13. Juli 2015

Ausbildung ist etwas Ganzheitliches

Der schwedische Forscher Gabriel Heller Sahlgren fordert eine Rückbesinnung auf den autoritären Unterricht







Sahlgren löste mit seiner Studie heftige Reaktionen aus, Bild: Tages Anzeiger



"Migrationskinder profitieren von einer konservativen Lernmethode", Tages Anzeiger, 12.7. von Jean-Martin Büttner



Sie sind 29 Jahre alt, haben Sie schon Kinder?
Nein, warum?

Weil uns wundernimmt, ob Sie zum Tiger Dad werden, zum superstrengen Drillmeister nach asiatischem Vorbild.
(lacht) Vielleicht. Um es zu wissen, muss ich die Kinder erst haben, oder? Aber ich kann mir schon vorstellen, dass ich ziemlich streng auf der Erziehung bestehen werde.

Diese Haltung spiegelt sich in Ihrer Studie über das finnische Schulsystem. Die früheren, hohen Pisa-Werte seiner Volksschulkinder hätten nicht mit modernen Lehrmethoden zu tun, sondern seien die Spätfolgen einer traditionellen, autoritären Haltung. Darum sei Finnland in den Pisa-Umfragen auch zurückgefallen. Ihre Studie hat heftige Reaktionen ausgelöst, haben Sie damit gerechnet?
Nicht in diesem Ausmass, obwohl ich zugebe, dass ich eine kontroverse Ansicht vertrete: Ich hinterfrage die gängige Meinung, die wir in den letzten 15 Jahren über die finnische Erziehung gehört haben.

Auf einen Satz reduziert, behauptet Ihre Studie: Die Kinder werden in der Schule entweder glücklich oder gescheit.
Es kann sehr wohl gescheite und glückliche Schüler geben. Was nicht zuletzt von der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern abhängt.

Ein strenger, aber leidenschaftlicher Lehrer ist also besser als ein Lehrer, der nur streng ist?
Selbstverständlich. Leidenschaft und Autorität schliessen sich ja nicht aus.

Dennoch gewichten Sie das Glücklichsein der Schüler weniger als ihre Leistung.
Das ist nicht meine Gewichtung, sondern es sind die Schlüsse aus meiner Untersuchung. Während langer Zeit funktionierte das finnische Schulsystem konservativ: autoritäre Lehrer, Frontalunterricht, hierarchisches Erziehungsmodell, andersherum gesagt: wenig Einfluss der Schüler, kaum Lernen in Gruppen, keine Mitsprache an der Schule. Die Schülerinnen und Schüler mochten ihre Lehrer nicht, sie fühlten sich unglücklich an der Schule. Aber sie erbrachten eine hohe Leistung und erreichten sehr gute Resultate. Die übrigen nordischen Länder, also Island, Norwegen, Dänemark und Schweden, bevorzugten ein progressives Schulsystem. Ihre Schüler fühlten sich wohler, schnitten bei Vergleichstests aber schlechter ab als Finnland. Das gilt sogar für die schwedische Minderheit in Finnland, die früher die reiche, gebildete Elite stellte. Heute, da Finnland sich Schweden angeglichen hat, sind die Pisa-Werte seiner Schüler gesunken.

Die Wirkung der Erziehung hängt von vielen Faktoren ab.
Stimmt.

Trotzdem schreiben Sie in Ihrer Studie, Schulerfolg sei eine Funktion der Lehrmethode.
Ich habe einen historischen Vergleich gezogen, Forschungsergebnisse zitiert und daraus meine Schlüsse gezogen. Selbstverständlich beeinflussen viele Faktoren die Erziehung, wie könnte es anders sein? Soziale Einflüsse gehören dazu, aber auch kulturelle. Zum Beispiel war Finnland lange Zeit viel ärmer als seine Nachbarländer, dafür galt der Lehrer als Autorität viel mehr. Das alles beeinflusste das Lernen der Schüler, weil es dermassen hoch gewichtet wurde. Immer wenn der Wohlstand in einem Land zunimmt, möchten die Eltern, dass ihre Kinder es besser haben. Das hat allerdings zur Folge, dass die Ansprüche sinken.

Als die finnischen Pisa-Werte zurückfielen, passierte dasselbe in Schweden mit seinem ganz anderen Unterrichtsstil. Könnte es nicht sein, dass solche Schwankungen temporär sind und deshalb wenig aussagekräftig?
Das ist natürlich richtig, aber gilt das nicht immer? Meine Studie liefert mehrere Belege für meine These, wenn auch keinen abschliessenden Beweis. Aus dem Vergleich einer Pisa-Studie lassen sich keine Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung beweisen, ohne die Unterschiede zwischen den Ländern zu berücksichtigen. Ausserdem sind die Pisa-Werte nicht der einzige Beleg für schulische Leistung. Sie sind auch der Beleg für die Begabung, Pisa-Tests zu bestehen.

Ohnehin liegt Finnland im europäischen Vergleich immer noch weit vorne.
Ja, man darf das Resultat nicht überbewerten. Aber kein anderes nordeuropäisches Land hat zwischen 2003 und 2012 so viele Punkte eingebüsst wie Finnland, und das muss doch zu denken geben.

Die Erfahrung lehrt, dass es für einen schlechten Lehrer einfacher ist, autoritär aufzutreten und Frontalunterricht zu erteilen. Unterricht per Teilnahme, starkes Eingehen auf die Schülerinnen und Schüler, interaktives Lehren stellen enorme Ansprüche an den Unterrichtenden.
Es kann durchaus sein, dass sich das auf die Lernresultate auswirkt. Dennoch zögere ich, Ihnen recht zu geben. Ich glaube nämlich nicht, dass diese Prinzipien so konsequent umgesetzt werden, wie progressive Pädagogen das behaupten. Es ist ungemein schwierig für einen Lehrer, sich der ganzen Klasse und gleichzeitig dem einzelnen Schüler zu widmen. Beleg dafür ist für mich, dass Migrationskinder von einer konservativen Lehrmethode mehr profitieren.

Also sind die modernen Erziehungsmethoden schlecht für die Schüler?
Das würde ich niemals sagen. Ich nehme sehr wohl an, dass sie die Kreativität an den Schulen fördert, die soziale Kompetenz verstärkt, das kritische Denken, das gegenseitige Vertrauen, und das sind wichtige Eigenschaften. Aber diese Kinder werden schlechter abschliessen in Mathematik, Chemie, Physik und Lesefertigkeit. Also haben wir einen Zielkonflikt zwischen Kompetenz und kritischem Denken.

Der Drill, mit dem asiatische Eltern ihre Kinder dressieren, kann doch für Europa kein Ideal sein.
Natürlich kann es nicht das einzige Ideal sein, aber ich denke, dass wir etwas mehr davon brauchen.

Was spricht dagegen, naturwissenschaftliche Fächer auf die konservative Art zu unterrichten, Sprachen oder Geschichte mit der modernen?
Gar nichts.

Sie haben Ihre Studie bei einer konservativen, von Margaret Thatcher mitbegründeten Denkfabrik publiziert. Sie haben doch eine politische Agenda.
Was schon dagegen spricht: Ich tendiere eher gegen den staatlichen Zentralismus. Meine Studie zeigt aber, dass die zentralistisch geführten finnischen Schulen bessere Resultate erbrachten als die autonomeren Schulen von heute. Mir geht es nicht um Politik, sondern um Wirkung. Ich und mein Institut wollen herausfinden, wann eine marktorientierte Erziehung bessere Resultate bringt und wann die staatliche Förderung mehr nützt.

Ihre Studie, schreibt der finnische Erziehungsfachmann David Marsh, sei sehr von Politik, Macht und Konservatismus geprägt und wenig von der Erziehung.
Er muss das sagen, weil er meine Resultate weder entkräften noch widerlegen kann. Und weil er selber das moderne finnische Erziehungssystem im Ausland vertritt, das ich in meiner Studie kritisiere. Wenn ich eine politische Agenda haben soll, dann hat er sie erst recht. Statt dass wir uns mit virtuellem Dreck bewerfen, sollten wir über die Sache diskutieren, um die es geht.

Lassen sich die pädagogischen Erfahrungen eines Landes problemlos auf andere übertragen?
Nein, man muss vorsichtig sein. Die Unterschiede sind zu gross – wirtschaftlich, sozial, historisch, kulturell.

Es fällt auf, dass der Lehrerberuf immer stärker abgewertet wird.
Stimmt, und warum ist das so? Ich vermute, dass das mit der Einstellung zum Lernen zu tun hat, die ebenfalls abgewertet wird. Zumindest in den meisten westlichen Ländern während der letzten zwanzig Jahre.

Von der SVP in der Schweiz kommt die Forderung nach einem Numerus clausus für Geisteswissenschaften. Was halten Sie davon?
Selbstverständlich braucht eine Gesellschaft nicht nur Ingenieure, sondern auch Psychologen und Soziologen. Meine Haltung ist nur, dass wir uns in Europa in den letzten 15 Jahren etwas zu sehr für die Kreativität und etwas zu wenig für die Leistung interessiert haben.


Geht es Ihnen nicht vor allem darum, die Ausbildung der Schüler besser auf die Erwartungen der Wirtschaft auszurichten?
Es gibt viele Belege dafür, dass eine bessere Ausbildung eine erfolgreichere Wirtschaft zur Folge hat. Aber Ausbildung ist etwas Ganzheitliches. Nehmen Sie die intellektuelle Elite von Silicon Valley: Ihre Vertreter waren sehr gut an der Schule – und sie sind ausgesprochen kreativ in dem, was sie erschaffen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen