20. Juni 2015

Über die Gefahren einseitiger Kompetenzförderung

Früher beherrschte man sich Fach, heute ist man kompetent. Der Begriff "Kompetenz" hat Karriere gemacht. Wer kompetent ist, verfügt über Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Aber das stimmt nicht, sagt der Pädagoge Jochen Krautz.



"Ein angeblich im Namen "der Wirtschaft" auf Kurs gebrachtes Bildungssystem wird zunehmend dysfunktional gerade für die Bedürfnisse der Wirtschaft selbst", Bild: Südtiroler Wirtschaftszeitung

Kompetent, aber denkfaul? Südtiroler Wirtschaftszeitung, 12.6. von Hartmut Volk



SWZ: Herr Professor Krautz, weshalb ist die Zuschreibung ‚kompetent‘ für Sie mit Vorsicht zu genie- ßen?

Jochen Krautz: Weil sie nicht hält, was sie oberflächlich verspricht. Jeder will heute einen „kompetenten“ Menschen als Ansprechpartner. Ob Arzt, Bankberater, KFZ-Mechaniker oder Verkäufer, alle sollen sie kompetent sein. Was soll also schlecht daran sein, wenn bereits die Schüler auf Kompetenz hin unterrichtet werden, fragt sich der Laie. Nun, schlecht daran ist, dass das in den Schulen und Universitäten eingeführte Kompetenzkonzept massiv das Bildungsverständnis verändert. Bildung zielte auf Selbstständigkeit im Denken auf der Grundlage von Wissen und Können. Die Vermittlung von Kompetenzen hingegen zielt auf vordergründiges Funktionieren, auf Anpassungsbereitschaft an globalen Wandel beziehungsweise auf das, was bestimmte Kreise dafür halten. Das ist jedoch hoch problematisch, zumal aus den Betrieben zunehmend die Klage kommt, dass dieses selbstständige Denken faktisch ab- anstatt zunimmt, wie es die Verfechter des Kompetenzkonzeptes versprechen.

Schauen wir inhaltlich noch genauer hin: Was macht Ihnen den Kompetenzbegriff in der grassierenden Verwendung so suspekt?
Den Psychologen zufolge, die den Kompetenzbegriff in seiner aktuellen Fassung erfunden haben, geht es dabei um kognitive Fähigkeiten zur anwendungsbezogenen Problemlösung. Damit fällt ein großer Teil dessen, worum es in Schule gehen sollte, schon einmal unter den Tisch. Ziel dieser Verkürzung war es schlicht, Bildung messbar zu machen. Kompetenzen lassen sich nun zwar messen, das aber nur unter Vernachlässigung aller anderen Dimensionen von Bildung. Da Kompetenzen als funktionale Fähigkeiten prinzipiell inhaltsneutral sind, wird zunehmend gleichgültig, woran ich sie erwerbe. Lesekompetenz kann ich an einem anspruchsvollen Gedicht, aber auch an WhatsApp-Nachrichten üben. So lange ist es noch gar nicht her, da galt die Auffassung, dass Goethe oder Schiller noch etwas mehr zu bieten haben als SMS-Texte, etwa Fragen nach Glück und Verantwortung, nach Lebenssinn und Empfinden für eine ästhetische Sprachform. Und genau das ist kein überflüssiges Brimborium, sondern hilft dabei, einen eigenen, verantwortlichen Ort in der Welt zu finden. Quid ad me? Was geht mich das an? Das war einmal eine didaktische Leitfrage: Wie können junge Menschen von etwas angesprochen werden? Wie können sie zu einem Verstehen, Wissen und Können kommen, das ihnen hilft, selbstbestimmt und verantwortlich durchs Leben zu gehen? Von all dem weiß Kompetenz nichts.

Mit anderen Worten, Kompetenzorientierung senkt das Bildungsniveau?
Das ist das Problem! Und das wird in zunehmendem Maße erkannt und beklagt. Hinzu kommt: Kompetenzen sind auch ethisch neutral. Mit Rechenkompetenz kann ich Finanzmanipulationen berechnen, mit Sozialkompetenz auch eine Mafiagang führen. Bildung und Erziehung fallen im kompetenzorientierten Unterricht zunehmend auseinander. Mit der Folge, dass es nun für Sozialkompetenz bereits Sondertrainings gibt. Lehrpläne werden zur aberwitzigen Ansammlung von Teilkompetenzen, nach denen man nicht mehr unterrichten kann. Auch diese Klage erfahrener, nicht von Ideologie vernebelter Pädagogen ist zutreffend. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass mit der Kompetenzorientierung die sachliche Logik der Fächer und damit auch die Struktur des Denkens verloren geht, dass Schule so zum Trainingslager für segmentierte Teilfertigkeiten wird und nicht mehr der Ort ist, an dem über relevante Inhalte und Fragen gemeinsam nachgedacht wird. Bildung zielt aber, wie gesagt, auf eigenständiges Verstehen, nicht auf das Abarbeiten und Antrainieren von funktionalen Fertigkeiten. Laut OECD, die für den PISA-Test und dieses Kompetenzkonzept verantwortlich ist, geht es ganz ausdrücklich nicht um geistige Selbstständigkeit, sondern um „Anpassungsfähigkeit“ – wörtlich!

Wer auf Kompetenzen hin getrimmt ist, hat also einen blinden Fleck beim kritischen Urteilsvermögen?
Keine Frage, genau das ist zunehmend zu beobachten. Das vollzieht sich subtil, aber deutlich. Und die Kritik daran ist auch nicht gegen die jungen Menschen gerichtet, die so verbildet wurden. Aber junge Menschen lernen zunehmend zu funktionieren und das Gegebene nicht zu hinterfragen. Damit sinkt zugleich das Interesse an den Dingen. Man studiert dann, um fertig zu werden. Die Sache aber, das eigene Fach, das interessiert einen eigentlich nicht mehr. Fragen nach Wahrheit und Geltung, die Unterscheidung von Meinung und Argument, die Reflexion von Methoden werden kaum mehr angenommen, weil sie in dieser funktionalistischen Welt überflüssig erscheinen. Auch auf der Ebene der Berufsausbildung geschieht ähnliches. Handwerker müssen heute komplexe technische und organisatorische Zusammenhänge verstehen, beurteilen und sinnvoll ausführen. Dazu braucht es Fachkenntnis, Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit. Unterhalten Sie sich heute mal mit betrieblichen Ausbildern, mit gestandenen Handwerksmeistern oder völlig genervten Altgesellen. Wenn die tief Luft holen und von den haarsträubenden Defiziten und Fehlleistungen ihrer Auszubildenden berichten, fällt die schöne neue Welt der „Kompetenzen“ ganz schnell wie ein angestochener Luftballon in sich zusammen.

Wem verdanken wir eigentlich dieses augenscheinlich nur als Entwertungsprozess von tatsächlicher Bildung im weitesten Sinn zu verstehende Hochjubeln von Kompetenzen?
Nun, ich habe die OECD schon erwähnt. Sie hat mit dem PISA-Test entscheidend dazu beigetragen. Der testet nämlich nicht Bildung, sondern eben Kompetenzen. Seit dem sogenannten „PISA-Schock“ wird aber nun das ganze Bildungssystem auf diese Kompetenzen umgestellt, damit alle bei PISA besser werden. Was damit verbunden ist, wurde aber nicht diskutiert. Der ganze Vorgang zeigt klassische Elemente von Propaganda. Man inszeniert ein Ereignis wie diesen PISA-Schock. PISA testest aber nach eigener Aussage nicht das, was in unseren Lehrplänen steht, sondern das eigene Kompetenzkonzept. PISA hat also eigentlich wenig oder nur zufällige Aussagekraft über das, was unsere Schüler können. Gleichwohl wurde das vermeintlich schlechte Abschneiden beispielsweise Deutschlands aber genutzt, um nun radikal Reformen anzustoßen, wozu die Politik gerne auf die fertigen Konzepte der OECD zurückgriff. Während die PISA-Tests also eine bloße Scheinwelt angeblich „objektiver“ Aussagen über den Bildungsstand inszenierten, waren die Reaktionen darauf sehr wohl Realität. Man nennt das „governance by comparison“, Steuerung durch Vergleich. Die OECD weiß, dass sie eigentlich keinen legitimen Einfluss auf die nationalen Bildungssysteme hat und nutzt diese Taktik nach eigenem Bekunden, um die Souveränität der Staaten zu unterlaufen. Solche „soft governance“, Techniken sanfter Steuerung, sind undemokratische, letztlich manipulative Methoden, mit denen ein neues Leitbild von Bildung durchgesetzt wird, das einer plumpen ökonomistischen Logik folgt.

Bitte, der harte Vorwurf verlangt eine klare Begründung!
In aller Kürze: Vordergründig könnte man meinen, die Kompetenzorientierung bedient die Interessen „der Wirtschaft“, weil die OECD als Wirtschaftsorganisation auftritt. Zudem sind zahlreiche Konzern-Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung sowie Unternehmensverbände etc. in den Prozess involviert. Tatsächlich funktional sind so ausgebildete künftige Arbeitnehmer jedoch nur für globale Konzerne, die ihr „Humankapital“ weltweit nach standarisiertem Format gefertigt vorfinden wollen. Unternehmen also, in denen streng nach Guidelines gearbeitet wird, wenig selbstständig gedacht werden soll, man aber für die permanenten Umstrukturierungen auch ein bisschen „Kreativität“ und viel „Flexibilität“ benötigt. Für alle anderen Unternehmen ist das Unsinn. Und deshalb beklagen sich ja auch das produzierende Gewerbe, Mittelstand und Handwerk zunehmend lautstark über das Niveau der Absolventen von Schulen und Hochschulen.

Aber legt sich die Wirtschaft in einer Zeit, in der ein umfassendes Denken in Interdependenzen und Wirkungszusammenhängen betriebliche Überlebensvoraussetzung ist, mit dem schmalspurigen Kompetenzkonzept nicht ein Kuckucksei ins Nest?

Und was für eins! Das ist ja die bittere Ironie der Geschichte: Ein angeblich im Namen „der Wirtschaft“ auf Kurs gebrachtes Bildungssystem wird zunehmend dysfunktional gerade für die Bedürfnisse der Wirtschaft selbst. Man schießt sich in der Tat ins eigene Knie, schreit dann laut auf und bemerkt nicht, dass man den Revolver selbst in der Hand hält. Zu lange hat die Wirtschaft den Bildungsökonomen in den Bildungsabteilungen der eigenen Interessenverbände vertraut, die diesen Unsinn seit 15 Jahren in einer Flut von Gutachten und Expertisen propagieren. Ein Beispiel ist etwa der „Aktionsrat der bayerischen Wirtschaft“, der sich mit radikalen Reformforderungen medienwirksam seit Jahren weit aus dem Fenster lehnt. Dass nicht nur die bayerische Wirtschaft dabei abstürzt, kommt erst langsam zu Bewusstsein. Eberhard von Kuenheim, lange Jahre Chef von BMW, hat etwa darauf aufmerksam gemacht. Es wird Zeit, dass sich gerade die Wirtschaft überlegt, was sie ernsthaft will: geistige Eunuchen oder demokratiefähige Bürger, die etwas wissen und können. In weiterer Perspektive wird man zudem fragen müssen, was dieser Kulturkampf, den die OECD weltweit führt, eigentlich soll. Wem dient die geistige Verarmung und kulturelle Entwurzelung ganzer Länder? Wem dient es, Volkswirtschaften zu ruinieren? Den Menschen, ihrer Kultur, der Demokratie und eben auch einer menschwürdigen Wirtschaft sicher nicht. Ich fürchte auch, dass es dabei um mehr geht, als die Privatisierung einiger profitabler Bereiche im Bildungswesen. Das sind – zumindest im deutschsprachigen Raum – Nebeneffekte für daran interessierte Konzerne. Letztlich scheint es um die Steuerbarkeit und Steuerung von Menschen zu gehen, indem man ihnen das Denken abgewöhnt. 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen