, die eine Abkehr von seinem leistungsfähigen Schulsystem bedeuteten,
natürlich nicht unternommen, um schlechter zu werden, sondern zeitgemässer.
Denn schulische Erziehung ist eben auch ein Spiegel gesellschaftlicher
Verhältnisse. In jeder Umfrage sagen Eltern heute, dass ihnen das
Leistungsprinzip nicht so wichtig sei wie der Spass am Lernen. Das Beispiel
Finnlands lehrt, dass beides vielleicht nicht geht: Spass an der Schule und
Topleistungen. Insofern könnte es gut sein, dass Finnlands Schüler heute zwar
schlechter, aber dafür glücklicher sind.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen