22. Juni 2015

Absenzenregelung setzt falsche Anreize

Auf Beginn des Schuljahrs 2015/2016 soll am Gymnasium Liestal eine neue Absenzenregelung in Kraft treten, die den Schülerinnen und Schülern mehr Freiheit bei Besuch des Unterrichts gewähren soll. In einem Kommentar schreibt Christian Keller nun, was er von dieser Idee hält und äussert sich auch zu den "Jokertagen" an der Oberstufe.
Warum Liestals Lehrer sich irren, Basler Zeitung, 22.6. Kommentar von Christian Keller


Den Moment habe ich noch gut vor Augen: Kaum waren wir aus der letzten Schulstunde am Gymnasium Oberwil entlassen worden, ergriff ich im Tumult der jubelnden Klassenkameraden unbemerkt das rote Absenzenbuch auf dem Lehrerpult und sorgte dafür, dass dieses gefährliche Beweisdokument für immer verschwindet. Hätte unser Klassenlehrer, zu meinem grossen Glück ein Mann der Gemütlichkeit, etwas konsequenter die Einträge gesichtet, die das unentschuldigte Fehlen protokollierten – man will es sich nicht vorstellen. Vielleicht war er auch bewusst nachlässig, weil er mit den jungen Revoluzzern mitfühlte, die sich ab und zu dem Zwang des geordneten Alltags entzogen.
Vor einigen Tagen war nun einem Bericht der Basellandschaftlichen Zeitungzu entnehmen, dass am Gymnasium Liestal die Absenzenordnung «radikal» geändert werde. Was Lehrer und Schüler gemeinsam entwickelten, gleicht im Ergebnis einem hochkomplexen Finanzprodukt: Mit einem komplizierten Punktesystem soll es den Schülern künftig erlaubt sein, während des Semesters einige Lektionen zu verpassen – ohne Gründe anzugeben. Die Gymnasiasten sollen mehr Freiheiten, aber auch mehr Verantwortung erhalten, lautet die Kernbotschaft.
Die Absicht ist gut gemeint – sie schafft aber völlig falsche Anreize und wird zudem an der Realität scheitern. Denn was kommt im «Schwänzen» zum Ausdruck? Es ist die Notwehrreaktion des halb­erwachsenen Erziehungsgeplagten, der im Unterricht darunter leidet, dass die Zeit nicht nur stillsteht, sondern gefühlt rückwärts läuft. Im Schwänzen manifestiert sich der illegale Ausbruch in eine kurzlebige Freiheit. Ich erinnere mich an eine herrliche Zugreise ins Tessin, während in Oberwil öde Chemiemoleküle studiert wurden. Als ehemaliger Profi-Schulschwänzer bezweifle ich stark, dass der amtliche Absenzen-Freipass für einige Stunden zu einer höheren Anwesenheitsdisziplin führen wird. Das Gegenteil dürfte eintreten. Und ist es nicht so: Diejenigen, die dem Schulkäfig immer mal wieder entweichen, handeln selbstverantwortlich. Gymnasiasten sind intelligent. Sie müssen sich selber darum kümmern, nicht den Anschluss zu verpassen.

Trotz der Gefahr, bei der Jugend zur persona non grata zu werden: Ich finde es grundsätzlich falsch, in der Oberstufe überhaupt Freitage zu gewähren. Eine schlechte Vorbereitung auf das Berufsleben. Mir ist kein Arbeitgeber bekannt, der seinen Angestellten «Jokertage» offeriert. Zur Erholung gibt es schliesslich die Ferien. Und davon haben die Gym­nasiasten nun wahrlich genug.

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