Warum Liestals Lehrer sich irren, Basler Zeitung, 22.6. Kommentar von Christian Keller
Den Moment habe ich noch
gut vor Augen: Kaum waren wir aus der letzten Schulstunde am Gymnasium Oberwil
entlassen worden, ergriff ich im Tumult der jubelnden Klassenkameraden
unbemerkt das rote Absenzenbuch auf dem Lehrerpult und sorgte dafür, dass
dieses gefährliche Beweisdokument für immer verschwindet. Hätte unser Klassenlehrer,
zu meinem grossen Glück ein Mann der Gemütlichkeit, etwas konsequenter die
Einträge gesichtet, die das unentschuldigte Fehlen protokollierten – man will
es sich nicht vorstellen. Vielleicht war er auch bewusst nachlässig, weil er
mit den jungen Revoluzzern mitfühlte, die sich ab und zu dem Zwang des
geordneten Alltags entzogen.
Vor einigen Tagen war nun einem Bericht der Basellandschaftlichen
Zeitungzu entnehmen, dass am Gymnasium Liestal die Absenzenordnung
«radikal» geändert werde. Was Lehrer und Schüler gemeinsam entwickelten,
gleicht im Ergebnis einem hochkomplexen Finanzprodukt: Mit einem komplizierten
Punktesystem soll es den Schülern künftig erlaubt sein, während des Semesters
einige Lektionen zu verpassen – ohne Gründe anzugeben. Die Gymnasiasten sollen
mehr Freiheiten, aber auch mehr Verantwortung erhalten, lautet die
Kernbotschaft.
Die Absicht ist gut gemeint – sie schafft
aber völlig falsche Anreize und wird zudem an der Realität scheitern. Denn was
kommt im «Schwänzen» zum Ausdruck? Es ist die Notwehrreaktion des halberwachsenen
Erziehungsgeplagten, der im Unterricht darunter leidet, dass die Zeit nicht nur
stillsteht, sondern gefühlt rückwärts läuft. Im Schwänzen manifestiert sich der
illegale Ausbruch in eine kurzlebige Freiheit. Ich erinnere mich an eine
herrliche Zugreise ins Tessin, während in Oberwil öde Chemiemoleküle studiert
wurden. Als ehemaliger Profi-Schulschwänzer bezweifle ich stark, dass der
amtliche Absenzen-Freipass für einige Stunden zu einer höheren
Anwesenheitsdisziplin führen wird. Das Gegenteil dürfte eintreten. Und ist es
nicht so: Diejenigen, die dem Schulkäfig immer mal wieder entweichen, handeln
selbstverantwortlich. Gymnasiasten sind intelligent. Sie müssen sich selber
darum kümmern, nicht den Anschluss zu verpassen.
Trotz der Gefahr, bei der Jugend zur persona
non grata zu werden: Ich finde es grundsätzlich falsch, in der Oberstufe
überhaupt Freitage zu gewähren. Eine schlechte Vorbereitung auf das
Berufsleben. Mir ist kein Arbeitgeber bekannt, der seinen Angestellten
«Jokertage» offeriert. Zur Erholung gibt es schliesslich die Ferien. Und davon
haben die Gymnasiasten nun wahrlich genug.
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