9. Juli 2015

Der Absturz Finnlands

Finnlands Schulen gelten seit der PISA-Studie als vorbildlich. Nun zeigt sich: Der Erfolg beruhte gar nicht auf modernen Lehrmethoden, sondern auf der autoritären Tradition.




Frontalunterricht und autoritäre Lehrpersonen sorgten für die guten Testresultate, Bild: Werner Bischof


Darum lesen finnische Schüler plötzlich schlechter, Tages Anzeiger, 9.7. von Thomas Vitzthum


Alle waren sie da. Gleich nachdem das Wunder geschehen war, kamen sie: die Bildungsexperten, Bildungspolitiker, Bildungserklärer und Bildungsverklärer. Sie alle sind in den letzten 15 Jahren mindestens einmal nach Finnland gereist. Das gehörte sich so, seitdem das Land in der ersten OECD-Bildungsstudie Pisa des Jahres 2000 den Spitzenplatz eingenommen und sich viele Nationen angesichts der miserablen Leistungen ihrer eigenen Schüler die Augen rieben. Auch in der Schweiz war man schockiert.
Man analysierte also die von staatlichen Vorgaben weitgehend unabhängigen finnischen Schulen, die so Wundersames vollbracht hatten. In denen es angeblich so gerecht, heimelig und egalitär zugeht. Wo Lehrer nicht vorn referieren und die Schüler protokollieren. Sondern wo Pädagogen sich als Organisatoren von Gruppenarbeit verstehen, die Schüler anregen, von anderen Schülern, zu lernen und wenig Hausaufgaben vergeben.
Der Absturz
Die schöne neue Schulwelt wurde bewundert und kopiert, weil sie dem Zeitgeist entsprach und erfolgreich schien. Doch sie ist offenbar ein Trugbild. Das finnische Wunder ist nicht von Dauer. Vieles deutet darauf hin, dass die Ursachen, die zu dem Wunder führten, ganz andere waren, als die, von denen seit über einem Jahrzehnt die Rede ist.
«Vergleicht man die Pisa-Ergebnisse Finnlands der Jahre 2003 und 2012, sieht man, dass das Land 25 Punkte eingebüsst hat. Das entspricht dem Lernerfolg eines ganzen Schuljahrs», sagt Christine Sälzer, nationale Pisa-Koordinatorin von der TU München. In Mathematik liegt Finnland zwar noch immer über dem OECD-Durchschnitt, die Fallhöhe ist jedoch bemerkenswert. Gabriel Heller Sahlgren von der London School of Economics hat den Niedergang des finnischen Bildungswunders untersucht. Im April veröffentlichte er seine Erkenntnisse beim Centre for Policy Studies.
Sahlgren zeigt, dass das finnische Schulsystem zum Zeitpunkt seines grossen Pisa-Erfolgs von Früchten zehrte, die lange zuvor unter ganz anderen Bedingungen gesät worden waren. Die Wahrheit ist, dass das System des «Lehrkoordinators» erst in den 90er-Jahren eingeführt wurde. Bis dahin war der Frontalunterricht mit einer starken autoritären Stellung des Lehrers das massgebliche Prinzip. «Historisch waren finnische Schulen vergleichsweise hierarchisch aufgebaute Institutionen, die eine Kultur des Gehorsams und der Autorität reflektierten, die in der finnischen Gesellschaft viel länger massgeblich war als in anderen nordeuropäischen Ländern», schreibt Sahlgren.
Hohe Anerkennung
Finnlands Lehrer geniessen in Umfragen noch heute enorme Anerkennung in der Bevölkerung. Das liegt auch daran, dass nur die Besten eines Jahrgangs Lehrer werden dürfen. Gleichzeitig zeigen Studien vergangener Jahrzehnte, dass diese Anerkennung nichts mit Sympathie für die Pädagogen zu tun hat. Viele Schüler beschreiben ihre Lehrer bis weit in die 90er-Jahre hinein als unnahbar und wenig empathisch. Anfang 2007 – mitten in Finnlands Pisa-Hochphase – berichtete ein Unicef-Report, dass in keinem anderen Land Kinder weniger gern zur Schule gehen. Damals hatte man dafür keine Erklärung. Denn es konterkarierte das vorherrschende Bild.
Finnlands Beispiel zeigt: Die Leistungsschule und die Schule der Glücklichen – das scheint sich auszuschliessen.
Kalkuliert man jedoch ein, dass dieses System und seine aktuellen Lehrformen nicht unbedingt etwas mit dem Schulklima, das über Jahrzehnte entsteht, und der entscheidenden Rolle des Lehrers zu tun haben, wird das Ergebnis plausibel. Die Schüler nahmen Schule und Lehrer offenbar noch immer als autoritär und dominierend wahr. Erst seit der Jahrtausendwende änderte sich dies, das beweisen Studien. Gleichzeitig ging die Leistung der Schüler zurück.
Bereits 1991, als das alte zentralisierte, staatlich organisierte Schulsystem gerade mehr oder minder abgeschafft war, übertrafen finnische 14-Jährige ihre Klassenkameraden in allen anderen Ländern laut einer Untersuchung bei der Lesekompetenz. Genau dieses Ergebnis wiederholten sie neun Jahre später bei Pisa 2000 in der gleichen Disziplin. Dagegen fielen sie bei Pisa 2012 beim Lesen weit zurück. Offenbar griffen im jüngsten Pisa-Jahrgang die Reformen, die in den 90ern angestossen worden waren, und sie waren nicht zum Vorteil der Leistungsfähigkeit.
Nachwirken des alten Systems
In der Bildungsforschung spricht man davon, dass es mindestens 10 bis 15 Jahre dauert, bis Veränderungen sichtbar werden. Die Erfolge waren demnach dem Nachwirken des alten Systems geschuldet. Dennoch taten alle so, als hätte es in Finnland nie ein anderes als das sichtbare Schulsystem gegeben. Die Forscher reagierten vielmehr mit Unverständnis, als Finnland plötzlich sein scheinbar so hervorragendes System reformierte: Gerade das längere gemeinsame Lernen wurde wieder aufgebrochen. Für Förderschüler wurden Spezialklassen eingerichtet.
Da hatten andere das finnische System bereits kopiert, Schweden etwa. «An den schwedischen Erfahrungen sieht man, wie gefährlich es ist, kausale und dann auch noch monokausale Schlussfolgerungen aus dem Pisa-Erfolg eines anderen Landes zu ziehen», sagt Sälzer. Schweden hielt die Autonomie der Schulen für den entscheidenden Indikator für erfolgreiche Bildungssysteme. Seither müssen schwedische Schulen um Schüler aktiv werben. Die Folge war, dass ein Run auf gute Schulen einsetzte und schlechte noch schlechter dastanden. Zudem fand eine starke soziale Segregation statt. Die Leistung der Schweden wurde gleichzeitig mitnichten besser, weil viele Schulen damit für sich warben, besonders viele gute Noten und Abschlüsse zu vergeben. Dies drückte zwangsläufig das Niveau.
Top durch Drill und Druck
Der finnische Erfolg im ersten Pisa-Jahrzehnt ist gleichwohl keine Chimäre. Er ist real. Ebenso real wie der Erfolg der asiatischen Staaten. Doch die waren aufgrund ihres auf Drill und Druck fussenden Systems zur Nachahmung schlicht ungeeignet. Auch deshalb wurde Finnland das Sehnsuchtsland europäischer Bildungsfans. Dabei haben oder besser hatten die Finnen und die Asiaten doch mehr gemein, als man glauben könnte. Autorität, Druck und Frontalunterricht – die Rezepte Chinas, Japans, Singapurs – waren den Finnen, deren Lehrer ja nicht plötzlich pensioniert wurden, bis in die 2000er-Jahre vertraut.
Oberflächlich präsentierten sich die Schulen ganz anders – frei, antiautoritär und an Gruppenarbeit orientiert. Man hatte sich ein Schulsystem zeigen lassen, dessen Effekte auf die Leistungsfähigkeit die Finnen selbst noch nicht absehen konnten und vor denen sie heute erschrecken. Was heisst das nun? Zurück zur autoritären Schule? Zum strafenden Lehrer? Schluss mit Gruppenarbeit und Gemeinschaftsschule?
Finnland hatte die Reformen, die eine Abkehr von seinem leistungsfähigen Schulsystem bedeuteten, natürlich nicht unternommen, um schlechter zu werden, sondern zeitgemässer. Denn schulische Erziehung ist eben auch ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. In jeder Umfrage sagen Eltern heute, dass ihnen das Leistungsprinzip nicht so wichtig sei wie der Spass am Lernen. Das Beispiel Finnlands lehrt, dass beides vielleicht nicht geht: Spass an der Schule und Topleistungen. Insofern könnte es gut sein, dass Finnlands Schüler heute zwar schlechter, aber dafür glücklicher sind.


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