"Der Pisa-Test gehört abgeschafft", NZZ, 22.6. von Jenni Roth
Sie sind ein ausgewiesener Pisa-Gegner. Wie ist es
so weit gekommen?
1998 promovierte ich zu «TIMSS». Diese «Third
International Mathematics and Science Study» war eine Art Pisa-Vorläufer. Da
wurden Siebt- und Achtklässler in Mathe und Naturwissenschaften getestet. Es
gab eine Art Erdbeben, weil Deutschland nicht so gut abschnitt. Ich dachte mir:
Wow! Mit diesem unglaublichen Datenschatz will ich herausfinden, wie man den
guten Mathematikunterricht macht. Ich stellte dann aber bald fest, dass das
nicht funktionierte, weil der Test nicht das testete, was er zu testen vorgab. Deshalb
habe ich dann auch Pisa von Anfang an begleitet. Und es war, wie wenn man einen
Nagel in eine morsche Wand schlagen will: Peu à peu kommt einem die ganze Wand
entgegen. Das Testkonzept wurde nicht sauber erarbeitet. Mittlerweile schneiden
die Deutschen besser ab. Das heisst aber nur, dass sie ein schlechtes
Testkonzept jetzt besser bedienen.
Warum schnitten die Finnen damals schon so gut ab?
Im Jahr 2000 wurden die armen Finnen durch ganz
Europa geschleift. Aber die Finnen, die ich traf, meinten, sie hätten genau
dieselben Probleme im Unterricht wie überall. Sie sahen die Pisa-Ergebnisse als
Katastrophe: Notwendige Reformen wurden abgeblasen.
Aber warum galt Finnland dann so lange weiter als
Vorbild?
Es passte kulturell: In der TIMSS waren vor allem die
Schweiz und Japan stark. Aber keiner wollte den extremen japanischen Drill. Die
Schweiz hatte damals ein System, dessen Freiheit man lieber nicht aufnehmen
wollte. Die Pisa-Aufgaben passten zur finnischen Schulkultur - was gerade im
Bereich Deutsch gravierend ist: Bis Pisa war der Deutschunterricht in
Deutschland literarisch orientiert. Aber bei Pisa geht es etwa darum, sehr
schnell Fragen zur Preisgestaltung auf einem Schild an einer
Dampferausflugsstelle zu beantworten. Die Schüler sollen das Schild so
dechiffrieren, wie es der Tester will.
Das heisst, ein guter Pisa-Schüler weiss nicht
unbedingt viel?
Pisa und auch TIMSS haben eine Tendenz, die Schüler
ins Mittelmass zu pressen. Schüler, die etwas nicht können, können bei
bestimmten Aufgaben erfolgreich sein, wenn sie ordentliche Ratestrategien
haben. Und andersherum: Schülern, die ein Problem wirklich durchdringen, wird
beigebracht, dass es darum nicht geht. Wenn sie anfangen, tiefergehend
nachzudenken, läuft ihnen die Zeit davon, oder sie kommen gar zu einem als
falsch gewerteten Ergebnis.
Warum sind die Aufgaben dann so konstruiert?
Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung
interessiert die OECD die ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen. Die Tests
orientieren sich also an der Brauchbarkeit von Schülern als Arbeitskräften.
Aber das kann nicht das einzige Ziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein!
In anderthalb Minuten zu entscheiden und bei einem Sachproblem lediglich ein
Kreuz zu setzen, das folgt einem ökonomischen Konzept, welches für ein Land mit
einer Wirtschaftsstruktur wie Deutschland fatal ist. Für Pisa ist die OECD auch
Allianzen mit multinationalen und profitorientierten Unternehmen eingegangen,
die versuchen, von jedem von Pisa behaupteten Bildungsproblem zu profitieren.
Die internationalen Bildungskonzerne benötigen Tests wie Pisa, um eigene
Bildungsprogramme zu legitimieren, laufen mit ihren Bildungsinhalten aber in
eine völlig falsche Richtung.
Wenn die Mängel so offensichtlich sind: Warum ist
Pisa dann trotzdem so erfolgreich? Immerhin hat sich die Zahl der teilnehmenden
Länder innerhalb weniger Jahre verdoppelt, Tendenz steigend.
Pisa ist ein Konsortium von Testkonzernen in
verschiedenen Ländern, das eine sehr erfolgreiche Marketingstrategie verfolgt
hat. Der Erfolg von Pisa gründet auf einer bewussten Markterschliessung, auch
durch Strategien wie die Ankündigung: «Am 5. Mai veröffentlichen wir die
Ergebnisse, aber bestimmte Medien bekommen am 3. Mai vorab schon einige
Informationen.» Dabei wurde komplett übersehen, dass es auch nichts bringt,
eine Viertelmillion Schüler zu testen, wenn der Test schlecht ist.
Aber das ist lange her - und Pisa ist immer noch
erfolgreich!
Es passt eben gut zur strukturellen Verfasstheit
des Schulwesens. Vor 30 Jahren war alle Politik noch gemächlicher, da
funktionierte vieles auf Zuruf. Heute ist unsere Gesellschaft
durchformalisiert, Kennzahlen und Studien sind das Mass aller Dinge: Wenn eine
Strasse gebaut wird, fragt man nicht mehr nach Wohlbefinden, sondern macht
Berechnungen. Das ist das, was Max Weber «Bürokratisierungstendenz» nennt.
Vor einem Jahr haben 2500 Professoren, Schulleiter
und Lehrer aus der ganzen Welt in einem offenen Brief an Pisa-Chef Schleicher
kritisiert, das Messen einer Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit
einem engen und einseitigen Massstab könne Schulen und Schülern schaden.
Inwiefern?
Standardisierte Tests entprofessionalisieren die
Lehrerschaft. Sie müssen die Schüler auf die Tests hin trimmen, statt mit ihnen
das Spannungsfeld der Bildung von Autonomie auszuloten. Ich habe aber den Brief
trotzdem nicht unterzeichnet. Ich möchte, dass der Job von Herrn Schleicher
abgeschafft wird, da bitte ich ihn doch nicht per Brief, Pisa bildungsnäher zu
gestalten. Diese Tests gehören abgeschafft.
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