"Ein angeblich im Namen "der Wirtschaft" auf Kurs gebrachtes Bildungssystem wird zunehmend dysfunktional gerade für die Bedürfnisse der Wirtschaft selbst", Bild: Südtiroler Wirtschaftszeitung
Kompetent, aber denkfaul? Südtiroler Wirtschaftszeitung, 12.6. von Hartmut Volk
SWZ: Herr
Professor Krautz, weshalb ist die Zuschreibung ‚kompetent‘ für Sie mit Vorsicht
zu genie- ßen?
Jochen Krautz: Weil
sie nicht hält, was sie oberflächlich verspricht. Jeder will heute einen
„kompetenten“ Menschen als Ansprechpartner. Ob Arzt, Bankberater,
KFZ-Mechaniker oder Verkäufer, alle sollen sie kompetent sein. Was soll also
schlecht daran sein, wenn bereits die Schüler auf Kompetenz hin unterrichtet
werden, fragt sich der Laie. Nun, schlecht daran ist, dass das in den Schulen
und Universitäten eingeführte Kompetenzkonzept massiv das Bildungsverständnis
verändert. Bildung zielte auf Selbstständigkeit im Denken auf der Grundlage von
Wissen und Können. Die Vermittlung von Kompetenzen hingegen zielt auf
vordergründiges Funktionieren, auf Anpassungsbereitschaft an globalen Wandel
beziehungsweise auf das, was bestimmte Kreise dafür halten. Das ist jedoch hoch
problematisch, zumal aus den Betrieben zunehmend die Klage kommt, dass dieses
selbstständige Denken faktisch ab- anstatt zunimmt, wie es die Verfechter des
Kompetenzkonzeptes versprechen.
Schauen wir
inhaltlich noch genauer hin: Was macht Ihnen den Kompetenzbegriff in der
grassierenden Verwendung so suspekt?
Den Psychologen
zufolge, die den Kompetenzbegriff in seiner aktuellen Fassung erfunden haben,
geht es dabei um kognitive Fähigkeiten zur anwendungsbezogenen Problemlösung.
Damit fällt ein großer Teil dessen, worum es in Schule gehen sollte, schon
einmal unter den Tisch. Ziel dieser Verkürzung war es schlicht, Bildung messbar
zu machen. Kompetenzen lassen sich nun zwar messen, das aber nur unter
Vernachlässigung aller anderen Dimensionen von Bildung. Da Kompetenzen als
funktionale Fähigkeiten prinzipiell inhaltsneutral sind, wird zunehmend
gleichgültig, woran ich sie erwerbe. Lesekompetenz kann ich an einem
anspruchsvollen Gedicht, aber auch an WhatsApp-Nachrichten üben. So lange ist
es noch gar nicht her, da galt die Auffassung, dass Goethe oder Schiller noch
etwas mehr zu bieten haben als SMS-Texte, etwa Fragen nach Glück und
Verantwortung, nach Lebenssinn und Empfinden für eine ästhetische Sprachform.
Und genau das ist kein überflüssiges Brimborium, sondern hilft dabei, einen
eigenen, verantwortlichen Ort in der Welt zu finden. Quid ad me? Was geht mich
das an? Das war einmal eine didaktische Leitfrage: Wie können junge Menschen
von etwas angesprochen werden? Wie können sie zu einem Verstehen, Wissen und
Können kommen, das ihnen hilft, selbstbestimmt und verantwortlich durchs Leben
zu gehen? Von all dem weiß Kompetenz nichts.
Mit anderen Worten,
Kompetenzorientierung senkt das Bildungsniveau?
Das ist das Problem!
Und das wird in zunehmendem Maße erkannt und beklagt. Hinzu kommt: Kompetenzen
sind auch ethisch neutral. Mit Rechenkompetenz kann ich Finanzmanipulationen
berechnen, mit Sozialkompetenz auch eine Mafiagang führen. Bildung und
Erziehung fallen im kompetenzorientierten Unterricht zunehmend auseinander. Mit
der Folge, dass es nun für Sozialkompetenz bereits Sondertrainings gibt.
Lehrpläne werden zur aberwitzigen Ansammlung von Teilkompetenzen, nach denen
man nicht mehr unterrichten kann. Auch diese Klage erfahrener, nicht von
Ideologie vernebelter Pädagogen ist zutreffend. Zu Recht weisen sie darauf hin,
dass mit der Kompetenzorientierung die sachliche Logik der Fächer und damit
auch die Struktur des Denkens verloren geht, dass Schule so zum Trainingslager
für segmentierte Teilfertigkeiten wird und nicht mehr der Ort ist, an dem über
relevante Inhalte und Fragen gemeinsam nachgedacht wird. Bildung zielt aber,
wie gesagt, auf eigenständiges Verstehen, nicht auf das Abarbeiten und
Antrainieren von funktionalen Fertigkeiten. Laut OECD, die für den PISA-Test und
dieses Kompetenzkonzept verantwortlich ist, geht es ganz ausdrücklich nicht um
geistige Selbstständigkeit, sondern um „Anpassungsfähigkeit“ – wörtlich!
Wer auf Kompetenzen
hin getrimmt ist, hat also einen blinden Fleck beim kritischen Urteilsvermögen?
Keine Frage, genau
das ist zunehmend zu beobachten. Das vollzieht sich subtil, aber deutlich. Und
die Kritik daran ist auch nicht gegen die jungen Menschen gerichtet, die so
verbildet wurden. Aber junge Menschen lernen zunehmend zu funktionieren und das
Gegebene nicht zu hinterfragen. Damit sinkt zugleich das Interesse an den
Dingen. Man studiert dann, um fertig zu werden. Die Sache aber, das eigene
Fach, das interessiert einen eigentlich nicht mehr. Fragen nach Wahrheit und
Geltung, die Unterscheidung von Meinung und Argument, die Reflexion von
Methoden werden kaum mehr angenommen, weil sie in dieser funktionalistischen
Welt überflüssig erscheinen. Auch auf der Ebene der Berufsausbildung geschieht
ähnliches. Handwerker müssen heute komplexe technische und organisatorische
Zusammenhänge verstehen, beurteilen und sinnvoll ausführen. Dazu braucht es
Fachkenntnis, Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit. Unterhalten Sie sich
heute mal mit betrieblichen Ausbildern, mit gestandenen Handwerksmeistern oder
völlig genervten Altgesellen. Wenn die tief Luft holen und von den
haarsträubenden Defiziten und Fehlleistungen ihrer Auszubildenden berichten,
fällt die schöne neue Welt der „Kompetenzen“ ganz schnell wie ein angestochener
Luftballon in sich zusammen.
Wem verdanken wir
eigentlich dieses augenscheinlich nur als Entwertungsprozess von tatsächlicher
Bildung im weitesten Sinn zu verstehende Hochjubeln von Kompetenzen?
Nun, ich habe die
OECD schon erwähnt. Sie hat mit dem PISA-Test entscheidend dazu beigetragen.
Der testet nämlich nicht Bildung, sondern eben Kompetenzen. Seit dem
sogenannten „PISA-Schock“ wird aber nun das ganze Bildungssystem auf diese
Kompetenzen umgestellt, damit alle bei PISA besser werden. Was damit verbunden
ist, wurde aber nicht diskutiert. Der ganze Vorgang zeigt klassische Elemente
von Propaganda. Man inszeniert ein Ereignis wie diesen PISA-Schock. PISA
testest aber nach eigener Aussage nicht das, was in unseren Lehrplänen steht,
sondern das eigene Kompetenzkonzept. PISA hat also eigentlich wenig oder nur
zufällige Aussagekraft über das, was unsere Schüler können. Gleichwohl wurde
das vermeintlich schlechte Abschneiden beispielsweise Deutschlands aber
genutzt, um nun radikal Reformen anzustoßen, wozu die Politik gerne auf die
fertigen Konzepte der OECD zurückgriff. Während die PISA-Tests also eine bloße
Scheinwelt angeblich „objektiver“ Aussagen über den Bildungsstand inszenierten,
waren die Reaktionen darauf sehr wohl Realität. Man nennt das „governance by
comparison“, Steuerung durch Vergleich. Die OECD weiß, dass sie eigentlich
keinen legitimen Einfluss auf die nationalen Bildungssysteme hat und nutzt
diese Taktik nach eigenem Bekunden, um die Souveränität der Staaten zu
unterlaufen. Solche „soft governance“, Techniken sanfter Steuerung, sind undemokratische,
letztlich manipulative Methoden, mit denen ein neues Leitbild von Bildung
durchgesetzt wird, das einer plumpen ökonomistischen Logik folgt.
Bitte, der harte
Vorwurf verlangt eine klare Begründung!
In aller Kürze:
Vordergründig könnte man meinen, die Kompetenzorientierung bedient die
Interessen „der Wirtschaft“, weil die OECD als Wirtschaftsorganisation
auftritt. Zudem sind zahlreiche Konzern-Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung
sowie Unternehmensverbände etc. in den Prozess involviert. Tatsächlich
funktional sind so ausgebildete künftige Arbeitnehmer jedoch nur für globale
Konzerne, die ihr „Humankapital“ weltweit nach standarisiertem Format gefertigt
vorfinden wollen. Unternehmen also, in denen streng nach Guidelines gearbeitet
wird, wenig selbstständig gedacht werden soll, man aber für die permanenten
Umstrukturierungen auch ein bisschen „Kreativität“ und viel „Flexibilität“
benötigt. Für alle anderen Unternehmen ist das Unsinn. Und deshalb beklagen
sich ja auch das produzierende Gewerbe, Mittelstand und Handwerk zunehmend
lautstark über das Niveau der Absolventen von Schulen und Hochschulen.
Aber legt sich die
Wirtschaft in einer Zeit, in der ein umfassendes Denken in Interdependenzen und
Wirkungszusammenhängen betriebliche Überlebensvoraussetzung ist, mit dem
schmalspurigen Kompetenzkonzept nicht ein Kuckucksei ins Nest?
Und was für eins! Das
ist ja die bittere Ironie der Geschichte: Ein angeblich im Namen „der
Wirtschaft“ auf Kurs gebrachtes Bildungssystem wird zunehmend dysfunktional
gerade für die Bedürfnisse der Wirtschaft selbst. Man schießt sich in der Tat
ins eigene Knie, schreit dann laut auf und bemerkt nicht, dass man den Revolver
selbst in der Hand hält. Zu lange hat die Wirtschaft den Bildungsökonomen in
den Bildungsabteilungen der eigenen Interessenverbände vertraut, die diesen
Unsinn seit 15 Jahren in einer Flut von Gutachten und Expertisen propagieren.
Ein Beispiel ist etwa der „Aktionsrat der bayerischen Wirtschaft“, der sich mit
radikalen Reformforderungen medienwirksam seit Jahren weit aus dem Fenster
lehnt. Dass nicht nur die bayerische Wirtschaft dabei abstürzt, kommt erst
langsam zu Bewusstsein. Eberhard von Kuenheim, lange Jahre Chef von BMW, hat
etwa darauf aufmerksam gemacht. Es wird Zeit, dass sich gerade die Wirtschaft überlegt,
was sie ernsthaft will: geistige Eunuchen oder demokratiefähige Bürger, die
etwas wissen und können. In weiterer Perspektive wird man zudem fragen müssen,
was dieser Kulturkampf, den die OECD weltweit führt, eigentlich soll. Wem dient
die geistige Verarmung und kulturelle Entwurzelung ganzer Länder? Wem dient es,
Volkswirtschaften zu ruinieren? Den Menschen, ihrer Kultur, der Demokratie und
eben auch einer menschwürdigen Wirtschaft sicher nicht. Ich fürchte auch, dass
es dabei um mehr geht, als die Privatisierung einiger profitabler Bereiche im
Bildungswesen. Das sind – zumindest im deutschsprachigen Raum – Nebeneffekte
für daran interessierte Konzerne. Letztlich scheint es um die Steuerbarkeit und
Steuerung von Menschen zu gehen, indem man ihnen das Denken abgewöhnt.
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