Bibel der Hauswirtschaftslehre: Das Kochbuch "Tiptopf", Bild: Urs Jaudas
Unruhe in den Schulküchen, Tages Anzeiger, 3.5. von Anja Burri
Es gibt
Schüler, die begreifen die Masseinheiten erst im Hauswirtschaftsunterricht:
nämlich dann, wenn sie für einen Kuchenteig einen Liter Milch nehmen statt
einen Deziliter. «Lernen mit Kopf, Herz und Hand» ist eine alte pädagogische
Weisheit. Mit dem Spardruck und den zunehmenden Anforderungen an die
Volksschule sind in den letzten Jahren gerade die handwerklichen Fächer in
vielen Kantonen unter Druck geraten. Mit dem neuen Lehrplan 21 ist
nun ein Kampf um die Hauswirtschaft auf der Oberstufe entbrannt.
Die
Lehrplanmacher haben das Fach modernisiert. Es heisst neu «Wirtschaft, Arbeit,
Haushalt». Die Siebt- bis Neuntklässler sollen Märkte und den Handel verstehen,
sich über ihr Konsumverhalten Gedanken machen, oder sie müssen den
Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit begreifen. Das Kochen verschwindet
nicht ganz – es ist aber in den 64 aufgelisteten Kompetenzen ein Randthema –,
siebenmal geht es direkt oder indirekt um die Zubereitung von Mahlzeiten. Das
wird auch in künftigen Lehrmitteln so sein. Hinter den Kulissen laufen die
Arbeiten für ein neues Lehrbuch, wie es beim Schulverlag plus auf Anfrage
heisst. Ob auch das Kultlehrmittel «Tiptopf» an die neuen Trends angepasst
wird, klären die Herausgeber zurzeit ab.
Pasta
kochen braucht Übung
«Mit dem Lehrplan 21 wird das Kochen an den Rand gedrängt», sagt
Alexandra Gremlich, Hauswirtschaftslehrerin und Präsidentin der
Hauswirtschaftskommission der Zürcher Sekundarlehrer. Der kopflastige
Unterricht dominiere. «Ich weiss nicht, wie schwache Schüler noch mehr
Theoriestoff bewältigen sollen.» Denn auch das Zubereiten einfacher Gerichte
wie Teigwaren oder Salatsaucen müsse regelmässig geübt werden, damit es die
Schüler am Ende des Schuljahres beherrschten.
Gremlich betont: «Wir sind nicht gegen Neuerungen. Aber wir wollen
nicht, dass die praktischen Fächer zugunsten der Kopflastigkeit noch mehr
reduziert werden.» Schon heute gehe es in den Schulküchen nicht nur ums Kochen.
Doch auch Konsum- oder Gesundheitsaspekte verstünden die Schüler am besten,
wenn sie mit dem Kochen verknüpft würden.
Backen
mit Fertigteig
Die Angst der Hauswirtschaftslehrkräfte hat auch mit den Stundentafeln
zu tun. Für das neue Fach empfehlen die Lehrplanmacher, zwischen der 7. und 9.
Klasse insgesamt 5 Wochenlektionen aufzuwenden. Um mit den Schülern zu kochen,
braucht es nach Ansicht der Lehrer drei Lektionen am Stück. Das wird in vielen
Kantonen – etwa in Luzern oder Baselland – für ein ganzes Schuljahr nicht
möglich sein.
Vorgesehen ist vielerorts, dass der Kochunterricht während eines
Semesters möglich sein soll. In Bern schlägt die Erziehungsdirektion maximal
zwei Wochenlektionen pro Jahr vor. In anderen Kantonen wie Zürich ist die Frage
noch offen. Zurzeit sind alle Deutschschweizer Kantone daran, den Lehrplan 21
an ihre Bedürfnisse anzupassen und umzusetzen. «Sollte Zürich die
3-Stunden-Blöcke für ein ganzes Jahr abschaffen, werden wir gegen den Lehrplan
kämpfen», sagt Gremlich.
Auch in anderen Kantonen sorgen sich Hauswirtschaftslehrkräfte um ihr
Fach. So auch Franziska S., die in der Nordwestschweiz unterrichtet. Aus Angst
vor negativen Reaktionen der Schulleitung möchte sie ihren Namen nicht in der
Zeitung lesen. Viele pädagogische Hochschulen (PH) bildeten ihre Studenten
bereits gemäss Lehrplan 21 aus, sagt sie. Kochen sei nur noch ein Nebenaspekt.
Weil sie angehende Lehrkräfte als Praktikumslehrerin betreue, sehe sie die
Konsequenzen. «Kürzlich wollte eine Studentin mit den Schülern Älplermagronen
kochen. Sie nahm dafür den Dampfkochtopf.» Weihnachtsguetsli würden mit
Fertigteig aus dem Grossverteiler gebacken. Ein Student habe die Schulküche
ruiniert, weil er die Küchenkombination mit Stahlwolle geputzt und so völlig
verkratzt habe.
«Keine
perfekten Hausmänner»
«Der Alltag der Menschen hat sich stark verändert», sagt Corinne Senn,
die an der Pädagogischen Hochschule FHNW künftige Lehrpersonen der
Sekundarstufe I im Fach Hauswirtschaft ausbildet. Der Unterricht müsse sich
daran orientieren. «Jugendliche müssen keine perfekten Hausfrauen und
Hausmänner werden», sagt sie. Heute gehe es in der Ernährungsbildung darum,
dass die Schüler fähig sind, in 30 Minuten ein Gericht zuzubereiten. Daneben
seien andere Aspekte, etwa die Schuldenprävention oder Nachhaltigkeit, wichtiger
geworden.
Alle diese Fähigkeiten seien auch schon in den bisherigen Lehrplänen
betont worden. «Bis jetzt haben einfach viele Hauswirtschaftslehrpersonen dem
Kochen besonders viel Bedeutung beigemessen», sagt Senn. Sie ist überzeugt,
dass sich dies mit der neuen Generation ändern wird. Dazu trage auch die
breitere Ausbildung bei. Wer an einer PH studiert, wird nicht mehr nur für ein,
sondern mindestens für drei Schulfächer ausgebildet. Die neue Entwicklung habe
noch eine weitere positive Wirkung: Seit ein paar Jahren interessierten sich
vermehrt auch Männer für das Fach. In gewissen Kursen betrage ihr Anteil bis zu
50 Prozent.
«Wir verkopfen die Hauswirtschaft nicht, wir passen sie den
gesellschaftlichen Veränderungen an», sagt auch Ute Bender, Leiterin der Professur
für Gesundheit und Hauswirtschaft an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Der
Lehrplan 21 lasse den Lehrkräften weiterhin sehr viele Möglichkeiten,
handlungsorientierten Unterricht zu geben. Es müsse nicht immer Kochen sein.
Die Schüler könnten zum Beispiel Waren testen à la «Kassensturz».
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