Der Staat im Znüniböxli, Tages Anzeiger, 6.6. von Michèle Binswanger
Ein
Kollege erzählte neulich, sein Kind sei mit einer unangetasteten Madeleine aus
dem Kindergarten nach Hause gekommen. Die Kindergärtnerin habe ihr verboten, es
zu essen, weil es zu viel Zucker enthalte. Dabei ist das Kind weder fettleibig
noch übergewichtig, hat keine Karies oder Mangelerscheinungen.
Seit
fünf Jahren gilt der Leitfaden «Pausenernährung Plus!» des Zürcher Schul- und
Sportdepartements. Er teilt Znünsnacks in gut und böse ein. Unter gut
figurieren Obst und Gemüse sowie Vollkornbrot und Reiswaffeln nature.
Ausnahmsweise erlaubt sind Bananen, Dörrfrüchte und Halbweissbrot. Schokolade,
Salznüssli oder Joghurtdrinks hingegen sind des Teufels. Es existiert sogar ein
51-seitiger Evaluationsbericht dazu, der festhält: «Gesunde Ernährungund
gesundes Essverhalten schützen vor Übergewicht, ohne Essstörungen zu
begünstigen.»
Keine Freude am Essen
Ach ja? Wer selber
Kinder hat oder mit Eltern spricht, dem zeigt sich ein anderes Bild. Schon im
Kindergarten beschimpfen sich Mädchen gegenseitig als fett. Und fett wird, wer
sich falsch ernährt, das lernt man ebenfalls im Kindergarten. Selber schuld also,
wer nicht so früh wie möglich mit der Kalorienkalkulation beginnt. Diese
Nachricht bleibt bei den Kindern hängen. Und raubt ihnen Unbefangenheit und
Freude am Essen. Auch Fachleute beobachten, dass sich die Generation
Low-fat-low-carb-laktosefrei-glutenfrei krank isst. Manche Kinder leiden
schlicht Hunger, weil die Eltern ihnen Kohlenhydrate vorenthalten – aus Angst,
sie könnten dick werden.
Gegen
Information ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Unerträglich aber ist, dass
die staatliche Bevormundung nun schon bis ins Znüniböxli vordringt. Ganz zu
schweigen vom Normierungswahn, der sich dahinter versteckt. Menschen sind nun
mal unterschiedlich gebaut, auch Kinder, ganz egal, wie sie sich ernähren.
Letztendlich sind die Richtlinien nur Empfehlungen. Ob jemand diesen «Beitrag
zur gesunden Pausenernährung» dann auch leisten oder seinem Kind Madeleines in
die Schule mitgeben will, ist seine Sache.
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